Amüsiert den Kopf schüttelnd ging er an Annabell vorbei auf die Haustür zu. Wie Jessy es gesagt hatte, fand er unter einem Blumentopf den Schlüssel und sperrte auf. Er warf nur einen kurzen Blick hinein, dann marschierte er zum Rollstuhl, legte die Hände an den Griff und schob sie auf die Rampe zu. Auf der Veranda angekommen drehte er sie so, dass sie alles überblicken konnte, und betätigte die Feststellbremse. »Ich verstaue schnell das Gepäck und mache einen Rundgang«, erklärte er.
Er holte die Taschen und betrat den Bungalow. Der breite Flur ging nach vorne in einen großzügigen Wohnbereich über, nach links und rechts zweigten je zwei Zimmer ab. Die Türen standen allesamt offen, sodass er einen Blick hineinwerfen konnte, um sich zu orientieren. Auf der rechten Seite befanden sich Küche und Badezimmer, wohingegen sich auf der anderen die beiden Schlafräume verbargen. Das Haus war zweckmäßig, aber nichtsdestotrotz schön eingerichtet, durch kleine Accessoires und farbenfrohe Vorhänge sah man so gut wie nirgends, dass man in einem Therapiezentrum verweilte. Lediglich im Bad und in Annabells Zimmer war anhand der medizinischen Komponenten eindeutig zu erkennen, dass man sich nicht in einem Urlaubsressort aufhielt.
Nachdem er ihre Taschen im hinteren Raum, in dem ein spezielles Pflegebett stand, abgestellt hatte, warf er in seinem alles einfach achtlos aufs Bett, um Anna nicht allzu lang allein draußen zu lassen. Er begann immer fester darauf zu hoffen, dass sie hier große Fortschritte machen konnte. Fernab von jedem Einfluss, die für ihre geschundene Seele nur Stress bedeuteten, den man eigentlich vermeiden sollte. Er war sicher, dass auch ihre Erinnerung zurückkehren würde, wenn ihr Körper erst einmal die Kraft wiederfand.
Auf leisen Sohlen verließ er den Bungalow, trat an den Rollstuhl. Annabell saß noch immer regungslos und sah fasziniert geradeaus. »Es ist ... wunderschön«, flüsterte sie, hob langsam ihre rechte Hand und deutete nach vorne. Bevor er ihrem Fingerzeig folgte, zog er sich einen der Stühle direkt neben sie und setzte sich. Dann erst blickte er in dieselbe Richtung, in die auch sie sah.
Von ihrem Sitzplatz aus sah man das Meer. Die Sonne ging gerade unter und tauchte nicht nur das Wasser, sondern auch den Himmel in ein spektakuläres rotorange. Ein paar weiße Wolken vervollständigten das Bild, das sich für immer in seinen Kopf brennen würde. Dann wandte er sein Gesicht wieder zu Annabell.
»Aye«, sagte er dann leise. »Wunderschön.«
Annabell
Während des ganzen Wegs zu ihrer Unterkunft redete Jessy unermüdlich auf sie ein. Annabell hatte gar keine Zeit, um sich Gedanken um Jon und das Gepäck zu machen, wenngleich dieser wie ein Packesel von Jessica hinter ihnen her gescheucht wurde.
Der Bungalow, den die Therapeutin als kleine Hütte verkaufen wollte, war ein Traum. Bilder blitzten auf und ein vertrautes warmes Gefühl stellte sich ein. Ob es Erinnerungen waren, oder ihr die Umgebung an sich das Empfinden von Geborgenheit vermittelte, konnte sie nicht sagen.
Ein Tippen auf die Schulter holte sie aus ihrer Trance heraus und Jessy beugte sich nah an ihr Ohr heran. »Und Sweetheart, zum Thema ›ein einziger Mann würde mir schon reichen‹ habe ich nur eins zu sagen. Soweit ich weiß, bist du bewegungseingeschränkt und hast Amnesie. Von einem Augenfehler war mir nichts bekannt!«, flüsterte sie ihr zu.
Kurz überlegte Annabell, wie sie das gemeint hatte, bis es ihr bewusst wurde. Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, denn natürlich war sie nicht blind. Jonathan sah sehr gut aus, hatte einen tollen Körper und war ein charmanter Mann. Nur gab es da ein großes, dickes Aber. Er war ihr Pfleger, er hatte sie schlimm zugerichtet gesehen und sicher wollte er sich nicht eine kaputte Frau, wie sie es war, ans Bein binden. Und ihrer Meinung nach würde sie auch nie wieder eine normale Frau werden können.
Sie verscheuchte die trüben Gedanken, denn das erste Mal seit Wochen fühlte sie sich wohl. Auch wenn ihr Gedächtnis immer noch leer war, der Körper auf Sparflamme lief, so war dieser Ort Balsam für ihre Seele. Allein die Sonne und der Geruch des Meeres ließen wieder Gefühle aufsteigen, die sie noch nicht zuordnen konnte, die aber sehr angenehm waren.
