Werner Koschan

Ganz für sich allein


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sagen. Ich bin seit Stunden nicht weit vom Altmarkt weg gewesen. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Glück, der Weg wird beschwerlich werden, kann ich mir vorstellen.«

      »Das nehme ich gerne in Kauf und ich wünsche Ihnen noch viel mehr Glück.« Sie blickte nochmals auf meinen Stern. »Ist schon eine Riesenschande. Trotzdem würde ich mich an Ihrer Stelle mehr in Richtung Ausgang postieren. Die Kerle da unten sind unberechenbar. Leben Sie wohl, wenn Sie können. Und geben Sie Acht auf sich!« Mit diesen Worten hastet sie an mir vorbei aus der Bank.

      Genau genommen hat sie ja recht und ich sollte mich wirklich näher zum Ausgang begeben. Und wenn hier drin jemand mit einer Waffe auftaucht, werde ich sofort verschwinden. Ich erreiche die Tür, die zur Straße führt und hocke mich auf den Boden. Sollte jemand kommen, wäre ich mit einem Satz draußen. Ich muss erst einmal in Ruhe nachdenken. Was um mich herum in der Stadt geschieht, geht völlig über meine Vorstellungskraft. Alles was sich abseits meiner unmittelbaren Umgebung abspielt, ist geradezu bedeutungslos. Was mache ich nun mit Carolas eindringlicher Forderung, nicht wegzulaufen?

      Wenn es mich in der Bank nicht trifft, geht es am Freitag sowieso ins Gas, sofern Meister Ehrhardt recht behält. Wer sagt denn, dass seine Vermutung überhaupt noch stimmt? Braucht es jetzt nicht jeden Mann, um die Zerstörungen in Grenzen zu halten? Jude oder nicht. Wer sagt denn, dass weiterhin an diesen unsinnigen Ideologien festgehalten wird? Sind die Behörden morgen früh nicht sogar froh darüber, wenn zwei Hände mehr mit anfassen?

      Vielleicht hat Carola das ja gemeint mit ihrer Forderung, nicht wegzulaufen? Ja, bestimmt sogar. Das ist schließlich meine Stadt, meine Heimat; ich kann unmöglich einfach abhauen. Unsere wunderschöne Wohnung, mein geliebter Erker, unsere wenigen noch verbliebenen Freunde. Nein, nein, ich bin sicher, dass ich hier gebraucht werde.

      Außerdem, wohin sollten wir denn? Zumal ohne Reiseerlaubnis. Wäre schon schwierig genug, aus Dresden grundsätzlich herauszukommen. Nehmen wir mal an, ich fände Carola und wir schafften es zu Fuß aus Dresden heraus, wie würde es weitergehen? Wohin dann? Zu den Russen? Nein danke! Auch wenn ich der Gräuelpropaganda nicht glaube, ein Zuckerschlecken wird es bei denen bestimmt nicht. Weshalb sollten die Russen ausgerechnet uns glauben, dass wir selbst Opfer sind? Ja Pustekuchen, so wie ich uns Deutsche kenne, sind wir sowieso in null Komma nichts kollektiv millionenfache arme Opfer. Junge, Junge, werden die Kirchen wieder mal Zulauf bekommen von uns armen Opfern, die wir dann massenweise um Vergebung betteln werden und natürlich inniglich beten. Beten würde ich gern, ob es aber gelingen wird, in Dresden zehn männliche Juden für einen Gottesdienst aufzutreiben, ich wäre dann der elfte, halte ich für wenig wahrscheinlich. Ich schaue hinaus auf die brennende Stadt und spüre ganz genau, das hier wird man uns Juden garantiert ebenfalls in die Schuhe schieben, so wie wir ja schließlich an allem schuld sind, was irgendwie schiefläuft. Nicht zuletzt haben wir Juden ja Jesus gekreuzigt - welch ein Quatsch, das haben die Römer erledigt. »Ach Carola, ich irre wieder mal ab und spreche mit dir, wo du doch gar nicht da bist.«

      In Gedanken versunken blicke ich zur König-Johann-Straße hinaus. Ein brennender Holzbalken fällt vor dem Bankgebäude zu Boden, hüpft auf beide Enden und bleibt dann brennend liegen. Der muss vom Dach kommen. Demnach hat es über mir zu brennen begonnen. Ich muss demnächst besser verschwinden. Schade, ich hatte mich hier ganz sicher gefühlt.

      Vor dem brennenden Balken bleibt ein Mann stehen, der einen stabilen Koffer absetzt und tief durchatmet. Er reckt sich kurz und greift erneut zum Koffer, als ihn ein weiterer herabfallender Balken mit einem Ende im Rücken trifft. Der Mann sackt lautlos in sich zusammen.

      Den armen Kerl kann ich nicht so einfach da draußen liegen lassen, die Flammen züngeln schon nach seinem Hut. Ich schiebe mich vorsichtig ins Freie, krieche zu ihm hin und schaue prüfend die Fassade empor. Das Dachgeschoss brennt tatsächlich lichterloh. Auch aus den Fenstern der obersten Etage schlagen bereits leckende Flammen.

