nicht, von wem sie sprach. Und kurze Zeit später musste er das Haus verlassen haben, denn sie sah ihn nicht mehr. Dafür kam endlich ihre beste Freundin auf sie zugeeilt.
»Charlie! Es ist so schön, dich zu sehen. Hat dich dein Mann also doch weggehen lassen! Oder war es schwierig?«
Marie lachte bei den Worten, aber sie drückte ihre Freundin ganz fest. Wie lange hatte sie sie nicht gesehen …? Zu lange! Neben ihren Eltern war Charlie der einzige Mensch, den sie all die Jahre in der Fremde vermisst hatte.
»Oh Marie, es tut mir leid, dass ich letzte Woche nicht zum Flughafen kommen konnte und mich noch gar nicht hab blicken lassen. Aber Leo zahnt, ich konnte ihn einfach nicht weggeben, ohne dass er in Tränen ausgebrochen wäre. Heute geht’s viel besser. Bernd kommt also alleine klar.«
Charlotte lachte und sah dabei unheimlich glücklich aus, wie Marie ein wenig neidisch feststellte. Da lebte sie jahrelang in Paris, machte Studienreisen in den tollsten Hotels in Kairo und Amman, und ihre Freundin Charlie hatte im kleinen Baden-Baden ihr Glück gefunden! Wenn sie sich Charlie so ansah, beschlich sie der Gedanke, sie könne etwas Entscheidendes in ihrem Leben verpasst haben, indem sie es scheinbar in vollen Zügen genoss. Wirkte nicht auch ihre Mutter ausgeglichen? Marie kam ins Grübeln. Nie hatte sie so eine Akademikerin werden wollen, die sich häuslich niederließ und nur noch der Erziehung der Kinder widmete, sobald ein Mann daherkam. Sie erinnerte sich des blöden Spruchs den ihr Professor ihr einmal mitgegeben hatte: ›Sie studieren doch auch nur, um einen passenden Mann zu finden. Warum sollte ich meine Energie darauf verschwenden, Sie zu fördern?‹ – Wie weit hatte sie das von sich gewiesen, und plötzlich … Ärgerlich schob sie die aufkeimende Sehnsucht von sich. Sie freute sich für Charlie und basta!
»Macht doch nichts, Hauptsache, heute bist du da. Wie alt ist euer Leo denn inzwischen? Das letzte Mal an Weihnachten war er noch so winzig!«
»Übernächste Woche wird er ein Jahr alt. Aber du kommst uns doch vorher besuchen, oder nicht? Am besten gleich morgen! Aber jetzt erzähl, wie war es denn noch in Paris?«
»Das letzte Semester mussten wir ganz schön büffeln, und ich hatte kaum noch Zeit, zu meinem Lieblingsplatz an der Seine zu gehen, aber es war schon toll dort. Erinnerst du dich noch an den Moment, wenn die Lichter am Eiffelturm angehen?«
Der Gedanke an diesen wunderschönen Anblick weckte in Marie Heimweh nach Paris, der Stadt, in der sie so viele Semester studiert hatte.
»Natürlich, es war immer ein magischer Moment.« Sie seufzte. »Was habe ich dich all die Jahre beneidet um dein Studium in dieser spannenden Stadt!«
Beinahe hätte Marie laut aufgelacht. Da waren sie beide ihrem Traum gefolgt und doch neidisch auf das Glück der anderen. Sie selbst hatte sich schon früh für ein Studium der Altertumswissenschaft entschieden, während Charlie ihr eigenes kleines Modeatelier eröffnet hatte. »Wenn wir damals gewusst hätten, dass du bald ein Kind bekommst, hätten wir mehr Besuche für dich eingeplant. Apropos planen, meine Mutter schaut dauernd zu mir rüber, ich glaube, ich muss ein paar Hände schütteln gehen. Morgen komme ich dich besuchen, und dann reden wir in Ruhe.«
»Halt, Marie!« Charlotte hielt sie am Arm fest und zog sie in eine feste Umarmung. »Ganz vergessen: happy birthday, liebste Lieblingsfreundin!«
»Danke, Charlie. Und du, geh mal zu meinem Vater, der will dich schon lange über Bernds Praxis ausfragen, vor allem natürlich über die Brücken, die er immer zaubert. Paps hat doch so Zahnprobleme und sucht einen neuen Zahnarzt. Und hol dir was vom Buffet! Die Häppchen sind der Hammer. Und der Weißwein erst …« Nach diesen Worten gesellte sich Marie zu ihrer Mutter, die sie warm anlächelte.
