du hier der Meßjunge?«
Die Gesichter der Männer, vom Wetter massiert, verzogen sich zu einem breiten Grinsen, und der Sohn der Johansen, eigentlich der Schiffsführer, errötete bis in die Stirn. Er war fast kahl, hinten stieß langes, fahles Haar auf den Kragen der Jacke.
Die Johansen zeigte einen ungeheuren Gleichmut, während sie aß, Kaffee trank und den Jungen neben sich aus einer Kekstüte fütterte.
Die Johansen war den Männern gut bekannt. Sie war keine gewöhnliche Frau, sondern die ehemalige Reederstochter , die Frau eines Kapitäns, und mochten das heute auch schon uralte Geschichten sein, ohne jede Bedeutung, so vergaßen die Männer diesen Umstand schon deshalb nicht, weil die Johansen sie ständig daran gemahnte.
Sie richteten freundliche Blicke auf das Enkelkind der Johansen.
Der Junge hatte ein zart geschnittenes Gesicht mit blauen Augen und besternten Wimpern, ein Gesicht, das sonst Klugheit, jetzt aber nur Müdigkeit ausdrückte. Die Johansen spürte allerdings etwas Fremdes, Unstimmiges bei Torsten. Sie führte sein Verhalten auf die acht Tage zurück, die das Kind unter dem Einfluß der Mutter, also ihrer Tochter, gestanden hatte. Vielleicht wurde Torsten auch mit dem Bild eines kranken Vaters nicht fertig. Dieses und anderes würde sie in den nächsten Tagen herausbringen müssen, noch waren ja Ferien.
Das Schiff machte jetzt schnellere Fahrt, die metallischen Gegenstände in der Kajüte klangen wie leise verborgene Glocken.
Die Mütze aufsetzend, stieg der Schiffsführer an Deck. Die Johansen folgte ihm, nicht ohne Torsten zu ermahnen, unten zu bleiben. Binnen einer Stunde hatten sich Meer und Himmel verändert, sie flossen zu jenem bläulichen Schlamm zusammen, der Sturm bedeutete. Trat die Sonne für einen Augenblick hinter den schnell ziehenden Wolken hervor, dann leuchteten die Wellenkämme auf wie Messerklingen.
»Hast du jetzt eigentlich ein besseres Verhältnis zu Knut?«, fragte Richard.
Die Johansen lächelte, beantwortete die Frage gar nicht erst, sondern stellte trocken fest: »Wüßte nicht, wann unser Verhältnis schlecht gewesen wäre. In letzter Zeit sind wir sogar sehr gut miteinander ausgekommen. Warum willst du das wissen?«
»Weil ihr jetzt vielleicht miteinander auskommen müßt«, sagte der Sohn.
»Versteh ich nicht.«
Die Johansen wendete sich um, denn hinter ihr kam der Junge den Niedergang herauf, obgleich sie ihm geboten hatte, unten zu bleiben. Sie rügte sein Verhalten aber nicht, sondern stellte ihn vor sich an die Schanzverkleidung und legte beide Hände auf die Reling, so daß Torsten gut geschützt zwischen ihren Armen stand.
Der Wind, fast schon ein Sturm, traf die Drei jetzt voll. Die Johansen band einen Schal ab und legte ihn um den Kopf des Enkels. Die Drei standen eine ganze Weile wortlos auf dem schlingernden Schiff und starrten auf die See.
»Wir werden sehen«, schloß die Johansen.
Der Schiffer deutete auf die Küste und beendete ebenfalls seine Rede: »Wir sind in ein paar Minuten da, Mutter.«
Auf der Seeseite fehlte ein Landeplatz. Die. Küste bildete einen kilometerlangen Streifen flachen Strandes. Nicht mal die Andeutung einer schützenden Bucht ließ sich erkennen. Zu allen Jahreszeiten war der Strand nach West und Nord hin offen, die See meist rau. Deshalb verbot sich ein Hafen von selbst. In grauer Vorzeit sollte es eine Verbindung gegeben haben zwischen See und Binnenwasser, mit einer Fahrrinne auch für tief gehende Schiffe.
Dicht unter Land arbeitete ein Baggerschiff, ein Strom heraufgesogenen Grundes ergoß sich in einen Prahm. An diesen Prahm bugsierte Richard den Schlepper heran. Die Johansen und Torsten stiegen auf das flache Schiff um. Von dort brachte ein Ruderboot sie an Land.
Vorher sagte die Johansen noch: »Ihr könntet mal längs kommen, vielleicht gibt das noch was zu bereden.«
»Wir kieken mal in«, versicherte ihr der Sohn.
