Koffer und ging entschlossen auf das dritte Zimmer zu. Es lag direkt neben dem Dachgiebel. Die Tür war offen, und Elisabeth hob den Koffer auf das große Doppelbett. Ich staunte nicht schlecht. In dem Zimmer sah es aus wie auf einem bayrischen Ferienhof. Decke und Wände waren mit Holzpaneelen verkleidet. Die wuchtigen Möbel aus Kiefernholz passten dazu wie die Faust aufs Auge. Das Zimmer wirkte gemütlich. Hier konnte man sich wohlfühlen. Ich bedankte mich bei Elisabeth, öffnete meinen Koffer und begann, einen Teil meiner Kleidungsstücke in den Schrank zu räumen. Elisabeth sah mir eine Weile zu, dann ging sie nach unten und ließ mich mit mir und meinen Gedanken allein zurück. Diese drehten sich weiter um Vater.
Er hatte das Haus mit so viel Liebe zum Detail eingerichtet, er musste ein liebenswerter Mensch gewesen sein.
Nachdem der Koffer leer war, entschied ich mich für Jeans und eine rote Westernbluse aus dem Schrank, angelte mir frische Unterwäsche aus einem der seitlichen Schubladen, verließ das Zimmer und suchte nach der Dusche. Die befand sich auf der anderen Seite des Giebels und war quasi in die Dachschräge integriert worden. Sie war ein weiteres Detail meines Vaters. So langsam bekam ich einen Eindruck davon, wie er tatsächlich gewesen war. Ich betrat das Duschbad und drehte den Warmwasserhahn auf.
Ah, wie gut tat das denn …
Danach war ich ein anderer Mensch. Ich trocknete mich ab, föhnte mein Haar und schlüpfte in Jeans und Bluse. Ich fühlte mich wie neugeboren, spürte nichts mehr von einem Jetlag. Ich pfiff die Melodie eines Countrysongs vor mich hin und ging die Treppe hinunter.
Tante Ingeborg saß bereits im Esszimmer, als ich den Raum betrat. Sie schluckte, als sie meine Aufmachung sah, und spätestens jetzt wusste ich, dass ich etwas ganz Entscheidendes außer Acht gelassen hatte. Vater war gestorben, Tante Ingeborg trauerte, und ich erschien in einem bunten Western-Outfit. Das ging gar nicht!
„Oh … verdammt … äh, ich bitte vielmals um Entschuldigung.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte nach oben auf mein Zimmer.
Im Kleiderschrank hing eine schwarze Lederkombination, die ich mir noch extra vor dem Abflug gekauft hatte. Ansonsten besaß ich nichts Schwarzes. Ich hasste die Farbe. Sie wirkte düster und traurig, aber diesmal musste es wohl sein. Zehn Minuten später war ich wieder unten im Esszimmer und bemerkte Tante Ingeborgs wohlwollenden Blick auf mir ruhen. Alles war wieder in Ordnung. Ich setzte mich an den Tisch. Er war für zwei Personen gedeckt.
„Weißt du schon, wie es weitergeht?“, wollte ich wissen, während ich mir etwas von dem Essen auf meinen Teller schob.
Es gab Rinderbraten mit Rotkohl, biedere Hausmannskost. Ich probierte den Braten. Das Fleisch war zart und saftig. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.
Tante Ingeborg beobachtete mich eine Weile, ehe sie auf meine Frage antwortete. „Nun, ich denke, zunächst wirst du ein paar Tage brauchen, um dich von den Strapazen deiner Reise zu erholen und um dich einzugewöhnen. Danach haben wir einige Dinge zu erledigen. Immerhin geht es um das Wohl der Firma. Wie ich dir bereits geschrieben habe, besaß dein Vater eines der größten Industrieunternehmen in der Gegend. Und genau darum dreht es sich bei dem Notartermin am kommenden Freitag. Bei der anstehenden Testamentseröffnung sollen die Besitzverhältnisse geklärt werden. Als seine Tochter hast du natürlich gewisse Ansprüche …“
„Nicht nur ich, sondern auch Anni, meine Schwester. Apropos, hast du sie erreichen können?“
„Leider nein. Magst du noch ein Stück von dem Rinderbraten?“
„Bitte Tante, ich habe dich etwas gefragt.“
Sie zögerte, deutete auf die Schüssel mit dem Rotkohl. „Es ist noch genug da, Kindchen.“
Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl. Wollte mir Tante Ingeborg etwas verheimlichen? Sie tat so, als würde sie überlegen. Schließlich schien sie eine passende Antwort gefunden zu haben.
