Christa Burkhardt

Das Kind ohne Vater


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      Die Aussicht auf ein paar Wochen Archivarbeit begann unerwartet. Mit Minirock, schlanken, braun gebrannten Beinen und einem weißen Top, das mehr zeigte als es verhüllte. „Hallo, ich bin Sina, man hat mich aber auch schon blöde Schnepfe genannt“, stellte sich das Wesen vor, das in dem Minirock steckte. „Äh“, fiel ihm ein. „Na, das fängt ja gut an“, kommentierte sie, „ich bin die Azubine im Marketing und wurde heute dazu verdonnert, dir alles zu zeigen, dir deine Schlüsselkarte zu erklären und dich davon abzuhalten, das Haus in Brand zu setzen.“

      „In dieser Reihenfolge?“, versuchte er sich zu fangen. „Die bleibt mir überlassen, ich bin ja schon im zweiten Jahr“, grinste sie zurück, „du bist der Sohn vom Chef, nicht wahr?“ „Was dagegen?“, fragte er und bereute es sofort. Wie konnte er mit lediglich zwei Worten jedes miese Klischee, das es über die verwöhnten Söhne reicher Chefs gab, bestätigen? Patrick, reiß‘ dich zusammen, dachte er und sagte: „Ich studiere Medizin.“ Auch das bereute er sofort, denn es klang wie Ich bin ein Angeber.

      „Na, zum Glück bin ich kerngesund“, gab sie zurück und er konnte ihr diese Retourkutsche nicht verdenken. Er war es, der sich benahm wie ein Idiot. Sina ging zur Routine über und erklärte ihm das Wesentliche: Toiletten, Kaffeeküchen, Kantine, Fluchtwege. Alles, was ich schon immer über das Unternehmen meines Vaters wissen wollte, dachte er, hütete sich aber etwas zu sagen und setzte eine möglichst interessierte Miene auf.

      Die IT-Abteilung händigte ihm einen Firmen-Laptop aus, der schon mit den nötigen Sicherheitsbeschränkungen und -freigaben vorbereitet war, sowie diverse Passwörter. Dann führte ihn Sina tatsächlich in den Keller, der sich aber zumindest zur Rückseite hin als luftig und lichtdurchflutet erwies und auf einen kleinen Innenhof hinausführte, der terrassenförmig anstieg. Ihm war vorher nie aufgefallen, dass das Firmengebäude an einem Hang stand.

      Sie erklärte ihm das Archivsystem, sortierte Dokumente, unsortiertes Material, lose Zeitungsstapel, vergessene Utensilien, was man eben so im Keller aufbewahrt. Ihm schwirrte der Kopf. „Wenn du jetzt sowohl allein aufs Töpfchen gehen als auch das Haus verlassen kannst, ohne den Alarm auszulösen, gehe ich wieder an die Arbeit“, sagte sie schließlich und würdigte ihn keines Blickes mehr. Er murmelte ein Danke und widerstand der Versuchung, ihr hinterher zu rufen. Was denn auch? Wenn er Hilfe brauchte, könne er sich am Empfang melden, hatte sie gesagt.

      Nie im Leben würde er das tun! Wozu auch? Damit das ganze Haus erführe, dass der kleine Patrick von seinem Papa aus dem Kinderparadies abgeholt werden wollte? Er würde sich an die Arbeit machen und keinem zur Last fallen. Das nahm er sich zumindest vor. Aber das war leichter gesagt als getan. Wo sollte er anfangen? Er hatte den Eindruck, vor einem überdimensionalen Wollknäuel zu stehen, das alles daran setzte, ihm nur ja kein Ende anzubieten. Er schlenderte durch die Regalreihen und stöberte wahllos in Ordnern, Hängeregistern und Kartons.

      Wie viel Zeit vergangen sein musste, merkte er erst, als plötzlich Jonathan neben ihm stand. „Waren wir nicht zum Mittagessen verabredet?“, fragte der. „Äh“, sagte er wieder und erinnerte sich damit selbst an seine vernichtende Niederlage gegen Sina. Dankenswerterweise sparte sich Jonathan Vorwürfe, dass und wie lange er auf ihn gewartet hatte, sondern hielt ihm ein Sandwich und ein Saftschorle hin. „Ich sehe, du drückst dem Ganzen hier schon deinen Stempel auf“, grinste er. Nun ließ auch er seinen Blick durch den Raum schweifen und entdeckte die für ihn wohl typische Unordnung. Binnen eines Vormittags hatte er es geschafft, das Archiv in ein Sammelsurium offener Registraturen, halboffener Ordner und überall verstreuter Inhalte zu machen. „Wie zu Hause, was?“, grinste er unbeholfen. Jonathan lachte.

      „Genau deshalb wollte ich, dass du den Job hier übernimmst“, sagte er, „unserer Unternehmensgeschichte fehlt eindeutig das Leben.“ Sie unterhielten sich, während Patrick aß. Dann stellte er sich seinen Handywecker, damit er nicht auch noch die abendliche Verabredung zum Grillen bei Jonathan und Sophie verpasste. Als Sophie dabei Sina als eingebildete Pute bezeichnete, wurde ihm die Schwägerin in spe noch sympathischer.

