Ben Worthmann

In einer Nacht am Straßenrand


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seine Gedanken rotierten.

      Nina Winkler und B.B., diese seltsame Begegnung am Straßenrand – in was war er da hineingeraten? Er musste das sofort der Polizei melden. Das sagte ihm sein nüchterner Verstand. Leider war dieser nicht ganz so nüchtern, wie er hätte sein sollen. Etwas anderes in ihm sagte, dass er das zunächst mal lassen und erst einmal mit dieser Frau sprechen sollte, und zwar nicht am Telefon, sondern unter vier Augen. Vielleicht gab es ja eine ganz einfache, harmlose Erklärung. Ja, und genau so würde er es machen. Später, wenn er es hoffentlich irgendwie geschafft hatte, diesen Arbeitstag hinter sich zu bringen.

      Bruno Böhning war in der Stadt bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund, aber das in durchaus positivem Sinn. Er war ein Mann mit viel Geld. Ihm gehörten jede Menge Immobilien, Miets- und Geschäftshäuser, fast die halbe Innenstadt. Aber er selbst betrachtete sich gern als eine Art Mäzen, engagierte sich in kulturellen Dingen, kaufte Kunst, subventionierte das kleine Stadttheater, spendete für das Heimatmuseum. Er war nicht nur ein reicher, sondern auch ein angesehener Mann.

      Zu seinem sechzigsten Geburtstag im vorigen Jahr hatte Leonhard ihn interviewt. An das Gespräch erinnerte er sich mit gemischten Gefühlen. Auf seine Weise war Böhning zweifellos eine imposante Erscheinung – groß, schlank, mit seiner grauen Mähne und einem immer noch jungenhaften Charme wirkte er auf den ersten Blick durchaus einnehmend. Doch sein Auftreten hatte auch etwas Selbstgefälliges, und manches daran mutete aufgesetzt, geradezu inszeniert an. Er besaß eine große Neubau-Villa, ein regelrechtes Anwesen, das ein Stück außerhalb der Stadt lag und eine Spur zu protzig war, um so ganz zu den feingeistigen und kulturellen Ambitionen des Besitzers zu passen.

      Schließlich gab Leonhard sich einen Ruck und rief Manfred Becker an, Hauptkommissar im Kriminaldauerdienst. Irgendwann hatten sie beide festgestellt, dass sie einander vertrauen konnten und gut miteinander auskamen, nicht nur dienstlich. Becker war ein kräftig gebauter Mittfünfziger mit einem breiten, meist leicht geröteten Gesicht. Manche unterschätzten ihn zunächst wegen seiner Leutseligkeit. Leonhard traf sich mit ihm manchmal auf einen Kaffee oder ein Bier.

      „Hallo Leo, mein Lieblingsreporter“, meldete sich Becker. „Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet.“

      „Was genau ist denn eigentlich passiert?“

      „Dazu können wir frühestens morgen mehr sagen. Vorerst haben wir nur einen toten Bruno Böhning, der im Stadtwald ungefähr zwanzig Meter abseits der Landstraße von Spaziergängern gefunden wurde. Er hatte Sportkleidung an, war wohl zum Joggen unterwegs. Todesursache ungeklärt, Fremdverschulden daher nicht ausgeschlossen.“

      „Und wie lange hat er dort gelegen?“

      „Ein paar Tage bestimmt. Nach erster Schätzung so etwa seit Freitagabend oder der Nacht zum Samstag. Er ist wohl häufiger noch spät am Abend joggen gewesen, hatte ja tagsüber immer reichlich viel um die Ohren. Jedenfalls sieht er schon nicht mehr ganz so frisch aus bei dieser Hitze. Aber zum Todeszeitpunkt können wir erst nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung Genaueres sagen, du weißt ja.“

      „Wieso gab es denn keine Vermisstenmeldung?“

      „Ganz einfach deswegen, weil ihn noch niemand vermisst hat. Seine Frau ist seit einer Woche in Urlaub, irgendwo auf Mallorca. Sie haben dort eine Finca. Die Kollegen haben sie bisher nur kurz sprechen können. Sie hat einen Schock und ist noch nicht reisefähig. Sie kommt erst morgen zurück.“

      Leonhard erinnerte sich, dass Frau Böhning bei dem Interview zeitweise dabei gewesen war. Sie war gut zehn Jahre jünger als ihr Mann, relativ klein, mit einer straffen Figur. Ein bisschen überspannt hatte sie gewirkt, aber nicht direkt unsympathisch. Kinder hatten die beiden nicht.

