Alexander Jordis-Lohausen

Weihnachtslegenden


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der Einöde. Er sah noch deutlich die sanften, dunklen Augen vor sich, aber wusste nicht, ob es ein Traum gewesen war oder Wirklichkeit. Er fühlte sich so wohl und kräftig, wie schon lange nicht mehr und kam ohne Schwierigkeiten auf die Beine. Die Nacht war kühl und über ihm glitzerten Tausende von Sternen. Der Hirte hatte ihn herzlos im Stich gelassen, jemand hatte sich liebevoll seiner angenommen und ihm geholfen zu überleben. Jetzt war er frei. Ohne zu wissen wohin, machte er sich auf den Weg, um sich einen neuen Herrn zu suchen. Dabei musste er immer wieder an jene sanften, dunklen Augen denken.

       Nach einer langen Wanderung gelangte er an einen Ort, an dem viele Tiere versammelt waren: Esel, Pferde, Kamele und auch Schafe. Es war noch früh am Morgen, aber es herrschte schon emsiges Treiben. Ein dicker Mann mit einem großen Lachen auf dem Gesicht kam ihm entgegen. „Ach, mein lieber grauer Freund! Du bist ja ein sehr schöner Esel! Komm ruhig näher! Du wirst hungrig sein, wir werden dich füttern!“ Der kleine Esel glaubte schon, die ganze Welt sei plötzlich besser geworden. Er freute sich und ließ es gerne gewähren, dass er gefüttert, getränkt und in ein großes Gehege gesperrt wurde. Der dicke Mann sah ihn dabei aus listigen Augen an.

       Als der kleine Esel im Gehege stand und niemand von ihm verlangte, schwere Lasten zu tragen, wandte er sich an einen alten Esel.

      “Ich bin ganz erstaunt, dass man hier so freundlich behandelt und gut verpflegt wird, ohne dafür arbeiten zu müssen.“

      „Du bist einfältig, junger Freund, wenn du denkst, dass es sich um Freundlichkeit handelt. Hier wird nur billig gekauft, gemästet und teuer verkauft. Ob es dir gut geht oder nicht, ist dem dicken Mann dort ganz gleichgültig. Für ihn ist die Hauptsache, dass du halbwegs gesund und stark aussiehst, damit er dich zu einem guten Preis wiederverkaufen kann. Er ist Viehhändler und sehr lange wirst du hier nicht bleiben. Wichtig ist, wo du dann hinkommst und wie man dich dort behandelt. Aber das erfährst du erst, wenn es für dich vielleicht schon zu spät ist. Und dem dicken Mann ist das auch gleichgültig, solange er ein gutes Geschäft gemacht hat.“

      „Aber er hat mich ja gar nicht gekauft. Ich bin freiwillig hierhergekommen!“

      „Das ändert gar nichts an dem, was ich dir eben gesagt habe. Nur wird der dicke Mann mit dir ein besonders gutes Geschäft machen. Kein Wunder, dass er dich so gut gefüttert hat!“ Dabei lachte der alte Esel, dass ihm die Ohren wackelten. Der kleine Esel aber war traurig, denn er hatte wirklich geglaubt, der dicke Mann wäre sein Freund. Hier konnte er also auch nicht bleiben. Er dachte wieder an die sanften, braunen Augen und wollte sie suchen. Aber er war ja in einem Gehege eingesperrt. Und schon am nächsten Tag kamen Käufer aus der Einöde, die ihm auf das Hinterteil schlugen, dass er zurücksprang, die ihm das Maul aufrissen, als hätte er etwas darin versteckt, und die dann endlos mit dem dicken Viehhändler um den kleinen Esel und um andere Tiere schacherten.

      „Verschlagener Schakal, der du bist!“ sagte einer der Käufer, als sie über das Eselchen sprachen, “Du willst uns für teures Geld dieses elende, alte Gerippe hier andrehen? Das geht ja ein, bevor wir unsere Zelte erreichen!“

      „Edle Wüstensöhne! Seht doch! Es ist ein starkes, junges Tier, wenn auch noch nicht ausgewachsen. Zu dem Preis ein wahres Geschenk!!“ Und so feilschten sie fort. Aber am Abend war der kleine Esel immer noch im Gehege und beschloss zu fliehen. Der erste Eindruck dessen, was ihm hier bevorstand, hatte ihm genügt.

       Es dauerte eine Weile, bis er in der Lehmmauer, die das Gehege umschloss, eine Stelle gefunden hatte, an der die Lehmziegel locker geworden waren. Und es dauerte noch länger bis er mit seinen Hufen und mit seinem Maul so viele davon vorsichtig heruntergestoßen hatte, dass er sich durch die entstandene Lücke unbemerkt durchzwängen konnte. Nun war er wieder frei und wanderte hinaus in die Einöde.

