Maryam Munk

Traumscheinbar


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Fortan wurde ich nächtens in die Dachkammer verbannt, deren Tür bis zum Morgen verschlossen blieb. Mein Bruder fürchtete meine Prügel, deshalb wagte er sich nur noch in meine Nähe, wenn ein Erwachsener mit im Raum war. Ich verhaute ihn nicht. Ich zerstörte seinen Computer. Mit meines Bruders eigenem Baseballschläger zertrümmerte ich das Ding, bis es lauter Splitter waren.

      Auch in der Schule machte ich mich unbeliebt. Zwar mochten mich die Schülerinnen, wohl meines Geruchs wegen, und die Lehrerinnen schenkten mir ebenfalls ihre Sympathie, aber die männlichen Schüler und Lehrpersonen zeigten mir auf unmissverständliche Weise ihre Abneigung. Die Schulzeit wurde jene Zeit, in der ich begriff, dass der, den die Frauen umschwärmen, nicht unbedingt die Freundschaft der Männer findet. Diese Erkenntnis hätte ich unter anderen Umständen mit einem Grinsen abgetan, doch auf der Schule gab es Jungen, die stärker waren als ich, und die mich das spüren ließen, wann immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Und die Lehrer gaben mir schlechte Noten, auch wenn ich mal eine gute Leistung brachte. Mein Bruder blühte in seiner Schadenfreude auf, wenn ich blutend aus der Schule kam. Die Eltern verzogen die Gesichter, wenn ich ihnen ein Zeugnis vorlegte. Meine Schwester, die mir ein Licht in jener dunklen Zeit hätte sein können, lebte in einem Internat.

      Qualvolle Jahre vergingen. Eines Tages glaubte ich mich alt genug, dem ein Ende zu machen. Ich lief von meinem erzwungenen Zuhause fort. Ich verließ die Kleinstadt, folgte dem grauen Band der Straße und tauchte in die Anonymität einer großen Stadt ein. Dort kannte ich niemanden, hatte kein Geld, war jung und wollte leben. Glücklicherweise erregte auch in dieser Stadt mein Geruch die Aufmerksamkeit einer Frau. In beiden Händen Einkaufstaschen haltend, humpelte sie aus dem Supermarkt, vor dem ich stand und schmachtende Blicke auf die Auslagen warf. Sie mochte über achtzig Jahre alt sein, ihr Körper nicht mehr so funktionieren, wie es wünschenswert gewesen wäre, aber ihr Verstand war klar.

      "Na, Jungchen", sagte sie, "hast wohl Hunger?"

      Und ob ich den hatte. Ich hätte sämtliche Schaufenster leer fressen können.

      "Kein Geld?"

      Ich schüttelte den Kopf.

      "Wie steht es mit Eltern?"

      Ich zuckte die Schultern.

      Die Frau schniefte. "Glaube zu verstehen", sagte sie. "Dann trag mal meine Taschen, Jungchen!"

      Ich trug ihre Taschen, und ich nahm ihr alle Arbeiten ab, die für ihren alten Körper eine Plagerei bedeuteten. Dafür ließ sie mich bei sich wohnen. Ihre Wohnung war klein und altmodisch eingerichtet. Eine Kuckucksuhr tickte den Takt unseres gemeinsamen Lebens. Oft saßen wir beisammen und spielten Schach, was mich die alte Frau lehrte. Oder sie häkelte mit ihren noch immer geschickten Fingern, wobei sie mir Geschichten aus der alten Zeit, in der sie jung gewesen war, erzählte. Über meine Herkunft wollte sie nichts wissen. Allen diesbezüglichen Andeutungen wich sie aus. Vermutlich fürchtete sie etwas zu erfahren, was sie zwingen würde, sich von mir zu trennen, wenn sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollte.

      "Du darfst mich Omi nennen", erlaubte die alte Frau.

      Ich tat es gerne. Schon drei Mal hatte ich Eltern gehabt, aber nie eine Oma.

      Durch die Fenster der Wohnung konnte man auf die Straße sehen. Es war eine wenig belebte Seitenstraße. An den Sommertagen saßen wir am offenen Fenster. Im Winter blieben die Fenster geschlossen.

      Weihnachten verbrachten wir in abgeschiedener Zweisamkeit. Von ihrer mageren Rente hatte Omi einen fetten Braten gekauft. Abends las ich ihr Dickens´ Weihnachtsgeschichte vor. Danach aßen wir den Braten, tranken Wein und gingen wie üblich früh zu Bett. Einen Fernseher besaß Omi nicht.

      Mit dem neuen Jahr veränderte sich Omi. Sie wurde zunehmend schweigsam. Nun erzählte ich ihr Geschichten, in die ich behutsam meine Erlebnisse als Waldkind einbaute. "Interessant", sagte Omi, die wohl ahnte, dass ich ihr von meiner Kindheit erzählte. Es schien ihr nichts mehr auszumachen. Kämmte ich ihr das lange weiße Haar, wie es unser abendliches Ritual war, empfand sie nicht mehr den Genuss wie früher.

