Anna Lohg

Am Rande. Eine Bemerkung


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saß auf der Bank mit einer pompösen Schleife im dünnen Haar. Das sah irgendwie ulkig aus und war dennoch nicht als Belustigung gedacht. Das pompöse Ding schien im steten Fall begriffen, wanderte wundersam entschleunigt im Laufe eines Tages von ganz oben bis hintunter zu einem Ohr, hing dann da und trotzte der Schwerkraft.

      In einem Akt unverhoffter Mütterlichkeit sollte Mia ihrer Tochter Sophie die Schleife ins Haar stecken. Während sie ihrem geliebten Sohn Paul herrlich aufwendige Uniformen nähte, ihn als Matrose verkleidete, zog sie ihrer Tochter hastig umgenähte Schürzen an. Und Strümpfe aus dicker Wolle, wegen denen sich das Kind unentwegt an den Beinen kratzte. Eines schönen Tages, niemand weiß warum, auch Mia nicht, als wäre ihr ein verirrter Blitz durch den Kopf geschossen, stand sie unvermittelt von ihrer Nähmaschine auf, ließ die halbfertige blaue Jacke für Paul liegen und eilte auf den Dachboden. Dort standen etliche große Truhen, voll mit ihren ausgefallenen Hüten und ihren prächtigen Kleidern, die sie längst nicht mehr anzog. Eine Truhe nach der anderen öffnend, suchte sie darin nach einem ganz bestimmten Stück Stoff, noch von vor dem Krieg, aus den vergangenen, heiteren Zeiten ihres Lebens. Ein übrig gebliebener Rest blau, weiß gepunkteter Stoff, aus dem sie sich ihr erstes Kleid genäht hatte. Sie sollte finden, wonach sie suchte, irgendwo ganz tief unten. Hier kramte sie auch nach einer alten Spange für die Haare. Zurück an der Nähmaschine machte sie aus dem Rest eine ominöse Schleife, mit der sie sodann die Spange verzierte. Nach dem letzten Handgriff ging sie mit dem Ding nach unten in den Garten und steckte es Sophie ins noch dünne Haar. Mitten auf den Kopf. Auf dem Absatz drehte sie sich um und verschwand, wie sie gekommen war, wieder im Haus.

      Jeden Tag, früh am Morgen, nachdem sie das Kind gefüttert und angezogen hatte, brachte sie es raus in den Garten und setzte es auf dieser hölzernen Bank ab. Das sollte vollauf genügen. Die Beine reichten der Kleinen nicht bis zum Boden und also blieb Sophie dort sitzen, betrachtete ungerührt den Garten, stundenlang. Das war ihre ganze Welt, die sowieso immer nur ein Ausschnitt ist. Wobei dieser eingeschränkte Ausblick von der Bank aus gesehen noch ungemein unterhaltsam ausfiel, denn es war ein schier unglaublich belebter Garten, voller zwitschernder Vögel, krabbelndem, surrendem, raschelndem, noch nicht ausgestrobenem Getier, Schlangen, Schleichen, Echsen. An dem Garten, drüben auf der Straße, fuhr ganz manchmal laut ratternd ein Auto vorbei, öfter noch ein klackernder Pferdewagen, allerdings kaum sichtbar wegen den hohen Hecken und den Bäumen, von denen bisweilen polternd Obst runter fiel.

      Der alte Mann neben Sophie auf der Bank war geradeso in aufmerksamer Betrachtung versunken. Dort saß auch er den lieben langen Tag in einer ausgedienten Postuniform von Edmund und rauchte Pfeife. Ob es regnete oder schneite, im Haus wurde seine Pfeife nicht geduldet. Der Rauch würde ungeheuerlich stinken, in jeden Winkel, jede Ritze eindringen. Oft genug verbrannte er gar keinen Tabak, sondern stopfte seine Pfeife mit anderweitigem Grünzeug, er hatte schon alles mögliche probiert, Eichenlaub, Kohlblätter, Unkraut. Im Garten wurde ihm ein kleines Fleckchen zugestanden, für seine Tabakpflanzen, aber die Ernte war selten gut. Deshalb, wenn es mal wieder eigenartig roch, kaufte Edmund ihm eine Dose Tabak und stellte sie unter die Bank. Sehr viel mehr schien er nicht zu brauchen, sowieso hatte er sein halbes Leben anspruchslos im Wald verbracht.

      Nach der Beerdigung seiner Schwägerin, Edmunds Mutter, war er in dem Haus geblieben, niemand hatte ihn darum gebeten, er hatte nicht danach gefragt, letztlich war es auch sein Elternhaus. Von jetzt an schlief er in dem Bett seiner Schwägerin, er wäre zu alt, um weiterhin alleine im Wald zu hausen. Seit seine Ziege Wilhelmina gestorben war, fühlte er sich tatsächlich alt, weil ihm danach die Einsamkeit so schwer wog. Trotzdem wollte er nach Wilhelmina keine andere Ziege, denn manchmal lässt sich selbst ein alter, häßlicher Ziegenbock nicht ersetzen.

