Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 3


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Flüssigkeit heraus. Die Bauchaorta! Jemand hat sie mit einem tiefen Stich aufgeschlitzt. Myo entdeckt auch sofort das Werkzeug. Ein spitzer, langer Dolch liegt neben ihr auf dem Holzfußboden. Blut breitet sich wie rote Tinte um sie herum aus. Ihre Augen sind bereits starr. Sie ist tot. Erstochen. Ermordet. Vor wenigen Augenblicken.

      »Du solltest besser auf deine Schützlinge aufpassen«, haucht eine eisige Stimme hinter ihr.

      Isabell? Ice zweite Frau!

      Myo dreht sich auf dem Absatz um und ist bereit, ihr den Hals umzudrehen.

      Isabell begrüßt Myo mit einem eiskalten Lächeln. Sie ist die Mörderin, daran hegt Myo nicht den geringsten Zweifel, auch wenn ihr Äußeres das nicht vermuten lässt. Blondes, langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Himmelblaue Augen, ein bildhübsches Gesicht und einen zierlichen Körper, der von einem luftigen Kleid umschmeichelt wird. Sie ist mit einer Aura von Schönheit und Eleganz gesegnet, die nicht zu dieser Welt passt. Ihre Boshaftigkeit und Gerissenheit hingegen schon.

      »Was hast du getan?«, brüllt Myo sie an.

      »Ich? Überhaupt nichts«, lächelt Isabell siegesgewiss. »Das warst du«, sagt sie und plötzlich hat sie ein Glas in der Hand und schleudert den Inhalt auf Myo. Viel zu überraschend, als dass Myo hätte ausweichen können. Myo schaut an sich herab. Blut. Das Glas war voll mit Blut. Instinktiv fasst sich Myo ans Kleid. Ihre Hände färben sich blutrot. Noch bevor sie begreift, welchen Schachzug Isabell gerade ausgespielt hat, öffnet sich die Tür am Ende des Korridors. Ice muss sie gehört haben und betritt die Bühne. Er hat das zappelnde Mädchen an den Haaren gepackt und zieht es hinter sich her.

      »Die Göre wollte sich verziehen, hat sich jedoch dummerweise in mein Arbeitszimmer verirrt. Pech gehabt.« Ice betrachtet die beiden Frauen.

      Isabell hat ihre perfekte Unschuldsmiene aufgesetzt.

      »Myo hat ihre Mutter umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie ist eine eiskalte Mörderin. Ich habe es dir von Anfang an gesagt«, schluchzt Isabell und Tränen fluten plötzlich ihre Augen. Eine beileibe schauspielerische Höchstleistung.

      Myo ist nicht imstande, sich zur Wehr zu setzen. Die Situation ist zu grotesk. Ihre Schlagfertigkeit kann der Gegnerin nicht das Wasser reichen. All ihre Gedanken sind bei dem armen Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hat. Welch ein Trauma.

      Ice kommt näher und betrachtet die Szene in Myos Schlafzimmer genauer. Sein Gesichtsausdruck verwandelt sich in Sekundenschnelle von Überraschung über Stolz zu Entzücken. Er lacht so laut, dass es im Korridor widerhallt und klatscht sich auf den Schenkel, wobei er das Mädchen loslässt. Augenblicklich ergreift Isabell sie an der Hand.

      »Hiergeblieben! Ab sofort kümmere ich mich um dich. Du willst doch sicher nicht bei der Mörderin deiner Mutter bleiben«, säuselst sie. »Ich werde mich um dich sorgen, du armes Ding.« Myo würde ihr am liebsten an die Kehle springen.

      Rekruten

       Drei Tage vor der Friedenskonferenz / Sektion der Steamborgs

      Myo kann gar nicht so schnell schauen, wie die Tage in der Sektion der Steamborgs vergehen.

      Jeden Morgen wird der Nebel unwirtlicher und der Wind begrüßt sie immer kühler als am Tag zuvor. Der trostlose Anblick der Stadt zeigt sich in gespenstischer Klarheit und auf dem Weg zu Ice' Gemächern fragt sie sich, wie der Winter wohl in 4-City werden muss, wenn der August in diesen Tagen schon so frostig in Erscheinung tritt.

      Seit vier Tagen ernährt sie sich nur von der Hoffnung und ihrem Wunsch, endlich das Mädchen wiederzufinden. Sie fragt sich, ob es überhaupt noch Sinn macht, weiterzusuchen und ob die Kleine noch lebt. Als Myo ein vertrautes Brummen hört, tritt sie ans Fenster in der Galerie, die zu Ice' Arbeitszimmer führt.

      Die Propellergeräusche ankommender Zeppeline sind schon lange wahrnehmbar, bevor die Spitzen der Flugobjekte durch die Nebelwand stoßen. Die Luftschrauben kippen gegen die Fahrtrichtung und bringen die Luftschiffe in Position, dann gehen die Motoren aus. Es ist für einen Moment gespenstisch still, bis sich die Luken ratternd öffnen, die Rampen knatternd ausfahren und die Steamborgs in Erscheinung treten. Eine neue Ladung ist eingetroffen. Arme Seelen verstreuter Schrottsammler, deren Schicksal besiegelt zu sein scheint.

