Eberhard Schiel

Herszel Grynszpan


Скачать книгу

Namen, Herszel Grynszpan, und als Nagorka das vermeintliche Dokument zur Weiterleitung an sich nehmen will, verweigert Grynszpan die Herausgabe mit dem Hinweis, es handle sich um ein wichtiges Papier, das er auf gar keinen Fall in fremde Hände geben könne, wobei man ohnehin darüber auch noch einige Worte im Beisein des “Sekretärs” anmerken müsse. Nagorka kapituliert. Er verständigt den zu jenem Zeitpunkt einzigen anwesenden Beamten höheren Ranges, den Legationsrat Ernst vom Rath, fragt ihn, ob er bereit sei Herszel Grynszpan zu empfangen. Es sei noch einmal wiederholt: Der Besucher hatte kein Formular ausgefüllt. Bei vom Rath spielt dieser Umstand offenbar an diesem Tag ausnahmsweise keine Rolle. So nimmt das Schicksal dann seinen Lauf. Der kleine Attentäter, er misst ganze 1,54 m, wie spätere Untersuchungen ergeben sollten, gelangt durch eine Seitentür in das Büro des “Sekretärs”. Es liegt am Ende eines langen Korridors im äußersten Flügel des Palais Beauharnais. Hier steht nun Herszel Grynspan in dem 3x4 m großen Raum. An der Wand, gleich rechts neben der Eingangstür, hängt das Bild des Führers. Ernst vom Rath sitzt mit dem Rücken zum Eintretenden am Fenster, gerade eine deutsche Zeitung studierend. Er macht mit seinem Stuhl eine Drehung, um seinem Gast ins Gesicht sehen zu können. Anschließend bittet er ihn, in einem tiefen Ledersessel Platz zu nehmen. Was nun geschieht, ist kaum zu glauben. Es gab für die Tat auch nur einen einzigen Zeugen, Herszel Grynszpan, der allerdings kaum ein Interesse an der Aufdeckung der wahren Geschichte gehabt haben dürfte. Im Laufe der langen Haft wird er dem Untersuchungsrichter abwechselnd einige Varianten auftischen, die sich zum Teil widersprechen oder völlig einander ausschließen, ganz wie es die entsprechende Strategie der Verteidigung für notwendig erachtet. Gegenüber Kriminalkommissar Charles Badin erklärt Herszel Grynszpan:: “Ich bat um eine Unterredung mit einem Mitglied der Botschaft und ich bestand darauf, in dem ich sagte, ich hätte einen dringenden Brief zu übergeben. Ich wollte den Brief persönlich einem Mitglied der Botschaft, der mich empfangen sollte, übergeben. Ich nannte dem Beamten meinen richtigen Namen und wartete einen Augenblick im Empfangssaal. Kurz darauf wurde ich in ein Büro geführt und von einem Mitglied der Botschaft begrüßt. Er bot mir einen Sessel an, neben ihm, in der Nähe des Schreibtisches. Der Beamte bat mich, ihm den Brief zu zeigen. Ich zog den Revolver aus der Rocktasche und sagte, bevor ich schoss: Es genügt nicht, dass die Juden in Deutschland so leiden und in die Konzentrationslager geworfen werden, jetzt vertreibt man sie wie gemeine Hunde...Nach diesen Worten schoss ich auf den Beamten und feuerte fünf Kugeln ab. Getroffen durch die Kugeln, legte der Beamte die Hände auf den Unterleib und besaß noch die Kraft, mir einen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen und zu sagen: Schmutziger Jude! Er eilte zur Tür und schrie um Hilfe. Ich wollte mich für dieses Schimpfwort rächen und schleuderte meine Waffe gegen seinen Kopf, traf ihn aber nicht. Einige Augenblicke später wurde ich auf der Stelle verhaftet. Ich habe nichts mehr zu sagen.”

      In der ersten Vernehmung durch Polizeikommissar Monneret präsentierte Grynszpan eine andere Version, wonach er auf die Bitte um Aushändigung des wichtigen Dokuments, in dem es um “deutsche Geheimnisse” ginge, wie folgt reagiert haben will:” Ich rief aus: Du bist ein dreckiger Deutscher und im Namen von 12.000 gepeinigten Juden, hier ist das Dokument!” - Ich zog den Revolver, den ich in der Innentasche meines Rockes versteckt hatte, und schoss. In dem Augenblick, da ich die Waffe zog, erhob sich der Attaché` von seinem Sessel. Ich feuerte jedoch sofort alle Kugeln ab. Ich zielte in die Mitte des Körpers. Mein Opfer versetzte mir einen Faustschlag und verließ hilferufend das Zimmer. Ich blieb im Büro, wo ich unmittelbar danach verhaftet wurde. Im Büro warf ich meine Waffe weg.”

      Hier ist schon nicht mehr von einer Beschimpfung des deutschen Legationssekretärs die Rede, dafür erwähnt Herszel, im Gegensatz zum ersten Verhör, dass er genau auf die Mitte des Körpers zielte.