      Hin und wieder aß er mit am Tisch, bei seinem Neffen Edmund, gar niemals unten in der Küche bei Erwin, seinem anderen Neffen. Er mochte Erwin nicht, das war so einer, als hätte er einen ausufernden Futterneid, der stets die größten Portionen für sich einforderte. Erwins Ehefrau Edit mochte er dagegen sehr, sie hatte ihm die Haare gewaschen und geschnitten, seinen langen Bart mäßig gestutzt, als er zur Beerdigung gekommen war, aus dem Wald. Edit war im Vergleich zu Mia sehr fürsorglich. Indes wollte er grundsätzlich niemandem zur Last fallen, daher aß er meist alleine in seinem Zimmer, hielt den Teller auf seinem Schoß und saß auf dem kurzen Holzbett seiner toten Schwägerin. Mias Essen, das schmale Zimmer und die Bank im Garten, von mehr konnte ein alter Mann nicht träumen. Als Mia dann ihr zweites lebensfähiges Kind gebar, neun Monate nach der Heimkehr von Edmund, setzte sie das Mädchen, sobald möglich, neben ihn auf die Bank. Sophie erinnerte ihn an Wilhelmina, obschon das Kind irgendwann anfing zu sprechen.

      "Opa.", sollte sie eines Tages sagen, als sie es endlich auf die Bank geschafft hatte und wie immer darauf wartete, er möge ihr die vermaledeit picksigen Strümpfe ausziehen. "Opa.", sie strahlte ihn erwartungsvoll an. Lange bevor sie Mama sagte oder Papa, sollte Sophie ihren Großonkel Opa nennen. Ihm wäre fast die Pfeife aus der Hand gefallen, als hätte eine Ziege sprechen gelernt, blieb es ein Geheimnis, wer Sophie gesagt hatte, der bärtige, alte Mann auf der Bank wäre ihr Opa. Im ersten Moment musste er um Worte ringen, ohnehin hatte er nur mit Wilhelmina viel geredet, aber der Opa sollte alsbald sehr viel sprechen und seiner unverhofften Enkelin ausführlichst die ganze Welt im Garten erklären. Mit dem langhaarigen Mann aus dem Wald an ihrer Seite erlernte Sophie die Sprache, dürfte er ihre Weltanschauung erheblich geprägt haben.

      Sobald Sophie sicher auf ihren Füßen stand, machte sie in diesem wunderbaren, vielfältigen Garten, voll von Würmern, Spinnen und Käfern, ihre allererste wegweisende Entdeckung, reicht oft genug ein Ausschnitt, um die ganze Welt zu verstehen.

      "Opa." Wie angewurzelt stand sie auf einem kleinen Stück Wiese und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit. "Wenn ich jetzt einen Schritt gehe, guck mal", sie verlieh ihren Worten Anschaulichkeit, "dann trete ich auf Ameisen. Ich mache auch Spinnen tot." Sie schüttelte heftig den Kopf. "Ich will das aber gar nicht." Ihr war es fürchterlich, indes er bloß nickte, wissend, dass der Mensch unweigerlich alles mit Füßen tritt, während sie, entsetzt von ihrer Entdeckung, vorerst lieber sitzen blieb. Sie säße wohl noch heute auf dieser Bank, wenn es ihre einzige Einsicht geblieben wäre, indes die wachsende Erfahrung scheinbar zur Abstumpfung führt, weil Sophie schon bald wieder über das Gras hüpfte, wenngleich sie dabei die Ameisen kaum vergessen konnte. Mit einem begrenzten Wortschatz war sie zu einer Erkenntnis gelangt, die ihr beständig bleiben sollte, wie eine Warnung, dass die Grausamkeit selbst mit unbedachten Schritten daher kommen konnte.

      Diese Strümpfe aus der Wolle die ihre Großmutter am Rad gesponnen und ihre Mutter verstrickt hatte, so unerträglich kratzig, die konnte sie alsbald selbst ausziehen, bloß wenn die Wintertage erbarmungslos kalt ausfielen, hielt sie notgedrungen aus. Um sich der Strümpfe zu entledigen, brauchte sie ihren Großvater längst nicht mehr, aber sonst noch für alles andere. Er war ihr ein verlässlicher Anker, dort auf der Bank, zu dem sie stets zurückkehrte, während er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Ihm erzählte sie, wofür sich sonst niemand interessierte. Und an einem dieser eisigen Tage im Winter, an dem ihr die Beine fürchterlich juckten, saß er nicht mehr da, auf seinem unverrückbaren Platz. Er hatte das letzte Mal an seiner Pfeife gezogen und sie würde den Rauch schrecklich vermissen.

      Daran gab es nichts zu ändern, der Großvater blieb unwiederbringlich und so war für Sophie die Zeit gekommen, den Garten zu verlassen und sich das Haus, den Rest der Familie eingehender anzuschauen. Sonderlich erbaulich sollte das nicht ausfallen. Der untere Teil des Hauses wurde vollständig von ihrem Onkel Erwin belegt, ein übelgelauntes Tier, dem möglichst jeder aus dem Weg ging, auch ihre Tante Edit, die sich wie ein Schatten bewegte. Oben fand Sophie ihre Mutter, die sich eigentlich um gar nichts kümmerte, entweder am Herd stand, im Keller am Wäschetrog hantierte oder an der Nähmaschine saß, meist ihrem Bruder eine Uniform nähte. Der wiederum war regelrecht unerfreulich, ihr Bruder, ein abscheulicher Matrose, der nun obendrein in dem verwaisten Bett ihres Großvaters schlafen durfte. Immerhin musste sich sie nicht mehr das Zimmer mit ihm teilen, in dem auch ihre Eltern schliefen. Es verblieb einzig ihr Vater, der sogar ein wenig Ähnlichkeit mit ihrem toten Opa hatte. Wenn er nachmittags nach Hause kam, in seinen blauen Sachen, mit dem Posthorn auf den goldenen Knöpfen, dann sah er fast so aus wie ihr Opa. Wie zum Ersatz vergab Sophie fortan ihre ungeteilte Aufmerksamkeit an Edmund und er kam unverhofft zu einer Tochter.