      Fortan ging ich alleine einkaufen. Überhaupt blieb Omi nun die meiste Zeit zu Hause. Oft überraschte ich sie, wie sie mit gesenktem Kopf in ihrem Sessel saß und die Augen geschlossen hielt. Stille umfing Omi und lastete in der Wohnung, die ohnehin nie mit Lärm erfüllt gewesen war. Aber diese Ruhe war drückend. Selbst die Kuckucksuhr schien ihren Takt nun stumm zu ticken.

      Im Frühjahr wurde Omi wieder munter. Sie erhob sich aus dem Sessel und erledigte die Einkäufe wieder selbst, während ich wie früher die Taschen trug. Auch das Haarekämmen wurde ihr wieder zum Genuss.

      "Die Geschichte vom Waldkind hast du nur erfunden, oder?", fragte sie mich.

      Ich hielt es für besser zu lügen, und Omi war glücklich.

      Bis zum Sommer hielt sie durch, dann fiel sie auf der Straße um. Da lag sie und war tot. Ich glaubte, dass sie tot war, denn ihr Blick galt nicht mir, sondern den Wolken, die über die Stadt zogen. Wenn man von jemandem geliebt wird und dieser Jemand fällt plötzlich auf der Straße um, und die Augen, die einen sonst zärtlich anschauten, sind zum Himmel gerichtet, dann muss der Jemand doch tot sein!

      Ich stand abseits und beobachtete was geschah. Eine Menge Leute kam gelaufen. Die meisten gafften, doch einige kümmerten sich um Omi. Ich begriff, dass meine Zeit mit der alten Frau vorüber war. Ich stellte die Einkaufstaschen ab und ging.

      In der Zeit nach Omi suchte ich mir keine alten Leute mehr aus, nur junge, die sterben gewöhnlich nicht so rasch. Ich wartete, bis ich jemanden traf, der mein Interesse erregte. Dies waren Menschen, die ausreichend Sensibilität besaßen, das Besondere zu erkennen. Ihnen schloss ich mich an.

      Es waren Einsame, die sich mühsam am Leben hielten. Viele verzweifelten darüber. Mit einigen verbrachte ich ein paar Tage, mit anderen Wochen. Selten hielt ich es ein paar Monate mit jemandem aus. Auf diese Weise verlebte ich die Jahre. Ich empfand Sehnsucht nach Omi, während mir die lebenden Menschen immer gleichgültiger wurden.

      In einem Kaufhausspiegel betrachtete ich mein Bild. Ich sah verwahrlost aus. Ich glaubte, mich selbst zu verlieren und fürchtete, wenn ich eines Tages wieder in einen Spiegel schauen würde, darin nichts zu erkennen, was ich sein könnte. Dazu wollte ich es nicht kommen lassen.

      Ich begann den Leuten die Geschichte vom Waldkind zu erzählen. Ich hoffte, jemand würde sie für Film oder Buch verwerten können und mir den Weg zum Reichtum ebnen. Leider traf ich diese Person nie. Alle, denen ich die Geschichte erzählte, reagierten unsicher und rückten von mir ab, sogar die Gestrandeten, die zwischen Mülltonnen hausten. Ihnen erzählte ich die Geschichte, als niemand anderer sie noch hören wollte.

      Während die Flaschen rund gingen und die verklärten Augen die Bilder schauten, die mein Mund in ihre Ohren sprach, lauschten sie mir aufmerksam. Hatte ich die Geschichte beendet, wandten auch sie sich von mir ab. Der kranke Mann war der Letzte, dem ich die Geschichte vom Waldkind erzählte.

      Er sah mich nachdenklich aus trüben Augen an. "Du hast den Verstand verloren", sagte er schließlich. "Jemand, der so `nen Scheiß erzählt, muss den Verstand verloren haben." Er drehte sich auf die andere Seite, schob den Hintern dem wärmenden Feuer zu und hielt die Weinflasche wie ein Baby in den Armen.

      Ich stand auf und folgte wieder dem grauen Band der Straße.

      Von da an verschloss ich die Geschichte in mir. Auch schloss ich mich keinem Menschen mehr an, bis Monate später im strahlenden Sonnenschein ein Auto vor mir hielt. Das Kabriolett war offen. Der Fahrer betrachtete mich, als ich an dem Wagen vorbei ging. "He!", rief er. Ich ging weiter. Das Auto rollte langsam neben mir her.

      Der Mann redete auf mich ein. So einen wie mich würde er suchen, nun ja, nicht direkt suchen, aber er wäre froh, mich gefunden zu haben. Er fragte, ob ich etwas Geld verdienen wollte. Mein Blick ließ ihn in seinem Redeschwall stocken. Nein, lachte er, nicht so, wie ich vielleicht denken würde. Es wäre so, dass er mich an jemanden vermitteln könnte, der malte und ein Modell wie mich für ein bestimmtes Bild benötigte.

      Ich mochte die Einsamkeit nicht länger ertragen und den Hunger und das Gefühl, eine überflüssige Existenz zu sein. Also setzte