Helmut Lauschke

Tag und Nacht


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Sie waren die ausgezogenen Schatten, die den Daseinsbeginn auf dem neuen, dem unbekannten schwarzen oder armen Kontinent begleiteten. Die Schatten waren so gewaltig, dass sie ein Eigenleben entwickelten, dem das Dasein kümmerlich gegenüberstand.

      Die Schatten hoben und senkten, schoben und drückten sich unheilvoll an den Seiten des Seins entlang. Sie zogen unter immer neuen Betrachtungswinkeln auf und ab. Es war die Dissonanz zwischen dem Wollen der Hände und dem Sollen im Kopf. Dass solch ein Wissen die Schräglage nicht beseitigt, sondern vertieft, ergibt sich beim Abzählen der Finger an einer Hand. Die Probleme mussten nicht erst im Kopf nebeneinander gestellt werden, sie waren als Schatten in den unterschiedlichen Stärken eine gefürchtete Realität, die in den Schattierungen großflächig und weit nach vorn vor den Füßen ausgezogen waren. Diese Realität hob sich gegen den glutroten Sonnenauf- und -untergang kontraststark ab, die den Existentialismus mit dem Unsinn und den perversen Schikanen in das Blau des Himmels brannte. Doch begründbar ist, dass man den Unsinn mit seinem Drum und Dran, was mit der bloßen Lächerlichkeit beginnt und sich bis zur Schwere der Unerträglichkeit hinzieht und verbreitert, nicht wie steckengebliebene Nägel aus zurückgelassenen Brettern herausziehen oder herausschlagen konnte.

      In der Nacht wuchsen die Spannungen zwischen Wollen und Sollen ins Unerträgliche, dass erst die frühen Morgenstunden den ersehnten Schlaf brachten. Das, was sich im Traum stemmte:

      Der Raum weitet sich.

      Weggesprengte Wände mit dem Erdgeschmack der faden Bitternis,

      den Steinen, je tiefer es geht.

      In die Weitung brauchst du nicht fliegen, aber ruhig liegen musst du.

      Ich weiß, dass auch du es tun wirst, nicht anders als die andern

      mit angelegten Armen und ausgestreckten Beinen.

      Beieinander liegen die Körper in Leinen verschnürt.

      Und weiter, weiter dehnt sich der Raum

      und noch viel weiter, dass es kein Ende nimmt.

      Nicht anders trug der Kopf die Last durch die Nacht. Die gesunde Physiologie mit dem Rhythmus von Tag und Nacht war abhanden gekommen. So zog sich der Tag in die Länge, begrenzt von den feuerroten Auf- und Untergängen. Die Gefühle schaukelten und trieben hin und her. Ihnen drückte sich als weiterer Teil die kochende Hitze auf. Der Wecker war der knurrende Magen. Von Mücken zerstochen, weil das Gitternetz zerlöchert war, ging es aus dem Bett und unter die Brause, wo das Wasser noch sonnenheiß vom Vortag war.

      Es gab das Betrachten abgemagerter Frauen und Kinder in schweigenden Menschentrauben auf dem Vorplatz vor der Rezeption sieben Uhr morgens, später dann im Wartesaal des

      ‘Outpatient Department’. Die Erkenntnis, dass allgemeiner Hunger die Menschen an der Leine hat, hatte seine Gültigkeit. Da kam die Vermutung auf, dass sich Menschen im elenden Zustand nicht im Reden verausgaben, weil sie die Kräfte zur Geduld brauchen, um die Stunden hindurch zu warten, bis sie vom Arzt gesehen werden. Die Blicke zum Himmel blieben so unbeantwortet wie die Blicke in die in beißenden Schweiß gehüllten, dünnbeinig und arm gekleidet stehenden, vor mageren Bäuchen und auf knorrigen Rücken kindertragenden und auf dem Boden sitzenden Menschen. Es war keine neun, als das Hemd auf der Haut klebt und der Mund trocken war. Heiß stand die Luft über Kopf und Kragen, und ein Kompass, um zu zeigen, wo es langgeht, war nicht zur Hand. Die Augäpfel waren gerötet vom Zuwenig an Schlaf und dem eingeriebenen Sand, von dem es außer den Steinen und zu jeder Zeit im Überfluss gab. Wo man hin und wie weit man sah, wo man ging, man trat auf Sand und Steine als den afrikanischen Wegerich, der gesäumt von sperrigen Langdornbüschen war.