      Im Laufe der monatelangen Untersuchung wird der Attentäter noch häufig widersprüchliche Aussagen machen, doch in einem Punkt bleibt er sich treu, in der Angabe des Tatmotivs:” Ich habe aus spontaner Rache wegen der schikanösen Vertreibung meiner Eltern aus Deutschland gehandelt.” Zum Beweis führt er die Karte seiner Schwester Beile vom 31. Oktober 1938 aus Zbaszyn an. Zudem hat man bei seiner Verhaftung eine Abschiedskarte gefunden, geschrieben am 7. November im Hotel “Suez”, kurz vor dem Waffenkauf. Der in Deutsch verfasste Text lautet:”Meine lieben Eltern! Ich konnte nicht anders tun, soll G` tt mir verzeihen, das Herz blutet mir wenn ich von eurer Tragödie und 12 000 anderer Juden hören muss. Ich muss protestieren das die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun, entschuldigt mir. Hermann.”

      Die sogenannte deutsche Zivilpartei, vertreten durch Prof. Grimm, leitet aus dem Inhalt der Karte ab, dass der Plan, einen solchen Abschiedsgruß zu formulieren, dem jungen Mann von dritter Seite nahegelegt worden sei, und zwar von der Seite, welche die Propaganda leitet. Das ist schon richtig , aber man denkt dabei natürlich nicht an die eigene, sondern an die der Franzosen. Bevor jedoch die französische Kriminalpolizei in einem ersten Verhör Herszel Grynszpan über die Motive der Tat vernehmen will, greift bereits die Deutsche Botschaft in die angelaufene Untersuchung ein. Eine halbe Stunde nach dem Attentat schickt sie ihren “Kanzler” Lorz in das Pariser Polizeikommissariat des Stadtteils “Invalides und Ecole Militaire”. Und nun läuft in der rue de Bourgogne ein höchst seltsames Justizgebaren ab. “Ich bat den Kommissar, an den Vorgeführten einige Fragen richten zu dürfen, was er mir gestattete”, vermerkt dazu Lorz in seinen Aufzeichnungen vom 8. November 1938. Während der Deutsche den 17-jährigen Juden Herszel Grynszpan vorschnell in die Kategorie der fanatischen Juden einstuft, der französische Kommissar eher von einem “desequilibre” (Geistesgestörten) spricht, wittert die Presse der KP, namentlich die L` Humanite` , einen ganz anderen Hintergrund. Sie stellt die These in den Raum, ob hier nicht ein Fall von monströser Provokation zum Zwecke einer umfangreichen Verleumdungs-Kampagne gegen Frankreich hinsichtlich der Emigranten-Politik vorliege, die von Nazi-Deutschland gesteuert und in Paris inszeniert worden ist. Die Zeitung legt am 9. November den Finger auf die Wunde, als sie der zentralen Frage nachgeht, warum man dem Attentäter so ohne weiteres Einlass in die Deutsche Botschaft gewährt hat. “In welcher Eigenschaft kam er? Als persönlicher Freund? Als Spezialagent? Als Spion?“ So orakelt die L` Humanite`. Das sind zweifellos peinliche Fragen. Und das Blatt setzt noch eins drauf, in dem sie ihre Leser über ein Gespräch zwischen dem deutschen Botschafter Graf von Welczeck und dem französischen Innenminister Bonnet informiert, welches am Tage des Attentats gegen 16 Uhr stattfand. Im Verlaufe dieser Unterredung hätte der deutsche Diplomat seine Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, ob die Öffentlichkeit es nicht merkwürdig finden könnte, dass Herszel Grynszpan so leicht und ungehindert in das Büro des Herrn vom Rath einzudringen in der Lage gewesen wäre. Das gleiche Organ argwöhnt sogar, der Täter wäre wohl nicht das erste Mal in der Deutschen Botschaft gesehen worden, was getrost als Hinweis auf dessen nähere Bekanntschaft mit seinem Opfer gewertet werden sollte.

      2. Kapitel: Das Opfer

      Gustav vom Rath, der Vater des Opfers, gehörte einer alten, konservativ denkenden Adelsfamilie an, deren Karriere als Staatsbeamte stets vorgezeichnet war. Am 21. Februar 1879 in Düsseldorf geboren, studierte er später Jura in Heidelberg, Genua und Bonn. Im Jahre 1902 trat er als junger Rechtsanwalt in den Zivildienst ein. Die nächsten Jahre, mit Ausnahme der Militärzeit, arbeitete vom Rath in Danzig und von 1912 an in Köln. 1920 quittierte er den Staatsdienst, ging nach Breslau und übernahm dort die Leitung der familienbezogenen Zuckerfabrik.

      Ernst vom Rath, ältester der drei Söhne, wurde am 3. Juni 1909 in Frankfurt am Main geboren. Er besuchte die Mittelschule zunächst in Frankfurt, dann in Breslau, wo er auch 1928 das Abitur ablegte. Anschließend studierte Ernst vom Rath an den Universitäten Bonn, München und Königsberg in der Fachrichtung Rechtswissenschaften. Nach erfolgreich bestandenem Examen war er vorübergehend als Gerichtsreferendar am Stadtgericht Zinter im Umkreis von Königsberg tätig. Sicher beeinflusst durch seinen Onkel Roland Köster, dem damaligen Botschafter der Deutschen Botschaft Paris, entschied sich Ernst vom Rath 1934 für eine diplomatische Laufbahn. Er begann als junger Zivilangestellter im Auswärtigen Dienst, bestand die geforderten Prüfungen und schloss ein sechswöchiges Training ab bei der Deutschen Botschaft Budapest. In Vorbereitung auf den sprachlichen Teil der Prüfung verbringt er den Sommer 1934 in Paris.

      Am 13. April 1935 wird der junge Diplomat formell beim Außenministerium eingestellt