Daniela Christine Geissler

Virusrausch


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als er an ihr vorbeiging und dachte an ihre einsame Kindheit. In ihrer Schulzeit beneidete sie andere Kinder, welche die Geborgenheit einer Familie hatten. Sie erzählten von ihren Ausflügen und vielen anderen schönen, für Helen unerreichbare Stunden. Ihre Mutter war fürsorglich, aber sehr verschlossen. Als Helen drei Jahre alt war, starb ihr Vater an Krebs. Wie Brian war auch sie vaterlos aufgewachsen.Nachdem sie der alte Mann freundlich angelächelt hatte, fühlte sie sich schon besser. Sein Gesicht mit dem weißen Bart zu betrachten, hatte ihrer Gemütsverfassung gut getan. Sie war müde geworden und ging in ihr Zimmer.

      Am nächsten Morgen um Acht trafen sie sich beim Hotelaufzug wieder. Höflich grüßte der alte Mann und dabei vernahm sie seine hohe Stimme. Wieder fiel ihm ihre Gereiztheit auf. Dieses Mal schwieg er nicht

      >>Geht es Ihnen heute besser?<<

      >>Wie bitte?<<, wunderte sich Helen.

      >>Ich habe Sie gestern Abend in der Hotelhalle gesehen und Sie machten einen verstörten Eindruck auf mich. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich habe eine Antenne für die Probleme meiner Mitmenschen.<<, gab er mit sanfter Stimme zurück.

      Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Er hatte ein volles Gesicht, ein kurze gebogene Nase und klare blaue Augen. Sein Äußeres war wenig einnehmend und seine Stimme glich dem eines Eunuchen. Es war die Selbstverständlichkeit seiner Worte, die Helens Vertrauen weckte und verwirrt lächelte sie >>Es geht so, danke!<<

      Je näher sie dem Hospital kam, desto schlimmer fühlte sie sich. Sie betrat die Notaufnahme, in der die übliche Hektik herrschte. Mit einer bösen Vorahnung schritt sie auf die Glastüre der Intensivstation zu. Auf ihr Läuten kam ein Mann im weißen Kittel herbeigeeilt, und öffnete die Tür einen Spalt

      >>Ja, bitte?<< Seine Stimme klang ungeduldig.

      >>Mein Mann, Mr. Caine, liegt hier. Kann ich zu ihm?<<

      Edwards Gesicht wurde bleich und sein Hals brannte. Das sind jene Augenblicke, die er am meisten fürchtete. Jetzt war es wieder so weit. Er musste dieser jungen Frau den Tod ihres Mannes mitteilen. Du warst sein großer Bruder. Du hättest besser auf ihn aufpassen müssen. Schuldgefühle schnürten ihm den Hals zu.

      >>Darf ich zu ihm?<< wiederholte sie ungeduldig ihre Frage, da er nur auf den Boden starrte. Schnell wich er zur Seite, holte tief Luft, doch bevor er etwas sagen musste, kam ihnen Schwester Melanie entgegen. Er winkte sie linkisch heran und sein Gesichtsausdruck verriet ihr die Situation.

      >>Es wäre besser, wir gehen in den Aufenthaltsraum.<<, ergriff Melanie das Wort. Unsicher trottete Edward hinter ihnen her. Arm sind sie schon, diese starken Männer. Keiner von ihnen ist den Gefühlsausbrüchen von Frauen gewachsen. Nicht einmal ein Tyrann wie Dr. Lewis, dachte Melanie. Ohne Vorwarnung stieß Edward die Worte heraus

      >>Er ist tot... wir haben nichts mehr für ihn tun können....... Sie besitzen unser aufrichtiges Mitgefühl! <<

      Das war ja fein, wie sensibel, Idiot, ärgerte sich Melanie. Die Worte prasselten wie Hagel auf Helen herab und zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr schwarz vor den Augen. Langsam sackte sie in die Knie. Melanie fing sie gerade noch auf.

      Ungehalten fuhr sie ihn an >>Warum haben Sie das nicht mir überlassen?<< Beschämt rief Edward zwei Krankenpfleger, die Helen in ein Nebenzimmer brachten.

      Becky trat gerade ihren Dienst an, als man Helen ins Zimmer schob. >>Das ist ja Mrs. Caine!<<, rief sie verwundert aus. >>Ihr Mann ist gestern Nacht gestorben und Dr. Lewis hat es ihr gerade in seiner einfühlsamen Art mitgeteilt. Um zehn Uhr kommt die Visite und es liegt immer noch kein zufriedenstellender Befund vor. Er möchte noch einmal die Blutproben ins Labor schicken. Jedenfalls ist mit ihm momentan nicht gut Kirschen essen und ich bin froh, dass ich die nächsten Stunden keinen Dienst habe und endlich heim kann.<<, stöhnte Melanie.