      Ich forderte das Dasein auf dem Sand über dem zerbröckelten Urgestein im verschwitzten Hemd mit den schwitznassen Füßen auf den Korksohlen der Birkenstocksandalen und den leeren Taschen und zwei Koffern mit dem unnützen Plunder heraus. Es war die ungewollte Herausforderung mit der Unsicherheit und Bodenlosigkeit durch das Fehlen von Grundwissen und Grunderfahrung. Da musste das kleine Daseins-Einmaleins ins Auge gehn, wie es zu bewerkstelligen ist, sich unter diesen Umständen am Leben zu halten. Das Grundgefühl war das Wegrutschen ins Leere, in das Bodenlose. Wie sollte ich da der Umgebung auf dem kargen, rissig trockenen Boden mit den schweißüberzogenen wartenden Trauben magerer Menschen näherkommen, oder gar auf Hautfühlung gehen? Oder andersrum: Gab ich der Umgebung und ihren Menschen die Chance, an mich heranzukommen? Die Absicht war, dass ich gekommen war, um mit den Händen die Chirurgie an den Menschen auszuführen. Und das in der Kriegszone mit den Granateinschlägen nicht nur in der Ferne, sondern bis an das Hospital heran, wo es wegen der Gefahr fürs eigene Leben nur wenige Ärzte gab. Das Hospital war überfüllt. Patienten lagen zwischen den Betten auf dem Boden. Kinder teilten sich zu zweit und zu dritt ein Kinderbett. Wie sollte man da die Beobachtungen halten unter den Umständen des aus der alten Normalität weggerutschten Lebens? Und wie sollte man sich selbst einbringen und sich als Arzt und Chirurg zur Verfügung stellen, wenn es vom Medical Council in Pretoria, dem Machtzentrum der übergestülpten Apartheid mit den strammgezogenen Leinen noch keine Arbeitserlaubnis gab?

      Die innere Stille gab es nicht, die abgesehen von der notwendigen Schlafstille, die durch die nächtlichen Granateinschläge und die Antwortabschüsse aus den schweren Haubitzen gestört war. Jäh wurde der Schlaf zerrissen, und Angst und Schrecken wälzten sich durch die Betten. Es gab das Ringen ums innere Stillhalten, den Kampf um die innere Disziplin, sich still zu verhalten, ohne Koller und ohne Rückzugs-, Rückkehr- und ohne Fluchtgedanken. Tagsüber starren Armut, Hunger und bittere Erbärmlichkeit in die Augen, dass die Knie schwach werden und der Kopf vorzeitig ermüdet. Vieles an reißend-stechendem Gestrüpp und sonstig nutzlosem Beiwerk gehörte noch dazu, um die Situation gefühlsmäßig in den Griff zu bekommen. Im Denken des Fremden ist vieles unfassbar. Und weil sich die Dinge im Verstand verhaken, haken die Worte, bevor sich die Bildersprache verständlich machen kann. Die Worte reichen oft nicht, um die Bedeutung der Situation vor Ort verständlich zu machen mit ihren Fallen, Intrigen, den Engpässen und Dunkelheiten, um den Komplex der Dinge, wie sie vorlagen und in ihrer Nacktheit immer sichtbarer und in ihrer Dürftigkeit schließlich ruchbar wurden, zu verstehen. Die Wortgebrechlichkeit, ohne dass es gleich ein Wortbruch sein muss, wird noch bedeutsamer, wenn unterschiedliche Sprachen in den gleichen Raum gesprochen werden, dass einer den andern schließlich nicht mehr versteht. Es gibt Bereiche, die sich mit Worten trotz Einstreuung meist unnützer Fremdwörter nicht abdecken lassen. Die Deckungsungleichheit wird dort die Regel. Der sprachliche Gleichungsversuch bleibt dann auch vergleichsweise erfolglos. Die Sprachlosigkeit setzt ein, wenn die Dinge davoneilen und sich zuspitzen hinauf auf die Höhe der Entscheidung.

      Die Wortverlorenheit ist der Fall, wenn freundliche und bedeutende Impulse kommen und gehen, ohne dass dazwischen gesprochen wird. Das viele Reden über Dinge, die zu tun sind, ist ein Hinweis dafür, dass es sich um die Verspätung handelt, wenn der Zug des Impulses längst davongefahren ist. Und wenn der Zug erst abgefahren ist, verlieren die Worte den Wirkstoff. Sie liegen neben den Gleisen herum, wo sie verschrumpeln, verweht, vom Wetter aufgelöst und vom Boden vertilgt werden. Das gilt für einen Großteil im Leben, weshalb vieles an ihm nicht stimmt. Auch ich hatte Wörter vertrocken, schrumpeln und wegfliegen lassen, ohne dass sich im Leben etwas geändert hatte. Das schließt die Sprachlosigkeiten ein, deren vorausgedachte Wortbündel irgendwo aus dem Fenster geworfen wurden, wo sie unbeachtet liegenblieben und mit den angehängten Hoffnungen und untergeschobenen Enttäuschungen vom Boden verschluckt oder unter den Schuhsohlen zertreten wurden. Da kann man mit Worten nur hinterherreden, was an Kraft, Absicht und Genauigkeit an das aus dem Fenster Geworfene und Verlorengegangene bei weitem nicht heranreicht.

      Irrläufer kommen überall vor. Dagegen sind Fensterstürze in Afrika selten. Diese Stürze beziehen sich mehr auf die höheren Stockwerksfenster der nördlichen Halbkugel. Sie sind in Europa häufiger als in Afrika, wo die Hütten mit den Strohdächern bodenständig geblieben sind. Die Hütten sind türlos, dass sie mit eingezogenem Kopf und leicht gebückt zu betreten sind. Ein oder zwei kleine Öffnungen gibt es zum Hinaussehen. Glasfenster im Kleinformat sind selten. Wie es mit den Kralen sonst bestellt ist, das afrikanische Denken ist anders als das europäische, wenn es ‘schwarz’ im Sinne der alten afrikanischen Sitten und Gebräuche gedacht wird, wo die Anbindung – wenn überhaupt