      Patrick gewöhnte sich an, immer zwei oder drei Ordner mit nach draußen an einen Tisch im Innenhof zu nehmen und dort durchzugehen. Das Wollknäuel blieb zwar wirr, wirkte aber nicht mehr so bedrohlich auf ihn. Abends joggte er eine Runde und genoss die Zeit mit seinen Eltern. Sein Vater kam immer später als seine Mutter, die sich auch mal ein paar Tage ohne Familienunternehmen leistete, Galeristen und Kollegen besuchte, an einem Projekt für ein heimisches Museum arbeitete und akribisch ihre Safari in Marokko vorbereitete. Sie kochten zusammen, sie plauderten über dies und das und fanden allmählich einen Umgang, der ihnen allen dreien gefiel.

      „Ach, ist das schön, wenn ich dich einfach zur Begrüßung in den Arm nehmen darf und nicht erst fragen muss, ob die Hausaufgaben fertig, die Schmutzwäsche abgeliefert und dein Zimmer aufgeräumt ist“, sagte sie eines Abends. „Ob jede Familie so vom Alltag aufgefressen wird?“, fragte Patrick. „Ohne geht es mit Kindern so schwer“, antwortete sie, „denn die neigen dazu, sich im Wesentlichen zu verlieren.“ So vergingen die Tage.

      Patrick hatte sich die Strategie zurechtgelegt, von drei Stellen aus in die Firmengeschichte zu bohren wie bei einem Schweizer Käse. Von den Firmenanfängen, das war logisch, aber am dürftigsten mit Material belegt, seinen Großvater konnte er nicht mehr fragen. Von heute aus rückwärts, das war ebenso einfach wie gefährlich. Denn vieles davon hatte er miterlebt und so neigte er dazu, sich in Details zu verlieren, denn Material gab es schier ohne Ende. Der dritte Ansatzpunkt war etwa die Mitte, das war die Zeit, als sich seine Eltern kennengelernt und geheiratet hatten. Da hatte es eine große Veränderung mit dem Aufbau einer heute florierenden Zweigstelle in den USA gegeben.

      Sina ging er tunlichst aus dem Weg, und auch sonst hatte er mit den anderen Mitarbeitern wenig zu tun. Kein Wunder, denn sie verirrten sich eher in die oberen Etagen als in den Keller. Für die Wochenenden nahm er sich Material mit nach Hause, denn je tiefer er grub desto spannender fand er seine Aufgabe. Namen, Orte, Zahlen, das, was ihn am Anfang abgeschreckt hatte, füllte sich allmählich mit Leben, Gesichtern, Geschichte und Geschichten.

      Eines Samstags Ende August brach Sabine Lenau zu ihrer Foto-Safari auf. Patrick und sein Vater ließen es sich nicht nehmen, sie zum Flughafen zu bringen. Jonathan war ebenfalls mitgekommen. Er nahm extra eine längere Flugzeit in Kauf, um seine Stiefmutter verabschieden zu können, denn er musste geschäftlich nach Übersee. So wurden die beiden Flüge nahezu zeitgleich aufgerufen. „Nun sind wir ein paar Tage allein, mein Sohn“, sagte sein Vater auf dem Weg zum Auto und legte einen Arm um ihn.

      „Weißt du, dass ich euch manchmal beneide“, fragte er unvermittelt. Sein Vater schaute ihn fragend an. „Na, ihr lebt zusammen, ihr arbeitet zusammen, Jonathan wohnt praktisch um die Ecke, ihr habt so vieles gemeinsam, und ich …“ Er verstummte. „Du folgst dem Ruf, den du gehört hast, und der zog dich nicht in die Firma, sondern in die Medizin. Ich finde es a la bonheur, dass du deinen eigenen Weg gehst und gerade nicht das Einfachste und Offensichtlichste tust, nämlich dir ein warmes Plätzchen im gemachten Nest zu suchen.“

      Er war überrascht. So sah sein Vater das also. Er war gar nicht enttäuscht, dass er sich gegen das Familienunternehmen entschieden hatte. „Würdest du das auch sagen, wenn Jonathan eine andere Wahl getroffen hätte?“, fragte er. Sein Vater seufzte. „Wie soll ich das wissen? Jonathan ist wie gemacht für diese Aufgabe.“ Außerdem war es müßig, über wäre, würde, hätte und vielleicht zu spekulieren. „Ich bete zu Gott, dass ich es merke, wenn er unglücklich ist“, sagte sein Vater plötzlich leise. „Patrick, du musst es mir unbedingt sagen, wenn du den Eindruck hast, die Arbeit in meinem Unternehmen macht deinen Bruder nicht glücklich.“

      Überrascht schaute er seinen Vater an. Dieser hatte ihn noch nie um etwas gebeten. Er nickte. „Versprochen“, erwiderte er leise. Sein Vater drückte ihn an sich. „Hast du Lust auf einen Herrenabend?“, wechselte er das Thema, „ich komme mir irgendwie nackt vor ohne deine Mutter.“ Patrick lachte. „Und da komme ich als Feigenblatt gerade recht?“ „Du hast es erfasst.“ Sie gingen essen, danach in einen Biergarten und schlenderten durch den lauen Sommerabend nach Hause.

      Es war spät geworden, und Patrick ließ die Unterlagen, die er sich mit nach Hause genommen hatte, unbeachtet liegen.