mit ihren Projekten weiter als im ganzen langen Winter.
Ausgedehnte Spaziergänge, geselliges Beisammensein und üppiges Essen, wie sie die Grönländer im Sommer gerne genossen, hielt die Königin für Zeitverschwendung. Wurde sie dazu eingeladen, nahm sie zwar teil, erklärte aber jedem, dass ihr der lange arktische Winter lieber sei als der kurze Sommer.
Sanken die Temperaturen wiederum unter dreissig Minusgrade, schloss sie sich in der Dunkelheit und Kälte und im Thema ein, das sie bearbeitete. Nichts verlockte sie nun noch, das Labor zu verlassen. Wenn alle anderen schliefen, steif und hoffnungslos von so viel Kälte und erschöpft von so undurchdringlicher Dunkelheit, zündete sie ihren Primuskocher an, benutzte ihn als Lampe, Heizung und Kaffeekocher und arbeitete. Der Doktor sah von seinem Zimmer aus das Licht im Labor und fühlte sich in der Übereinstimmung ihrer Gedanken geborgen. Auch er liess das Licht brennen, um die ganze lange Nacht durchzuarbeiten.
Fünfundzwanzig
In der weitläufigen Villa des Doktors war die Schneekönigin so gründlich eingeschlossen, als drifte sie auf einem Eisberg, ohne die Richtung bestimmen zu können. Anfangs versuchte der Doktor noch, seine Frau für alles Schöne im südlicheren Klima zu begeistern, für blühende Bäume, die wenige Monate später üppig mit Früchten behangen waren, für den übermütig wuchernden Garten, der der auserkorene Lieblingsplatz aller Schmetterlinge Basels zu sein schien.
Sie aber empfand diesen unglaublichen Überfluss an Sonne, grünen und bunten Pflanzen, Insekten, Früchten und Vitaminen als Bedrohung. Ihre Forschungen verloren jeden Sinn, und sie empfing den Doktor, der ihr mit selbst gepflückten Blumen und Früchten eine Freude machen wollte, mit Eiseskälte.
Früchte, die tropften, wenn man hineinbiss, waren der Schneekönigin zuwider, und die knalligen Farben der Blumen schmerzten in ihren Augen. Oft stand sie an einem der Fenster im hallenartigen Wohnzimmer und sah hinaus in den Garten, als fürchte sie, Grünes und Buntes kröche unaufhaltsam aufs Haus zu um, was darin lebte, zu ersticken.
Der tiefe Blick in einen ihrer Spiegel gab ihr Halt; ihre kalten Augen sahen ihr daraus entgegen. Auf dem Grund lag die Ruhe von ewigem Eis.
Sechsundzwanzig
Das Gesicht der Schneekönigin war abweisend wie das ewige Eis. Der Doktor, der so quälend wach war, als habe er literweise Kaffee in sich hineingeschüttet, wagte es erst in den frühen Morgenstunden nach langem, schweigendem Nebeneinander, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Kühle Hand auf kalter Haut.
„Du solltest dir das Kind ansehen“, schlug er zaghaft vor. Es ist winzig und schwach. Vielleicht wird es nicht leben.“
Sie öffnete die Augen. Die pupillenlose Schwärze überraschte ihn einmal mehr. Er verwarf den Eindruck, sie habe eine Sekunde lang erfreut ausgesehen, als absurd.
„Ein Mädchen?“ In ihrer dunklen Stimme war eine Erinnerung an grönländisches Inuktitut, auch wenn sie fliessend Englisch und inzwischen auch gebrochen Deutsch sprach. Inuktitut war eine seltsame und nicht zu erlernende Sprache, deren Klang er mochte.
„Ja!“, sagte er nur.
„Ist es hässlich?“, fragte sie.
„Nun, es ..., es ... sieht ein bisschen aus wie ein zwergenhaftes, rothaariges Schneewittchen, weißt du!?“, versuchte er zu beschönigen. Erst jetzt wunderte er sich selbst über Schneewittchens rote Haare. Der Doktor kam aus einer dunkelhaarigen Familie und die glatten, dicken Haare seiner Frau waren nachtschwarz mit einem Stich ins Blaue. Sie heftete ihren unerbittlich forschenden Blick auf ihn, sodass er klein beigab: „Ja, es ist hässlich.“
Sie schwiegen. Er zog seine Hand zurück und seine Seele kam ihm vor wie ein Haus mit mehr Zimmern, als man in einem Leben kennen lernen kann, mit endlosen Gängen, Treppen und dunkeln Winkeln, aber ohne Fenster und funktionierende Lichtschalter. Eine ganze Weile irrte er umher in den düsteren Kammern seines Ich und suchte nach einer sinnvollen Aufmunterung für seine Frau.
