Stefan Wichmann

Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies ...


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strich mir über den Kopf und wartete ab.

      Tränen stiegen mir in die Augen.

      „Karina. Schau dich mal um. Eben noch hast du das alles genossen. Das kann nicht die Hölle sein. Beileibe nicht! Du hast es geschafft! Freue dich doch erst einmal."

      Durch einen Tränenschleier hindurch starrte ich ihn an.

      „Es gibt Hoffnung", redete Frank mir Mut zu. „Vielleicht ist er in einem anderen Himmel gelandet."

      Ich zog die Stirn kraus, aber ehe ich fragen konnte, zog meine Mutter mich mit sich fort.

      „Komm", sagte sie schlicht.

      Im Fortgehen schaute ich zu Frank zurück. Was sollte dieser Spruch mit anderen Himmeln?

      4. Dimanco (Sonntag) - ein überwältigender Empfang

      Meine Mutter und ich liefen Arm in Arm. Die anderen folgten uns durch diese Natur, die so farbenfroh, hell und einfach nur schön war. Die Bäume waren voll von gesunden Blättern, die leise raschelten. Vereinzelt fielen Lichtstrahlen durch die Zweige, jedoch waren die Bäume so dicht, dass ich mich fragte, wie das Licht es schaffte, diese Welt in so wunderbares Licht zu tauchen, obwohl wir mittlerweile den Wald erreicht hatten. Selbst der Sandboden hier war perfekt angelegt und gepflegt. Ich wischte mir die Tränen ab.

      „Du kennst doch José. Wir werden ihn schon finden", raunte mir mein Vater ins Ohr, aber meine Mutter stupste ihn mit der Hand weg: „Lass sie doch mal jetzt!"

      Schweigend schritten wir weiter. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Bewegungen. Ursprünglich hatte ich diese als Blätterrauschen abgetan oder als aufwirbelnden Sand, doch jetzt glaubte ich, einen Arm zu sehen und schaute genauer hin. Überrascht blieb ich stehen: „Sie leben!“

      „Was?“

      „Da, die kleinen ... Lebewesen.“

      Tatsächlich arbeiteten kleine Gestalten emsig, um den Boden zu pflegen. Sie liefen, nein sie robbten über den Boden, zogen ihn glatt und entfernten, was nicht hineingehörte.

      „Unkraut im Paradies? Das hatte ich mir nicht gedacht.“

      Meine Mutter kam den einen Schritt zurück, der uns trennte und hakte mich wieder unter: „Ach komm, es ist fast wie auf der Erde. Das Paradies ist so nicht, wie sie uns erzählten.“

      „Nein?“

      Erneut blieb ich stehen, doch Mutter ging weiter und sagte nichts mehr. Verwirrt beobachtete ich die Wesen. Manche liefen wie wir Menschen auf zwei Beinen und zogen und zerrten an Wurzeln, vergruben sie oder legten sie in Position, wohl um das Gedeihen der Pflanzen zu fördern. Einer zog eine Wurzel vorsichtig an einem Stein vorbei und bedeckte sie dann fast schon zärtlich wieder mit Sand. Andere turnten in den Bäumen herum und kümmerten sich um die Pflege der Äste und Blätter. Ich folgte meiner Mutter.

      „Oh", entfuhr mir ein leiser Seufzer, als eines der Wesen eine Orchidee hinauf in die Baumkrone trug. Während ich mich noch darüber wunderte, wurde der Wald wieder lichter.

      „Wer sind diese Wesen, die hier so selbstlos arbeiten?"

      Meine Mutter folgte meinem Blick. Doch mein Vater antwortete: „Ha, auf der Erde dachte man immer, das geht alles von alleine. Aber die Erde war verflucht. Keiner hatte richtig Lust, sich fortwährend zu kümmern. Jeder dachte nur an sich. Hier ist das anders. Ganz anders. Nicht mehr Geld und Macht stehen im Vordergrund, sondern das Streben …„

      „Schau doch mal", unterbrach meine Mutter seinen Redefluss. Ihre Hand beschrieb einen etwas theatralischen Bogen und zeigte auf die Pflanzen nahe des Weges.

      Die verschiedenen Grüntöne der Sträucher am Wegesrand ließen mich verwundert innehalten.

      „Was für eine Vielfalt", hauchte ich.