Maries Vater, der offensichtlich nur auf den Moment gewartet hatte, da sie als Familie nebeneinanderstanden, klopfte ans Glas und brachte damit die Gäste zum Verstummen. Er blickte in die Runde, erhob sein Glas und sprach: »Schön, dass ihr alle gekommen seid, um mit uns zusammen auf Marie anzustoßen! Unsere wunderschöne Tochter, die endlich wieder bei uns ist, nachdem sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hat, und die heute Geburtstag hat. Wir sind sehr stolz auf dich. Erheben wir unser Glas auf Marie!« Er lächelte sie an.
Die Gäste klatschten und riefen ihr Glückwünsche zu.
Marie bedankte sich bei ihren Eltern und wollte gerade ein paar neue Gäste begrüßen, als ihre Mutter sie aufhielt. »Marie, meine Liebe, spiel uns doch bitte das Stück vor, das du in den letzten Tagen so häufig geübt hast. Es würde wundervoll passen, findest du nicht?«
»Auf keinen Fall, Mama, ich bin doch kein Zirkuspferd!«
»Ach, Marie, mir zuliebe.« Dabei schaute ihre Mutter sie mit so sanftem und bittendem Blick an, dass sie ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.
Marie setze sich ans Klavier. Nach und nach verstummten die Stimmen im Raum, und als bis auf erwartungsvolles Füßescharren nichts mehr zu hören war, setzten sich ihre Finger wie von selbst in Bewegung und ließen das Lied erklingen, das ihr seit Tagen nicht aus dem Kopf ging. Seit sie die Musik das erste Mal vernommen hatte, ließ diese eine Saite in ihrem Herzen vibrieren. Heartbeat hieß die Melodie so treffend, die eine Sehnsucht in ihr ausgelöst hatte, die Sehnsucht nach der großen Liebe, die sie vervollständigen würde, anders als die Liebschaften, die sie bisher gehabt hatte – auch wenn sie es vor ihrer Mutter und sich selbst nicht zugeben wollte.
Sie verlor sich in ihren Träumen und spielte wie in Trance, bis das Lied verklang. Der Applaus holte sie in die Realität zurück, und fast schüchtern wandte sie sich ab, noch ganz gefangen vom Zauber der Töne. Wie von fern sah sie einen späten Gast eintreffen.
»Liebes, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Ihr Vater kam mit dem gut aussehenden Mann auf sie zu.
Schon von Weitem fielen ihr seine Augen auf, fast wie die eines Wolfes. Als er sie ansprach, hatte auch sein Blick etwas Raubtierhaftes. »Endlich lerne ich Sie kennen, Ihr Vater hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«
Seine rauchig-kehlige Stimme bereitete Marie Unbehagen und überzog ihre Haut zugleich mit einem wohligen Schauer. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.
»Alexander, du kannst meine Tochter doch duzen«, fiel ihr Vater dem Mann ins Wort, dann ließ er die beiden mit einem letzten wohlwollenden Blick allein.
»Alles Gute zum Geburtstag, Marie! Übrigens, ein interessantes Klavierstück hast du gespielt. Kenne ich gar nicht, und das will was heißen.« Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, aber seine Augen blickten seltsam ernst, fast angespannt.
Sie wusste nicht, was genau es war, aber etwas Gefährliches ging von diesem Mann aus. Er trug seinen Smoking, als wäre es sein liebstes Kleidungsstück. Auf eine Fliege hatte er verzichtet, und die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes standen offen, was ihm erst recht einen verwegenen Ausdruck gab. Gebräunte, glatte Haut blitzte unter seinem Hals hervor. Er sah gut aus, keine Frage, aber etwas Selbstverliebtes ging von ihm aus, und das nervte sie, reizte zum Widerstand.
»Heartbeat – Herzschlag, aber Sie…«
»Du!«, fiel ihr Alexander ins Wort, während er sich durch das dichte schwarze Haar strich.
»…wirken nicht, als ob Ihr Herz jemals aus dem Takt geriete«, vollendete Marie unbeirrt ihren Satz.
»Manchmal schon.« Er nahm ihre Hand, hauchte einen Kuss darauf, schenkte ihr noch einen dieser unergründlichen Blicke und gesellte sich dann zu den anderen.
Wie sollte sie denn das jetzt verstehen? Ließ sie einfach stehen wie ein unartiges Kind! Irritiert ging sie zu ihrer Mutter und plauderte den restlichen Abend mit verschiedenen Gästen. Charlie war leider schon gegangen, aber sie würde sie ja morgen wiedersehen.
Die meisten Männer bemühten sich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihr zu gefallen, nur dieser Alexander schien sich nach dem anfänglichen verbalen Schlagabtausch nicht um sie zu kümmern. Marie bemerkte wohl, dass er von den weiblichen Gästen angeschmachtet wurde. Er flirtete mit allen und schien ihr Interesse zu genießen. So ein Playboy kann mir gestohlen bleiben, dachte Marie und diskutierte umso lebhafter mit ihrem aktuellen Gesprächspartner, der zwar ganz nett war,