„Es sieht begabt aus“, flüsterte er schliesslich. Sie löste den Blick von der Zimmerdecke und starrte ihn böse an, und er begriff, dass sie nun auf der Hut war vor möglichen, später auftauchenden Talenten, die grösser sein mochten als ihre eigenen. Wie der Doktor war auch die Schneekönigin Forscherin mit Leib und Seele, und sie duldete keine Überlegenheit anderer.
Der Doktor stand auf und ging auf die Terrasse hinaus, um in der kühlen Nachtluft vor sich hin zu bibbern. Seine Augen brannten, blieben aber trocken, wie immer, wenn er gerne geweint hätte. Und wie stets nach einem ausführlicheren Gespräch mit der Schneekönigin quälte ihn die Überzeugung, eines übers andere Mal das Falsche gesagt zu haben. Er durchquerte weitere Zimmer und Gänge seiner Seele und verirrte sich hoffnungslos in sich selbst.
Siebenundzwanzig
Der Doktor schlief schon und William war noch nicht zurück aus Prag, als die Schneekönigin aufstand, um sich ihre Tochter anzusehen.
Sie dachte an ihre Wünsche ans Leben, dachte an alles, was hätte sein können. Es war ihr nicht gelungen, die Ängste des Doktors vor dem Reisen zu zerstreuen, aber bis zu diesem Augenblick war sie zuversichtlich gewesen. Irgendwann wären sie zurückgekehrt ins ewige Eis, um weiter zu forschen, nur sie beide in der kühlen Ewigkeit. Ohne das Kind wäre die Ewigkeit erreichbar geblieben.
Sie fasste das Neugeborene nicht an. Es lag so still und atmete so flach, dass sie sich erst nicht sicher war, ob es noch lebte. Die bläulichen Fäustchen lagen auf den geschlossenen Augen und das flaumige, erstaunlicherweise rötliche Haar zog den Blick magisch an, bildete es doch den einzigen Farbfleck im grellweissen Zimmer.
Die Königin brachte einen Schwall Kälte mit zurück ins Ehebett. Diese weckte den Doktor. Er stellte Fragen, viele Fragen, von denen er ahnte, dass sie allesamt falsch waren, und zwischen ihm und seiner Frau baute sich eine Wand aus eisigem Schweigen auf, sodass er bald hilflos verstummte. Wenn er die Augen schloss sah er die bunten, geduckten Häuschen von Ittoquorttoormit und die Eisberge, die geräuschlos und majestätisch in den Scoresby Sund hineintrieben. Er dachte seltsamerweise gerade jetzt daran, dass sich drei Viertel der Masse von Eisbergen unter der Wasseroberfläche befinden, und während er diesem Vorbeitreiben von Eisbergspitzen nachsann, wurde ihm kalt und immer kälter.
Früh am Morgen brühte er eine Tasse Kaffee auf, bevor er sich in sein Labor zurückzog. Die Schneekönigin geisterte durch die Zimmer und zog ihre Kälte wie eine lange Schleppe hinter sich her. Das eisige Schweigen der Nacht war geblieben. Es erübrigte sich, der Schneekönigin Fragen zu stellen und auf Antworten zu warten, und fast war der Doktor erleichtert. Was hätte er fragen sollen?! Jede mögliche Frage war falsch. Und ihre Antworten – hätte er sie hören wollen?
Achtundzwanzig
Kurz nach Schneewittchens Geburt stritten sich die Schneekönigin und der Doktor lautstark.
Der Doktor sass tief über ein Buch gebeugt in seinem Lieblingssessel. Er las nicht, sondern hing schweren Gedanken nach, und die plötzlich in schneidendem Ton hingeworfenen Worte der Schneekönigin liessen ihn heftig zusammenfahren. Wie immer hatte sie das Zimmer völlig lautlos betreten, und wie immer tat sie es in einem Moment, in dem man sie nicht erwartete. Sie wolle zurück nach Grönland, eröffnete ihm seine Frau, und das lieber heute als morgen.
Der Doktor rang hilflos die Hände. Ja, auch er wollte zurück nach Grönland, wo die Ewigkeit nahe war, aber nach zwei überstandenen lebensgefährlichen Reisen war er überzeugt, dieselben Strapazen nicht noch einmal auf sich nehmen zu können. Fast täglich dachte er an sein Unterwegssein und wunderte sich, dass er am Leben war, und so nahm er feige Zuflucht zu der Ausrede, er bestehe um Schneewittchens Willen darauf, dass die Familie bleibe im Land des Überflusses, der ausreichenden Vitaminversorgung. Vitamine sind nun mal lebenswichtig, überlebenswichtig, und Schneewittchen sollte es an nichts mangeln.
Er