       Nach zwei Tagen Wanderung lief er einem römischen Centurio über den Weg, der hoch zu Ross mit seinem Trupp Soldaten zu einer Festung in der Einöde unterwegs war.

      „Du kommst uns ja gerade recht, Eselchen! Zum Soldatentier taugst du nicht, aber der Marcelina werde ich dich schenken! Die wollte doch schon immer reiten!“

       Die Marcelina war ein rundliches, junges Weib, das sich um die Küche der Hundertschaft kümmerte. Ihre Augen strahlten, als man ihr das unverhoffte Geschenk zuführte. Sie warf dem Centurio eine Kusshand zu, schlang ihre starken Arme um den Hals des Esels und küsste ihn mit ihren vollen, roten Lippen.

      „Ach, du reizender, süßer, armer, kleiner Esel! Du siehst ja gar nicht sehr gesund aus. Aber warte nur, du wirst sehen, die Marcelina wird sich um deine Wunden kümmern!“

       Damit nahm sie eine bunte Decke aus ihrem Tross und warf sie dem kleinen Esel über den Rücken, damit man seine wunden Stellen nicht mehr sähe. Dann schmückte sie ihr neues Spielzeug mit bunten Schleifen und Bändern, bis der Esel wie ein Zirkustier aussah. Dabei lachte sie und klatschte in die Hände. Als sie fertig war, setzte sie sich auf seinen Rücken. Marcelina war nun nicht gerade leicht und so hatte das Eselchen mal wieder schwer zu tragen, umso mehr als sie ihm mit einer Gerte über die Schenkel schlug, sobald er seinen Schritt verlangsamte. Als dann endlich der Abend kam, und die Soldaten ihr Lager aufschlugen, war er erschöpft und hungrig, und sein Rücken tat ihm weh. Marcelina gab ihm zwar zu essen, aber vergaß vor Freude über ihr neues Reiterglück völlig, sich um seine Wunden zu kümmern, wie sie es angekündigt hatte.

       So merkte der kleine Esel voller Enttäuschung, dass er der eitlen Dirne nur als Zierrat diente, der hübsch bunt auszusehen und sie flott zu tragen hatte, sie im übrigen aber nicht wirklich an ihm interessiert war.

       Als daher die Feuer des Nachtlagers heruntergebrannt und die Soldaten, in ihre Tuniken gehüllt, auf dem nackten Boden eingeschlafen waren und auch Marcelina nicht mehr zu sehen war, riss das Eselchen sich los und galoppierte wieder hinaus in die Einöde.

       Mehrere Tage und Nächte wanderte der kleine Esel herum, ohne irgend jemandem zu begegnen oder auf ein Zeltlager zu stoßen. Ganz müde und traurig legte er sich eines Abends in den langen Schatten eines Dornbusches zum Ausruhen nieder. Mehrmals stieß er seinen heiseren Schrei aus, aber niemand antwortete. Da begann sich zu fragen, ob er gut daran getan hatte, Marcelina verlassen zu haben. Aber bevor er eine Antwort finden konnte, war er eingeschlafen.

       Das Rauschen von Flügeln in der Luft und das Stampfen von Hufen auf der trockenen Erde ließ ihn wieder wach werden.

      „Was ist denn los? Wovor flieht ihr denn alle?“ fragte der kleine Esel ganz erschrocken ein vorbei galoppierendes Kamel.

      „Wir fliehen ja nicht! Im Gegenteil!!“

      „Wo rennt ihr denn dann alle hin?“ fragte das Eselchen weiter, aber das Kamel war schon längst vorüber.

      „In den Stall von Bethlehem! In den Stall von Bethlehem!!“ rief ihm ein Storch zu, der seine Frage gehört hatte.

      „Und wie kommt man nach Bethlehem?“ wollte der kleine Esel wissen, doch der Storch war schon wieder weit weg.

      „Immer auf den Stern zu!!“ antwortete ihm dagegen ein Wüstenfuchs, der auch dort entlang schnürte.

       Da machte sich der kleine Esel auf und folgte all denen, die in die Richtung zogen, in der am Horizont ein heller Stern mit einem langen Schweif leuchtete. Er fühlte auf einmal wieder dieselbe Kraft und dieselbe Freude, wie in der Nacht verspürt hatte, in der er dem Tode so nahe gewesen war.

       Es war gegen Mitternacht, als er das Städtchen Bethlehem mit seinen vielen weißen Häusern erreichte. Das Stadttor war fest verschlossen und alles lag in tiefem Schlaf. Die Schar der Tiere aber lief außen an der hohen Stadtmauer entlang bis hin zu einem kleinen, gegen die Felder offenen Gemäuer, in dem Stroh gelagert war, und das wohl den Kühen und Schafen