Ulrike Melzer

Filme fahren


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verändert hatte, mich wieder offener und lebendiger gemacht hatte.

      Ein Traum. Können Träume so wirken, einzelne Momente?

      Ich sitze also vor dem Spiegel im Bad in der Wohnung in der Berliner Kastanienallee,

      doch ich weiß nicht, wie ich da hingekommen bin.

      Ich sitze da den ganzen Vormittag, Mittag.

      Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Die Bilder haben die Gedanken in meinem Kopf verdrängt. Die Gedanken, die dann zu Worten werden und deshalb kann ich jetzt nicht reden. Ich habe meine Erinnerung verloren. Sorry Milosch, gleich wirst du kommen und mich holen, du wirst wütend sein und du hast recht. aber noch weiß ich nicht, wie ich in diesem Zustand überhaupt etwas normal Menschliches tun soll. zum Beispiel reden, zum Beispiel denken, zum Beispiel handeln.

      „Mann, ey, wo steckst du denn, du hast alles verpasst, jetzt komm wenigstens mit zu dem Fuck-Ausflug!"

      Heute ist der große Familientag, Christoph hat sich das ausgedacht: Einmal im Jahr wird Familie gespielt. Miloschs Onkel Herrmann wird eingeladen, seine Tante und unzählige Cousinen. Für Milosch ist das der schlimmste Tag im Jahr. Er weiß nicht, was er mit den Cousinen reden soll, Onkel Herrmann ist in Ordnung, aber Christoph schweigt und vergiftet die Atmosphäre mit seiner eisigen Art. Es ist das typisch verkrampfte Familienfeiergefühl und er hasst es.

      Heute braucht er uns, Karen hat abgesagt, weil Jasper mal wieder kurzfristig all ihre Pläne durcheinander geworfen hat, doch ich bin auch nicht besser: Starre nur geistesabwesend in den Spiegel und schneide meine Haare kürzer.

      „Echt mal, ey gehts noch, haste nichts Besseres zu tun? Los, jetzt komm!"

      Mir ist schlecht, ich gehe langsam, bin dann aber in diesem überwachen und extrem ruhigen Zustand, der mich manchmal bei übergroßer Nervosität überfällt. Wir steigen ein, ich quetsche mich zu den Cousinen auf den Rücksitz. Die beiden reden und nehmen mich gar nicht wahr. „Können wir nicht Wladi mitnehmen?" fragt Milosch.

      „Ja, ok", Christoph ist in nostalgischer Stimmung, will sich an die alten Zeiten erinnern. Doch die Gebrüder Goretzki, wie Christoph sie nennt, wollen nichts davon wissen: Wladi muss arbeiten, Niko kann doch mitkommen, der hat ja Zeit. Niko versucht alles um sich zu drücken, doch schließlich ist er der beste Freund von Christoph, der Milosch unbedingt zeigen möchte, wie beliebt er damals war in der Gemeinde - und um das bestätigen zu lassen, braucht er Niko. Doch der macht heute keinen guten Job: Er versteckt seine Augenringe hinter eine Sonnenbrille, so wie ich. Wir gähnen, wir reden nicht.

      „Na, haste gestern noch durchgefeiert?" Christoph haut ihm kumpelig auf die Schultern, der zuckt kurz zusammen. Nicht reden, denke ich, das wird das Beste sein. Und es ist tatsächlich das Beste. Ich kriege nur halb mit, was geschieht, wieder ist es unwirklich wie in einem Traum, stolpern durch die Stadt, Berlin Mitte, für Christoph das einzig wahre Berlin. „Hier haben wir uns immer getroffen, im Café an der Ecke. “

      Wir trinken süße, heiße Schokolade, lauschen Christophs Monologen. Er erzählt von all den Reisen, die er seit der Wende schon gemacht hat: Barcelona, Lissabon, Rom, Paris. „Wollen wir shoppen gehen?"

      fragt mich Sarah, eine Cousine. Warum nicht, ich laufe einfach mit ihnen mit, sie reden aufgeregt über irgendwas und beachten mich gar nicht. Gegen Abend fahren wir zum Gartenhaus in den Grunewald, wo Ute schon ein tolles Essen vorbereitet hat, Vincent wird da sein, mit seiner Freundin Simone. Niko hat sich längst verabschiedet, ich steh das nicht mehr durch ohne Mr. Brown, sage ich zu Milosch, also halten wir an der Aral, und zurück im Auto fängt Milosch ganz unvermittelt an zu reden. „Sag mal, wer ist dieser Niko eigentlich?"