      Sie öffnete die Augen. Verschwommen nahm sie den Raum wahr. Nach und nach fielen ihr die Worte des Arztes wieder ein. Er ist tot. Brian ist tot. Vor ein paar Tagen fuhr er nach Houston in ein Seminar und jetzt ist er tot, einfach weg für immer. Sie schloss noch einmal die Augen und hoffte in ihrem Bett in England aufzuwachen und alles wäre nur ein Albtraum gewesen - das Hotel, der Arzt, das Hospital.... Sie vernahm eine angenehme Stimme, öffnete ihre Augen und sah in Beckys mitleidiges Gesicht.

      >>Trinken Sie, das tut Ihnen gut!<<

      Helen trank und mit jedem Schluck kam sie der trostlosen Wirklichkeit wieder näher.

      >>Ich bin noch nie umgekippt.<<, presste sie heraus.

      >>Es ist ein furchtbares Unglück und wir verstehen das. Es ist immer schlimm, wenn junge Menschen sterben, auch für uns. Wenn Sie wollen, können Sie bis heute Abend bei uns bleiben, bis sich ihr Zustand stabilisiert hat. Sie haben einen Schock erlitten. Bleiben Sie bitte noch eine Stunde liegen.<<, gab sie verständnisvoll zurück. Nach fünf Minuten empfand Helen eine angenehme Gleichgültigkeit in sich und ihre Verzweiflung verwandelte sich in eine körperliche Schwere. Hoffentlich wirkt das Beruhigungsmittel bald, dachte Becky. Es war ihr schwer ums Herz geworden.

      Bevor Dr. Foster, der Primar, seine Visite um neun Uhr antrat, führte er ein Gespräch mit Dr. Lewis. Die Notfallstation und die Intensivstation standen unter seiner Leitung. Er hatte Edward der Herzstation abgeworben. Bill bemerkte den Kampfgeist, den dieser Arzt schon als Student mitbrachte und gerade in dieser Station musste man eine solche Härte mitbringen. Er sah in ihm die Zukunft eines brillanten Notfallmediziners.

      >>Sollte ich nicht doch lieber in die Kardiologie zurückkehren?<<

      >>Nehmen Sie es nicht so schwer Edward. Sie wissen, dass ich Ihre Arbeit auf meiner Station sehr schätze und ich nehme an, dass Sie alles Mögliche getan haben, um den Jungen am Leben zu erhalten. Sie müssen lernen, sich damit abzufinden, dass wir Ärzte nicht Herr über Leben und Tod sind. Dafür ist eine andere Adresse zuständig. Also machen Sie nicht so ein Gesicht.<<

      Bill war einer der beliebtesten Ärzte in diesem Hospital. Bei seinen Kollegen, Studenten und den Patienten war er hoch angesehen, wegen seiner Wärme, die er ausnahmslos jedem Menschen entgegenbrachte. Man liebte ihn von ganzem Herzen. Er trug ein hohes ethisches Niveau in sich mit einem ausgeprägten Hang zur Gerechtigkeit.

      Bill kannte Edward schon lange und wusste, warum er immer darauf aus war, zu gewinnen. Dieser war in armen Verhältnissen aufgewachsen und hatte nur mit Hilfe eines Stipendiums studieren können. Außerdem hatte die Familie einen Sohn verloren. Der vierjährige Tommy war ertrunken. Auch bei Frauen musste er immer gewinnen. Edward war nicht attraktiv, mittelgroß, braunes Haar, eher unauffällig, doch er war energisch und diese männliche Eigenschaft wirkte bei Frauen äußerst anziehend. Wenn er an einer Frau Interesse hatte, ließ er nicht locker. Sanft war er nicht, jagte die Frauen und schlief mit ihnen, bis diese völlig erschöpft waren. Er wollte siegen, sich niemals geschlagen geben. Liebe bedeutete emotionale Abhängigkeit für ihn und darauf ließ er sich nicht ein und so nahm er Frauen, ohne emotional viel von sich herzugeben.

      Während Helen im Krankenhaus dahindöste, dachte sie daran, dass sie vor fünf Jahren einen Kurs in Psychologie besucht hatte. Doch in der Realität sah alles anders aus. Trauerarbeit war auch ein Thema in diesem Kurs gewesen. Sie überlegte, wie ein Psychologe sie wohl jetzt behandeln würde. Ob es das Beste wäre, sich in den nächsten Tagen mit Beruhigungsmitteln vollzupumpen, oder sich der Trauer zu stellen und einen Bach an Tränen zu vergießen. Sie entschied sich, eine gesunde Trauerarbeit zu leisten und fing damit an, indem sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Um zwei Uhr brachte man ihr eine Kleinigkeit zu essen. >>Wir wissen, dass Sie jetzt keinen Hunger haben, aber essen Sie wenigstens die Hälfte. Es stützt Ihren Kreislauf.<< Mit diesen Worten stellte ihr eine zierliche Krankenschwester eine Rinderbrühe auf den kleinen Tisch und half ihr, sich aufzurichten. Es fiel ihr schwer zu essen, aber schließlich kräftigte sie die Mahlzeit. Die Brühe schmeckte zu salzig.

      Sie blickte aus dem Fenster in eine gepflegte Parkanlage - dort war Leben, hier spürte sie den Tod. Helen hatte das Bedürfnis, diesen trüben Ort zu verlassen und