Jon fuhr sie auf die Terrasse und drehte sie so, dass sie das Meer sehen konnte, während er das Gepäck reinbrachte. Gerade fing die Sonne an, langsam am Horizont zu verschwinden. Als der feuerrote Ball das Meer berührte, meinte man, das Zischen zu hören, und die Sonne versank immer mehr.
»Es ist ... wunderschön«, konnte sie nur flüstern, als Jonathan wieder zu ihr heraustrat. Annabell hob langsam ihre rechte Hand und deutete nach vorne.
Sie hörte das Kratzen eines Stuhles, dann setzte er sich neben sie und schaute stumm der untergehenden Sonne zu.
»Aye«, sagte er dann leise. »Wunderschön.«
Seine Stimme ließ sie ihren Kopf drehen und nicht nur das Bild des Sonnenuntergangs, sondern auch das von ihm, würde sich wohl für immer in ihr Gedächtnis einbrennen. Wenn sie nicht wieder einen Unfall erlitt und alles vergaß, schoss es ihr durch den Kopf und sie sah schnell weg.
»Anna, was ist los?«, fragte er sofort alarmiert nach. Ihm war ihr Stimmungswechsel doch nicht entgangen.
Normalerweise war sie auf solche Fragen nie eingegangen und hatte sich wortlos weggedreht. Warum sie ihm heute antwortete, wusste sie nicht. »Warum sollte ich mich anstrengen, wenn doch morgen alles wieder vorbei sein könnte?«
»Was wenn nicht? Annabell, koste jede Sekunde deines Lebens aus, du hast nur dieses eine. Und es gibt Menschen, denen du sehr viel bedeutest, die sich wünschen, dass du wieder an ihrer Seite bist.« Er hatte ihre Hand genommen und als sie ihm nun in die Augen schaute, lag so viel Wärme darin, dass sie um Fassung ringen musste.
»Es wird Zeit, dass du ins Bett kommst. Es war ein langer, und so wie es aussieht, bewegender Tag.« Wieder hatte er gemerkt, dass es nun besser war, sie in Ruhe zu lassen.
Sie musste feststellen, dass nicht nur sie ihn perfekt lesen konnte, sondern Jon auch sie. Dabei hatte sie immer gedacht, dass sie ihre Gefühle gut genug abgeschottet hatte. Dies schien aber nicht wirklich der Fall zu sein.
Als er sie ins Bad schob, sah sie sich dem nächsten Hindernis gegenüber. Zuhause hatte Susan sie abends und morgens fertiggemacht. Aber auch das Baden und die Toilettengänge waren in ihren Aufgabenbereich gefallen. Nun war sie hier alleine mit Jon und auf ihn angewiesen, auch wenn zweimal am Tag eine Pflegerin kommen und ihr bei der Körperpflege helfen würde.
Bestimmt hatte er ihre Unsicherheit gespürt und doch ließ er sich nichts anmerken. Am WC angekommen half er ihr hoch, sie hielt sich an den Griffen, die dort angebracht waren fest, und zog ihr die Hose herunter. Er arbeitete so routiniert, dass für sie kein Schamgefühl entstand und half ihr auf die Toilette.
Erstaunt sah sie, wie er rausging. »Ruf, wenn du fertig bist.«
Sie klammerte sich an die Griffe, dabei saß sie auf der Toilette fast genauso sicher wie in ihrem Rollstuhl. Doch es war das erste Mal, dass sie allein darauf saß.
Nachdem sie fertig war und gerufen hatte, half er ihr beim Säubern und Aufstehen, zeigte dann mit der Hand Richtung Waschbecken.
»Ab heute werden wir dir Stück für Stück deiner Freiheit zurückgeben.«
Erstaunt wusch sie sich die Hände und das Gesicht, dann nahm sie die dargebotene elektrische Zahnbürste. Jon half ihr, diese in den Mund zu befördern, ohne dass sie sich die Paste im Gesicht verteilte und hielt ihren Arm nur, wenn er merkte, dass sie die Kraft verließ.
Auch den Becher mit Wasser zum Ausspülen musste sie selbst halten und sie war sich nicht sicher, ob sie diese Art von Freiheit gerade mochte. Denn die ungewohnt vielen Bewegungen, die sie selbst ausführen musste, taten mittlerweile weh - in Thompsons Retreat hatte sie kaum mitgearbeitet und all diese Dinge nur mit Hilfe von Susan getan.
Danach brachte er sie in ihr Zimmer, welches wirklich wunderschön eingerichtet war, gleichwohl das Bett sie daran erinnerte, dass es nicht kein Ferienparadies sein würde.
Jon legte sie darauf und zog sie um, immer darauf bedacht, sie nicht zu sehr