„Unser Notar hat es versucht, genauso wie bei dir, aber er hat die Anni nicht gefunden. Sein Brief kam zurück mit dem Vermerk ‚Adresse unbekannt‘. Aber dass du selbst keinerlei Kontakt zu ihr hast?“
„Nein, schon all die Jahre nicht. Als ich aus dem Heim kam, habe ich in Wolfersdorf nach ihr gesucht. Aber von meiner Familie hat niemand mehr dort gewohnt. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist oder ob sie überhaupt noch lebt?“
„Eben drum. Somit wärst du die Alleinerbin …“
„… und genau davon möchte ich im Moment überhaupt nichts wissen, Tantchen.“
„Das verstehe ich sehr gut, Katharina, aber es ist unabdingbar, dass wir darüber reden. Früher oder später müssen wir uns um die Hinterlassenschaften deines Vaters kümmern. Ich habe einen Gedenkgottesdienst zu seinen Ehren eingeplant. Die Andacht könnte in der kleinen Kapelle des Stadtfriedhofes stattfinden. Außerdem denke ich, wir sollten ein Abendessen für die engeren Freunde deines Vaters geben, wobei auch die Direktoren der Firma geladen werden sollten, sowie einige wichtige Persönlichkeiten aus der Politik.“
„Damit kann ich leben. Obwohl, Politiker? Muss das wirklich sein?“
„So etwas nennt man gesellschaftliche Pflichten, Kindchen. Um die werden wir nicht herumkommen.“
„Wenn du meinst … Liegt sonst noch etwas an?“
„Nun, über die aktuellen geschäftlichen Dinge können wir zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Nachdem du die Herren der Werksleitung kennengelernt hast. Bist du damit einverstanden?“
„Grundsätzlich schon, aber ich möchte noch unbedingt hinaus nach Wolfersdorf. Nach alldem, was geschehen ist, bin ich sehr gespannt, wie es dort aussieht.“
„Kein Problem. Wir werden sehen, wie wir das zeitnah einbauen können.“
Ich strich mir nachdenklich die Haare nach hinten. Das Ganze nahm ganz andere Ausmaße an, als ich zunächst angenommen hatte.
Zwei Tage später fuhr ich nach Wolfersdorf. Ich tauchte in eine Zeit ab, die ich glaubte, längst vergessen zu haben, und meine Stimmung wurde genauso wie das Wetter – trist und grau.
Das schlossähnliche Gebäude war gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtet worden. An seiner verwitterten Fassade rankten mannshohe Schlingpflanzen in die Höhe. Entlang der hohen Natursteinmauer, die das große Grundstück umgab, verbreiteten Disteln und Philodendron einen bitteren Geruch. In der Mitte des verwilderten Gartens, zwischen der Mauer zur Straßenseite hin und dem wuchtigen grauen Bauwerk, stand eine uralte Eiche. Ihre Blätter bildeten einen mächtigen Schirm gegen Regen und zu viel Sonne. Auf dem festgetretenen Lehmboden verteilten sich vereinzelte Felsbrocken. Zwischen ihnen wuchsen Löwenzahn und farnartige Pflanzen. Dahinter bot ein kleiner Durchgang dem neugierigen Eindringling einen schnelleren Zutritt als das Hauptportal, das zusätzlich durch ein eisernes Tor gesichert war. Der alte Bau machte einen unheimlichen Eindruck. Von den einstmals vergitterten Fensterscheiben waren nur noch zwei intakt. Die Fensterbänke waren morsch und faulten vor sich hin. Die Haustür hing schräg aus den Angeln. Das Dach hatte zur Ostseite hin mehrere Löcher, sodass der Regen ungestört in den Innenraum strömen konnte. Er plätscherte auf die alten Holzdielen und hinterließ kleine hässliche Pfützen auf dem unebenen Untergrund. An anderen Stellen rann er weiter und bahnte sich seinen Weg über die Korridore bis hin zu den kleinen Zellen, in denen hier und da noch die Überreste verrosteter Bettgestelle standen. Sie stammten noch aus jener Zeit, als das Gebäude ein Heim für schwer erziehbare Kinder beherbergte. Das waren Kinder mit angeblichen Disziplinschwierigkeiten, oder solche, deren Eltern wegen versuchter Republikflucht und Staatshetze im Gefängnis saßen. Im Heim war alles streng reglementiert. Die Gruppe war alles, was zählte. Der Einzelne musste zurückstecken und seine Bedürfnisse hinten anstellen. Besonders schlimm erging es jenen Kindern, die eine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit verweigerten. Sie waren der