      Inbrünstig sog ich das Schauspiel in mich auf. Verzückt betrachtete ich die Blumen. Sie wogten im leichten Wind. Ihre Blüten leuchteten. Ja selbst die Farben ihre Stängel schienen mir intensiver zu sein, als alles, was ich bisher sah. Dazu zwitscherten Vögel in den harmonischsten Gesängen. Erneut vielen mir die kleinen Wesen rund um die Pflanzen auf. Solche hatte ich hier auch noch nicht gesehen. Mein Blick schweifte umher. Ich drehte mich zur Seite und schrak zusammen. Es gab ja auch welche, die größer waren als ich! Weitaus Größer! Waren es Tiere? Ich konnte sie nicht einordnen. Es waren Gestalten jedweder Art, aber alle freundlich und einander wohlgesonnen. Sie begrüßten mich mit einem leichten Kopfnicken. Das sah bei den ganz kleinen Wesen putzig aus. Bei denen, die größer waren als ich, wirkte es eher bedrohlich. Ich wusste, meine Mutter würde wieder ausweichend antworten, wenn ich jetzt nachfragte. Ich musste schnellstmöglich mit meinem Vater sprechen. Allein. Er stand nicht unter diesem unseligen Zwang, alles von mir fernhalten zu wollen. Ich lächelte still. Beide meinten es nur gut.

      „Kommst Du?", riss mich meine Großmutter aus meinen Gedanken und hielt mir die Hand hin. Mein Blick streifte meine Tante.

      „Ja, gleich."

      Ich breitete die Arme aus.

      „Tantchen. Entschuldige, ich glaube, wir haben uns noch nicht begrüßt."

      Sie nickte freudig. „Ja, Kleines. Da hast du recht."

      Ihre Hand strich mir übers Haar. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie aussah, so wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie alt musste sie schon sein? Oder meine Eltern?

      ‚Altert man nicht mehr?‘, fragte ich mich, stellte den Gedanken aber sofort zurück. Meine Tante lächelte plötzlich, dann lachte sie laut auf. Es war ein fröhliches, ja fast ein belustigtes Lachen.

      „Du fragst dich, ob wir nicht älter werden. Wir werden nicht älter. Wir sehen einander so, wie wir uns in Erinnerung behalten."

      „Ja. Ich musste nur erst einmal staunen über …", mir fiel kein Wort ein. Meine Hand beschrieb in einem weiten Bogen, was ich durch Worte nicht auszudrücken vermochte.

      Sie nickte. Liebevoll ergriff sie meine Hand. Sie schwieg. Jedes Wort hätte dieses Gefühl, dieses wundervolle Gefühl der Geborgenheit, die ich trotz meiner Angst um José verspürte, zunichtegemacht. Wir schauten uns an. Ruhig blickten ihre Augen in die meinen, so als erforschte sie mich. Doch ich wollte nicht erforscht werden. Kurzerhand hakte ich sie und diesmal meine Oma ein.

      Nach kurzem Weg sahen wir ein kleines Dorf in der Ferne. Leise drangen Geräusche herüber. Hammerschläge, die voller Emsigkeit ausgeführt wurden. Kleine Stakkatos in rhythmischem Abstand. Mit jedem Schritt, den wir näherkamen verringerten sich die Anzahl Bäume und Sträucher und wichen vollen Feldern.

      Auch hier wuselten geschäftig viele, viele Naturwesen herum. Es waren so viele und so Unterschiedliche, dass ich gar nicht erst begann zu fragen, wie sie hießen oder worin sie sich auszeichneten.

      Es war Juni und an der Zeit, in den Kartoffelfeldern erneut Unkraut zu jäten. Da waren diejenigen, die den Boden auflockerten und diejenigen, die das Unkraut entfernten. Das Geschehen verblüffte mich. Aber ich fühlte eine Freude in mir, das alles Sehen zu dürfen, diese Emsigkeit mitzuerleben, dass ich innerlich juchzte. Ehrlich gesagt, war es mehr als einfach nur Schauen. Ich fühlte mich verbunden mit allem: Mit der Natur, mit den Glücksgefühlen all derjenigen, die ich erspähte und mit einer Kraft, die ich bei genauerem Nachdenken insgeheim als Lebenskraft betitelte. Vielleicht kam mir dieses Wort auch in den Sinn, weil just in diesem Augenblick eine Glocke wie von einem entfernten Kirchturm leise läutete. „Für mich", dachte ich unwillkürlich. Es passte ins Bild und ich versuchte es in mich aufzunehmen und nie wieder loszulassen. Es war mein Wunsch, es mir als Erinnerung aufzubewahren. Ich blieb stehen und kniff ich mir in meinen kleinen Finger. Das hatte ich schon zu Lebzeiten so getan. Schöne Momente speicherte ich mir, schon seit ich ein kleines Kind war, immer durch einen kleinen Kniff in den Finger. Wenn es mir schlecht ging, konnte ich die schönsten Erinnerungen abrufen. Ungewollt lächelte ich. José hatte meine Marotte, wie er mein Verhalten nannte, immer veralbert.

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