      „Wie habt ihr ihn denn überhaupt identifiziert?“

      „Offiziell identifizieren konnten wir ihn natürlich noch nicht. Aber er hatte sein Handy dabei. Außerdem kennt den hier ja wohl fast jeder hier.“

      „Da hast du auch wieder recht.“

      „Er hat übrigens auch das sogenannte Kulturprogramm bei unserem Polizeifest gesponsert. Es wurde ja hier kaum irgendwo ein Bild aufgehängt oder irgendein Lied gesungen oder was geklimpert, ohne dass der große Bruno Böhning seine spendablen Finger im Spiel hatte.“

      „Da hast du aber jetzt schön ausgedrückt, Manfred. Darf ich dich um Rat bitten, wenn ich demnächst mal wieder ein bisschen Formulierungshilfe brauche?“

      Leonhard wunderte sich selbst, dass es ihm gelang, seine innere Anspannung zu überspielen und die Gedanken beiseite zu schieben, die unentwegt in seinem Kopf kreisten. Mit Becker verblieb er so, dass dieser sich melden würde, sobald es etwas Neues gäbe und dass ansonsten die ersten Ergebnisse der Spurensicherung und der Pathologie abgewartet werden müssten.

      „Dass wir dringend Zeugen suchen, ist ja wohl klar“, sagte Becker noch. „Das solltest du in deinem Artikel auf jeden Fall besonders hervorheben, aber das muss ich dir ja wohl nicht sagen.“

      Es klopfte, Weidemann steckte den Kopf zur Tür herein.

      „Wollen wir mal kurz?“

      An der Lagebesprechung nahmen nur diejenigen teil, die mit der Berichterstattung zum Tod Böhnings zu tun hatten. Sie kamen überein, dass Leonhard die Nachricht für die erste Seite schreiben und sich weiter um die polizeilichen Ermittlungen kümmern sollte, um sie bei Bedarf sofort zu aktualisieren. Natürlich würde er den Artikel auch mit einigem Hintergrundmaterial über den Toten anreichern, aber es war klar, dass sie außerdem im Inneren das Blattes einen ausführlichen Nachruf brauchten.

      „Leo, könntest du das ebenfalls übernehmen?“

      Leonhard hatte befürchtet, dass Weidemann das fragen würde.

      „Muss das sein?“

      „Nun komm, zier dich nicht. Du bist doch sowieso in der Geschichte drin, außerdem kanntest du ihn.“

      „Ich muss aber doch erst mal die Nachricht rund kriegen. Da gibt’s noch einiges zu recherchieren. Außerdem kenne ich da jemanden, der ihn noch besser kannte.“

      „Hä?“, machte Weidemann, setzte seine Brille ab und klopfte mit dem Bügel gegen seine Unterlippe. „Ach so, du meinst...Nee Leo, bitte. Erstens habe ich überhaupt keine Zeit, weil ich noch ein paar Termine habe, und zweitens bin ich da ein bisschen befangen.“

      Und drittens bist du kein besonders guter Schreiber und weißt das auch, ergänzte Leonhard im Geiste. Aber es stimmte schon, was Weidemann sagte. Da der Chefredakteur des „Morgenkurier“ selber zur Prominenz zählte – nicht nur seiner eigenen Auffassung nach -, hatte er den bedeutenden und verdienten Bürger Bruno Böhning wahrscheinlich etwas zu gut gekannt. Insofern war seine Weigerung sogar journalistisch begründbar.

      „Na gut, wenn es denn gar nicht anders geht, mache ich das eben auch noch“, sagte Leonhard.

      5. Kapitel

      Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, sein Polohemd klebte ihm unangenehm am Körper, er hatte Hunger, Durst und den Wunsch nach einer ausgiebigen Dusche und frischer Kleidung.

      Zur Rubensstraße war es nicht weit, sieben, acht Minuten vielleicht. Er kannte die Gegend vage, so wie man in einer Stadt von knapp hunderttausend Einwohnern schon in so ziemlich jedem Winkel irgendwann einmal gewesen war, zumal als Zeitungsmann. Hanna hatte er Bescheid gesagt, dass es später werden würde. Sie hatte die Sache mit Böhning bereits mitbekommen. Leonhards Bericht war inzwischen in der Online-Ausgabe des „Morgenkurier“ zu lesen, und in den lokalen Rundfunknachrichten war die Meldung ebenfalls gebracht worden. Er hatte Hanna also nichts weiter groß zu erklären brauchen.

      Die Klimaanlage sorgte für ein bisschen kühlende Erleichterung. Er kam zügig voran. Um halb acht hatte für die meisten Menschen längst der Feierabend begonnen. Fast hätte Leonhard die Einfahrt in die Rubensstraße übersehen. Er musste stark abbremsen, um dann doch noch, nicht ganz vorschriftsmäßig, die Kurve nehmen zu können. Die Rubensstraße war eine reine Wohnstraße. Er fuhr langsam. Nummer 7 lag nahe