      Christoph starrt genauso ausdruckslos durch die Scheibe wie er es die ganze Zeit getan hat. „Also wirklich Junge, ihr müsstet euch doch kennen! Er war doch ständig bei uns mit seiner Frau Marion und den Kindern."

      „Muss ich wohl nicht da gewesen sein."

      „Warst du ja fast nie. Aber bei Walter bist du ihm sicher mal über den Weg gelaufen. Er ist doch sein Bruder."

      „Ab und zu, aber der sagt ja nie was. Komischer Typ."

      „Naja, wir kennen uns schon seit dem Studium. Ich hab ihn immer für sein Wissen bewundert. Er war besser als wir alle - dass ausgerechnet er keinen Beruf hat, hätte niemand gedacht."

      „Er sah irgendwie übernächtigt aus. Und warum war seine Frau nicht dabei?"

      „Ach, die haben gerade so ne Art Beziehungspause. Sie ist schon seit einigen Wochen allein im Urlaub mit den Kindern."

      Ich dachte an eine andere Zeit, lange her, in einem anderen Leben.

      Ostsee, Strandhaus, Christoph und Ute nebenan. Ein seltsamer dunkelhaariger Junge, der ab und zu auftaucht, mir das Rauchen beibringt, Eva und ich, die am Strand sitzen und stundenlang über das Leben und die Liebe philosophieren, als wüssten wir etwas davon.

      „Weißt du noch, letzten Sommer?"

      „Was?“

      „Da haben wir uns zum ersten Mal gesehen!“

      „Das warst du?“

      „Ja, ist mir auch jetzt erst aufgefallen - du hast mir das Rauchen beigebracht, aber du warst noch so jung.“

      „Sechzehn. Kommt mir auch vor, als wär´s in ner anderen Zeit gewesen. Das war aber genau vor einem Jahr, 14. Juli.“

      14. Juli, damals hatte Eva Angst gehabt schwanger zu sein. Da meine Periode immer pünktlich begann, hatte ich einen Tampon dabei, als Eva dann doch noch feststellte, dass sie doch nicht schwanger war.

      Immer pünktlich.

      Bis heute.

      Sollten sie mich doch holen. Ich lebte jetzt schon in der Vergangenheit, in Erinnerungen.

      Also feierte ich meine letzte Nacht in Berlin mit Karen und Milosch. Sie waren überzeugt davon mich wiederzusehen. Doch wir sprachen nicht von der Zukunft oder von Plänen.

      Wir zogen durch Berlin, von Club zu Club, von Bar zu Bar und lernten Leute kennen.

      Nur Freude, und Zeit spielte keine Rolle mehr.

      Bis meine Eltern vor mir standen. „Komm steig ein“, sagte mein Vater.

      „Es tut mir leid“, sagte ich.

      „Wir sind nicht böse auf dich“, meine Mutter lächelte.

      „Mensch, wir waren doch auch mal jung“, sagte mein Vater.

      „Aber die Schule geht in einer Woche wieder los.“

      „Wir überlegen gemeinsam, wie es weitergeht, Ok?“

      Sie verstanden nicht, dass alles in Ordnung war, dass es nichts zu entscheiden gab, dass ich keine Probleme hatte und deswegen abgehauen war. Aber ich hatte keine Lust es ihnen zu erklären. Abschiedsschmerz gab es für mich nicht mehr. Grenzen, oder Anfang und Ende wusste ich jetzt, sind nur Illusionen. Wenn es sein soll, komme ich wieder.

      chillout - Kapitel 1

      Ich bin hellwach, mitten in der Nacht. Ich habe geträumt, doch es war zu real für einen Traum.

      Seit einigen Nächten habe ich das, dieses Gefühl, als würde mich jemand an den Schultern packen und wachrütteln.

      Wach endlich auf, sagt diese Stimme. Es ist eigentlich ganz schön, wieder in Erfurt zu sein.

      Deine Eltern, die für dich sorgen, die fast stolz auf dich sind, weil du dich in Berlin

      so gut durchgeschlagen hast.

      Abends haben sie oft Bekannte zu Besuch, die du alle gut kennst und magst.

      Ihr trinkt Rotwein und hört Irish Folk. Nur manchmal zuckst du kurz zusammen,

      weil du gedacht hast, einer der Gäste wäre Niko.

      Natürlich bist