Günther Dümler

Mords-Urlaub


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      Ein erbärmlich quietschendes, nervtötendes Geräusch jagt den Anwesenden ein ums andere Mal beinahe schmerzhafte Schauer über den Rücken. Gänsehaut stellt sich bei dem ein oder anderen Besucher ein. Es fühlt sich an, als würde jemand versuchen einen neu erworbenen Gegenstand gewaltsam aus einer viel zu engen Styroporverpackung herauszuzerren. Tatsächlich ist der über dreißig Jahre alte Super-8-Film, welcher sich mühsam durch die unzähligen Windungen des mindestens ebenso antiken Vorführapparates quält, für die versuchte Körperverletzung verantwortlich. Marga stellten sich bei jeder Umdrehung der Filmspule erneut die Nackenhaare auf. Sie verzieht ihr Gesicht, als ob sie eine unreife Zitrone verschluckt hätte. Über die unweigerlich entstandene Gänsehaut wagte sie sich aber nicht mehr zu beklagen, seit ihr Ehemann Peter sie in einem völlig untauglichen, wenn auch hoffentlich scherzhaft gemeinten Kommentar darüber aufgeklärt hatte, dass Gänsehaut bei Gänschen schließlich der Normalzustand sei. Seine Späße waren auch schon mal besser. Aber ihn dafür zu tadeln kam momentan nicht in Frage. Morgen ist auch noch ein Tag. Marga wusste ja, wie nervös er heute auf Störungen reagieren würde, denn die Filmvorführung war Teil einer durchaus heiklen Mission. Dankbar dafür, dass er endlich ein Publikum für sein Meisterwerk mit dem vielsagenden Titel „Eine Reise in das Land der Pharaonen“ gefunden hatte, war er den ganzen Abend über schon nervös durch das Haus gehetzt. Nun war er vollauf in seinem Element und es wäre der Stimmung äußerst abträglich gewesen, hätte ihn jemand, schon gar nicht seine Verbündete Marga, in seiner Hingabe gestört.

      Über neunzig Minuten dauerte die Vorführung des Urlaubsfilms aus dem Jahr 1980 nun schon, zu der Peter heute Abend die Marga dienstverpflichtet und seine Freunde ein- oder besser gesagt, vorgeladen hatte. Der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters bereits verdächtig stark flimmernde Streifen dokumentierte eindrucksvoll den Verlauf der zur damaligen Zeit noch sehr exklusiven Reise durch das Land am Nil, die die beiden jung verheirateten Eheleute sich in einem Anfall von Verwegenheit und Abenteuerlust gegönnt hatten.

      Es schien fast, als hätte es während der gesamten Reise geregnet. In Wirklichkeit aber wurden die Blitze, die unaufhörlich durch das Bild zuckten, von den Kratzern verursacht, die der Zelluloidstreifen im Laufe der Jahre erhalten hatte. In einem nur leidlich klimatisierten Bus und mit der auf wackligen, weil auf unsicherem Untergrund verlegten Schienen dahin rumpelnden Eisenbahn hatten sie das Land der Pharaonen, von Kairo bis tief in den Süden nach Abu Simbel, bereist. Peter hatte alle relevanten Ereignisse perfekt und leider auch sehr ausführlich dokumentiert. Das Resultat war ein fast zweistündiger Super-8-Film. Die Kameras waren damals noch viel schwerer als heutige Hi-Tech-Camcorder und das unbelichtete Filmmaterial sehr, sehr teuer. Für drei Minuten Film musste man ganze Einundzwanzig Mark auf den Tisch legen. Daher war es natürlich unerlässlich, dass die Motive sorgfältig ausgesucht, die Belichtung genau eingestellt und die Kamera absolut ruhig gehalten wurde. Ein Verwackler kam daher richtig teuer. Jeder weggeworfene Schnipsel des wertvollen Zelluloidstreifens war schließlich bares Geld. Unbedachte Mitreisende, die sorg-, manchmal aber auch einfach rücksichtslos, in die laufende Szene hineintappten, waren seinerzeit ein ständiges Ärgernis und ausnahmslos Grund für einen bissigen Kommentar des Hobbyfilmers.

      „Maulaffn, rücksichtslose!“

      Das waren nur die laut geäußerten Ausbrüche. Gedanklich schrammten Peters Reaktionen oft genug nahe an einer Körperverletzung vorbei. Marga hatte damals buchstäblich alle Hände voll zu tun, um einen Zusammenstoß zwischen ihrem begeisterten Kameramann und den lästigen Störenfrieden zu verhindern. Wenn es um seine, sich zweifellos an der Grenze zur Perfektion bewegenden Ambitionen als Schmalfilmer ging, war Peter gnadenlos. Effektivität rangierte in diesen Tagen eindeutig vor friedlichem Miteinander.

      Die schwere Kameratasche, die zudem auch noch ein Einbeinstativ und diverse hilfreiche Utensilien enthielt, wie sie für einen echter Orientreisenden auf Kara ben Nemsis Spuren unerlässlich waren, sorgte dafür, dass seine rechte Schulter gegen Nachmittag einem ausgiebig durchgeklopften Kotelett aus der Metzgerei Bräunlein glich und enorm schmerzte. Dabei hatte er wirklich nur das Allernötigste eingepackt, so zum Beispiel ein Original Schweizer Offiziersmesser mit siebenundzwanzig überlebensnotwendigen Funktionen, eine extrem leistungsstarke Taschenlampe, mehrere abwechslungsweise verdauungsfördernde oder durchfallverhütende Medikamente, einen Minikassettenrecorder zur Aufnahme von Originalgeräuschen, mit deren Hilfe man später zuhause beim Filmschnitt und der obligatorischen Nachvertonung ein perfektes Lokalkolorit erzeugen konnte, um nur die wichtigsten Gegenstände zu nennen.