      Ich greife den Mann mit beiden Händen am Mantelkragen und zerre ihn mühsam durch die Tür in die Bank. Er rührt sich nicht. Ich versetze ihm ein paar sanfte Ohrfeigen. Dann öffnet er endlich die Augen und blickt mich stumm an.

      »Können Sie mich verstehen?«, frage ich ihn überlaut.

      Er schluckt ein paarmal und bewegt bestätigend den Kopf. »Der Koffer«, sagt er.

      »Was ist mit dem Koffer?«

      »Wo ist mein Koffer?«

      »Draußen, was denken Sie denn? Es war ohnehin schwierig genug, Sie hier hereinzuzerren.«

      Er versucht den Oberkörper aufzurichten und stützt sich rücklings auf die Ellenbogen. »Verflucht, ich kann meine Beine nicht bewegen. Ich spüre meine Füße gar nicht. Was hat mich denn da umgehauen?«

      »Sie haben einen Dachbalken abbekommen.«

      »Ja, genauso fühle ich mich. Ich kann mich wirklich nicht bewegen, sonst würde ich meinen Koffer ja selbst reinholen. Würden Sie mir einen Gefallen tun und das für mich erledigen?«

      Na, der hat vielleicht Nerven, denke ich und spähe trotzdem aus der Tür. Immer noch fallen irgendwelche brennenden Gegenstände herab, und da soll ich raus, wegen so einem Sch... Koffer? »Draußen ist die Hölle los, lieber Mann.«

      »Ich bin nicht Liebermann, nur der Koffer ist wichtig. Ungemein wichtig! Bitte. Ich bezahle Ihnen, was Sie wollen!«

      »Unfug, ich will kein Geld, aber da draußen ...«

      »Bitte!«

      Ich spähe nach oben, im Augenblick ist es ruhig. Also mache ich den Satz zum Koffer hin, ergreife ihn, ziehe ihn ins Gebäude und lege ihn so neben den Mann, dass er mit der Hand an den Griff kommt. Hoffentlich ist er nun zufrieden, denn nochmals möchte ich nicht hinaus, weil in diesem Augenblick heftige Einschläge den Boden erzittern lassen. Zahllose Detonationen durchbrechen das monotone Brummen der Flugzeugmotoren. Der Wahnsinn scheint längst nicht vorbei zu sein.

      Der Mann trommelt mit einer Faust auf seine Oberschenkel. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Ich spüre nicht das Geringste. Ist doch zu blöd.«

      »Das gibt sich bestimmt gleich wieder«, beruhige ich ihn. »Die Flucherei nützt ja auch nichts.«

      Nun hält er die Augen geschlossen und flüstert so leise, dass ich kein Wort verstehen kann. »Wie bitte?«, frage ich.

      Er winkt ab. »Scheiße, ich komm nicht mal richtig an den Koffer ran. Können Sie das Mistding bitte öffnen?«

      Ach, auf einmal ist das ein Mistding, gerade hat er mich dafür vor die Tür gescheucht. Aber bitte schön, ich habe heut meinen sozialen Tag. Ich öffne den Koffer und schiebe ihn so zu dem Mann hin, dass er hineingreifen kann. Er hantiert kurz in dem Koffer, lässt dann den Deckel völlig aufklappen und schaut mich an. »Nicht mal das geht noch. Tun Sie mir einen Gefallen und geben mir etwas zu trinken, ja?«

      »Ja.« Als ich in den Koffer blicke, muss ich nicht schlecht staunen. Neben einer Reihe Rollen, die fein säuberlich in Papier gewickelt darin liegen, entdecke ich einige alte Bücher, die wie Bibeln aussehen, sowie zwei Flaschen Cognac Napoléon und eine Reihe ineinandergesteckte Goldbecher. Eine der beiden Flaschen scheint angebrochen. Ich nehme sie heraus und zeige sie dem Mann. Er nickt. Ich ziehe den bereits gelösten Korken und reiche ihm die Flasche und einen der Goldbecher. Er gießt den Becher randvoll mit der würzig duftenden goldgelben Flüssigkeit. Auf einen Zug kippt er den Cognac und atmet kräftig durch den Mund aus. »Wollen Sie auch einen?«

      »Nein, ich vertrage keinen Schnaps.«

      »Das ist kein Schnaps! Was sind Sie denn für ein drolliger Vogel. Na dann, zum Wohl.« Noch solch einen Becher voll kippt er und hämmert dann mit dem leeren Becher auf einen seiner Oberschenkel. »Na, das war’s dann wohl.«

      »Haben Sie genug?«, frage ich. »Soll ich die Flasche wieder einräumen?«

      »Nee, nee, das lassen Sie mal schön bleiben.«

      »Meinetwegen, aber wie kriegen wir Sie jetzt auf die Beine?«, frage ich. »Wir sollten schnellstens verschwinden.«

      Er hält die Augen