Kapitel 2
Mit dem Jungen an der Hand überquerte die Johansen den Deich. Torsten trug einen leichten Campingbeutel an einem Schulterriemen. Die Großmutter schleppte einen Koffer. Auf der Deichkrone blieb sie, stehen und blickte zurück; bis zum Horizont sah sie kurze, heftig aufschäumende Wellen mit leuchtend weißen Kämmen. Das Meer zeigte sich in abgestuften Blau- und Grüntönungen, als bildete es seine Bodenstruktur nach oben ab.
»Das haben wir gut abgepaßt«, sagte sie befriedigt, während sie an der Hand des Jungen zog. Sie fühlte, daß diese Hand willenlos war, ihr durchaus nicht vertrauend.
Sie rüffelte den Jungen: »Wissen möchte ich, was mit dir plötzlich los ist. Was haben sie dir eingeredet?«
»Sie haben mir nichts eingeredet.«
Rüstig zugehend, ab und zu grüßend, ohne sich aufhalten zu lassen, erklärte die Johansen: »Du bist acht Tage weg gewesen; ohne dich habe ich mich einsam gefühlt. Daher habe ich unser Haus von oben bis unten sauber gemacht, du wirst staunen. Heutzutage halten die Frauen solche Arbeit für unter ihrer Würde. Ich finde, man nimmt immer neu in Besitz, worum man sich sorgt, und ich habe festgestellt, daß es doch ein hübsches Haus ist. Dein Großvater hat es gekauft und umgebaut. Das alles erwies sich später als weit vorausschauend. Wie du weißt, sind wir aus der Heimat vertrieben worden und fanden hier eine Zuflucht. Sie hob den Koffer an. Was haben sie dir denn bloß eingepackt? Ich hatte doch deutlich gesagt, ich will das nicht. Ich kauf dir hier, was du brauchst. -Ja, das Haus, groß ist es nicht, aber trotzdem wollten sie mir immer Leute hineinsetzen. Ich möchte doch sehen, ob man mir gegen meinen Willen fremde Menschen hineinsetzen wird. Eher zünde ich das Haus an.«
Angesichts dieser Energie kam Torsten auf ihre Bemerkung zurück, er habe ihr gefehlt: »Ich habe mich ohne dich auch einsam gefühlt, Oma.«
Aber ihre Gedanken waren nicht stehen geblieben, diese Bemerkung erreichte noch ihr Ohr, nicht aber ihr Herz.
»Wir werden es uns nachher gemütlich machen, erst frühstücken wir ordentlich, dann, wieder pendelten ihre Gedanken zu den zurückliegenden Ereignissen zurück, jedenfalls bist du ganz anders wiedergekommen, Torsten.« Sie ahnte, daß er litt, andererseits ging ihr das Gefühl für diesen labilen Kummer ab, wie sie übrigens eigenes Leid auch nur selten zur Schau stellte. Sie zog es vor, einsam zu leiden, eine Selbstquälerei, die sie seelische Stärke nannte.
»Dort ist unser Haus«, sagte sie mit der tiefen Befriedigung des Heimkehrenden, der alles vorfindet, wie er es verlassen hat.
Das Haus hatte einen gegiebelten Eingang, links und rechts rankte sich Efeu empor, vermischt mit wildem Wein. Vor den niedrigen, fast quadratischen Fenstern des Erdgeschosses standen Bauernrosen und Malven, zartrosa, violett. Kletterbohnen wanden sich um dünne Stangen. Hinter dem weißen Lattenzaun befand sich eine dichte, rechtwinklig geschnittene Hecke. Im Vorgarten blühten noch Rosen und schon Dahlien einer Zwergsorte, die Frau Johansen bevorzugte.
Wohnräume und Küche nahmen das untere Stockwerk ein. Darüber lagen mehrere kleine Kammern, zwei davon mit Fledermausfenstern. Die mittlere Stube, über dem Eingang, hatte jedoch ein normales Fenster. Früher war das weit heruntergezogene Dach mit Schilfstroh gedeckt gewesen. Später wurde das alte Stroh durch Ziegel ersetzt, graue, Biberschwänze, die auch schon wieder Moos ansetzten.
Hinter dem Haus, von ihm verdeckt, lag ein großer Obstgarten, und ein hölzerner, mit Teerpappe gedeckter Schuppen stand dort. Kieloben auf zwei Böcke gelegt, faulte ein Boot seit Jahren vor sich hin. Über die hintere Gartentür führte ein schmaler Weg zu einer sumpfigen Wiese, durchsetzt mit Schilf, Ried und Wiesenschierling; der Weg führte weiter hinunter zum Bodden.
Torsten ließ mit einem Ruck den Campingbeutel fallen und rieb sich die schmerzende Schulter.
»Nun«, sagte die Johansen, »so schwer ist der Sack wohl nicht gewesen. Ich hatte es schwerer, und ich bin nur eine Frau.«
»Ich bin bloß ein Kind«, entgegnete Torsten, aber die Johansen ließ sich auf keine weitläufigere Erörterung dieser Frage ein. Sie schloß schweigend die Haustür