      Wir wollen jedoch nicht zu sehr abschweifen. Alles zu seiner Zeit. Zurück zum hier und heute. Peter und Marga waren wie bereits erwähnt in missionarischer Absicht unterwegs. Die Kleinleins haben ihre Freunde, das Metzgerehepaar Bräunlein, das jüngste Mitglied der freitäglichen Kartelrunde Michael Kowalew alias Iwan, sowie den Chef des örtlichen Schönheits- und Friseursalons Lothar Schwarm, welcher schon seit vielen Jahren Witwer ist, zu sich nach Hause eingeladen, um über das Ziel des nächsten gemeinsamen Urlaubs zu beraten. Und das war auch genau der Grund, warum Peter seinen nahezu antiken Filmschatz ausgepackt hatte. Er wollte seinen Vorschlag, das Land am Nil zu besuchen, mit eindrucksvollen Bildern untermauern und bei seinen Freunden zwar nicht die gleiche, das wäre denn doch nicht möglich gewesen, aber doch zumindest eine gewisse Begeisterung für den Orient im Allgemeinen und Ägypten im Besonderen wecken.

      Eben flogen endlos weite, saftig grüne, von herrlichen, sonnenbeschienenen Palmen gesäumte Felder am Auge des Betrachters, das heißt am dahin schaukelnden Reisebus vorbei. Armselig gekleidete Fellachen bearbeiteten mit großem Fleiß, ihren bloßen Händen und einfachsten Werkzeugen den fruchtbaren Boden. Unter wildem Gehupe kam auf der Gegenfahrbahn ein mit mindestens 15 Kamelen beladener Lastwagen in Sicht, worauf die ganze Reisegruppe mit gezückten Fotoapparaten und begeisterten Ausrufen von ihren Sitzen aufsprang und zu den links liegenden Fenstern eilte, um die exotischen Eindrücke für die Nachwelt fest zu halten. Ein Wunder, dass der Fahrer die Spur halten konnte.

      Die Sonne brannte, obwohl es gerade Mal Anfang März gewesen sein dürfte, mit enormer Kraft auf die Landschaft herab. Aus dem zunächst winzigen gelblichen Punkt am Himmel wurde ein großer, sich rasend schnell über das ganze Bild ausbreitender brennender Fleck. Es schien, als ob sich der ägyptische Sonnengott Re anschicken wollte, persönlich auf die Erde herab zu steigen. Er kam immer näher. Das Licht wurde heller und heller und begann die Augen der Betrachter zu blenden. Dann ein Geruch wie angebrannte Milch.

      „Verfluchter Mist, etz iss der Film scho widder hänger bliebn und dee blöde Projekdorlampn hodd mer a Mordsdrumm Loch in meine unersetzbarn Erinnerunger neibrennd“.

      Peter war untröstlich. Natürlich konnte er die Stelle wieder mit Filmkitt und Klebepresse zusammenfügen, aber das kostete wieder ein paar Zentimeter seines unter großen Mühen angefertigten unwiederbringlichen Andenkens. Der mühsam eingefangene Originalton, im Zusammenspiel mit seiner meisterlich gestalteten Musikunterlegung, würde eine jähe Unterbrechung erfahren, bei zukünftigen Vorführungen natürlich einen unüberhörbaren Wackler bewirken und dadurch den Gesamtwert des Meisterwerks doch erheblich schmälern. Nicht, dass dieser Umstand auch nur einem der potentiell zukünftigen Betrachter überhaupt auffallen, gescheige denn annähernd so sehr stören würde wie den verzeifelten Kameramann selbst. Es war leider eher anzunehmen, dass dies heute ohnehin die letzte Vorführung für viele Jahre sein würde, wahrscheinlich sogar die letzte überhaupt.

      Ganz im Gegensatz zu ihrem Ehemann kam Marga die Unterbrechung sehr gelegen. Sie hatte einen kleinen fränkischen Imbiss vorbereitet und wartete sowieso schon ungeduldig auf das Ende des filmischen Vergnügens. Zudem war ihr im Gegensatz zu ihrem in Erinnerung schwelgenden Ehemann nicht entgangen, dass Simon Bräunlein schon mehrfach für längere Zeit die Augen zugefallen waren, ein Fauxpas, den der Ertappte immer herunterzuspielen versuchte: „Mensch, ihr glabbd ja garnedd wäis heid widder in der Ärberd zouganger is“.

      Ursprünglich hatte die Hausherrin überlegt, ob sie nicht sogar einige orientalische Gerichte aus der zwölfbändigen Rezeptsammlung, die die Kleinleins zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten und die sie immer noch gelegentlich benutzte, heraus suchen sollte. Aber es wäre wohl unklug gewesen, ein Risiko einzugehen, wer weiß ob es allen geschmeckt hätte, denn von der anschließenden Abstimmung erhofften sich sie und Peter doch eine Stimmenmehrheit für eine Neuauflage