      Myo sieht Ice über die Landebahn stiefeln. Sie dachte, er wäre in seinen Räumen, weiß jedoch nun, dass er dort unten ist, um die neue Ware in Empfang zu nehmen. Nichts weiter als Biomasse, bereit für die Transformation zu Steamborgs. Myo scannt die Szene und entdeckt ein Kind unter den Schrottsammlern. All ihre Muskeln spannen sich an. »Was passiert mit den Kindern?«, fragt sie sich aufs Neue. Noch nie hat sie einen Steamborg von der Größe eines Kindes auf dem Gelände gesehen. Ist das vielleicht die Chance, auf die sie gewartet hat? Kann ihr dieser kleine Junge helfen, das Mädchen wiederzufinden? Sie bleibt stehen, auch wenn alles in ihr sie dazu auffordert, das unterirdische Geschoss aufzusuchen, um den Moment nicht zu verpassen, wenn Ice den Jungen an Isabell übergibt.

      Die Schrottsammler sind noch benommen von dem Schlafmittel und torkeln über die Landebahn Richtung Hangar. Der kleine Junge unter ihnen scheint vollkommen fehl am Platz zu sein. Hilflos und ängstlich blickt er sich immer wieder zu allen Seiten um. Vielleicht auf der Suche nach seinen Eltern. Eventuell aber auch nur, weil er nicht weiß, wo er hineingeraten ist. Als er sich auf Ice' Höhe befindet, wendet er den Kopf wieder in Laufrichtung und erschreckt bei Ice' Anblick in Grund und Boden. Der kleine Schrottsammler gerät ins Stolpern und fällt hin. Und da registriert Myo etwas Erstaunliches. Ice hilft ihm wieder auf die Beine. Der Junge umklammert unter Schmerzen sein kleines Handgelenk und Ice zögert nicht und zieht ein weißes Taschentuch aus seiner Hose. Er verbindet nahezu fürsorglich das Handgelenk des Jungen. Ice streicht ihm sogar väterlich über den Kopf, bevor er sich zu ihm herunterbeugt und ihm etwas ins Ohr flüstert. Myo glaubt zu sehen, wie sich die Gesichtszüge des Kindes aufhellen und er schließlich weitergeht. Was hat er zu dem Jungen gesagt? Die Reaktion, wie er dem Knirps geholfen hat, war unwillkürlich, reflexartig und nicht vorgespielt. Kinder könnten seine Schwäche sein, aber warum das so ist, kann Myo nicht ergründen. Ice ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie weiß so gut wie nichts über seine Vergangenheit und seine tiefen Beweggründe dafür, warum er die Steamborgs erschafft und die Sektion der Menschen so hasst. Doch Myo fühlt, wenn es eine Möglichkeit gibt, Ice harte Schale zu knacken, dann sind es womöglich die Kinder. Tatsächlich ist es äußerst selten, dass sich eins oder sogar mehrere von ihnen im Netz der Steamborgs verfangen. Ice' Befehle verbieten es offensichtlich, sie zu entführen.

      Myo weiß natürlich, dass Isabell ein hohes Interesse an den Kindern hat. Vielleicht war sie deshalb so wütend, als ihr das Mädchen durch die Lappen gegangen ist. Doch Isabell hat es sich zurückgeholt. Was macht sie mit ihnen und warum lässt Ice es zu? Irgendwo in seinem Inneren, umgeben von einer dicken Schicht aus Eis, vermutet Myo einen warmen Kern. Sie kann es spüren. Etwas Gutes steckt in ihm. Ihr muss es nur gelingen, bis dorthin vorzudringen.

      Tod

      Myo kommt zeitgleich mit Ice in den Katakomben an. Die neue Ladung Schrottsammler wird unter Artox Kommando von den Steamborgs in ihre Käfige verstaut. Ice flucht wie immer über die Stromschwankungen. Myo weiß, dass seine Verwünschungen bald abebben.

      »Es sind Verstreute. Ohne Clanzugehörigkeit. Es war kinderleicht sie einzufangen und mit Isabells Chemikaliencocktail zu betäuben. Die Clans der Schrottsammler machen sich gegenseitig fertig. Mir kann das nur recht sein«, murmelt Ice und bleibt vor einem der Käfige stehen. »Seltsam, was ist mit dem los?«

      Die Schrottsammler hocken zusammengekauert auf dem Boden. Manche schlafend, andere wirken wie in Trance versetzt.

      Myo betrachtet sie näher. Etwas ist in der Tat komisch. Sie kniet sich hin, greift durch die Gitterstäbe, um nach dem Puls des jungen Mannes zu tasten.

      »Er ist tot«, sagt Myo, schaut unbemerkt zu