Bärbel Junker

König Oyster und sein Reich


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all die anderen zahlreichen Meeresbewohner der unterschiedlichsten und ungewöhnlichsten Formen, Farben und Muster, von keines Menschen Auge jemals gesehen, sie alle senkten beschämt ob ihrer Unbeherrschtheit den Blick.

      König Oyster musterte seine Untertanen streng. Und obwohl er sein Volk von ganzem Herzen liebte und ein überaus gütiger und verständnisvoller Herrscher war, regierte er mit strenger Hand und der nötigen Konsequenz, falls es erforderlich war. Gewalt duldete er ebenso wenig wie Unbeherrschtheit. Ordnung und Gehorsam, Anstand und Sitte mussten sein, waren lebenswichtig, wenn so viele verschiedenartige Geschöpfe miteinander leben und auskommen sollten.

      Schließlich sah man ja am Beispiel der Menschheit, wohin Disziplinlosigkeit und Gewalt, Egoismus und die Gier nach dem Besitz des Nächsten, dazu noch der Verlust jeglicher Moral und Ethik führten.

      In seinem Reich würde er derartige Zustände niemals dulden! Hier unten im Reich der Wasserlebewesen ehrten und respektierten sie die Weisheit des Alters, während die Menschheit dieses so wichtige und wertvolle Gefühl ebenso wie viele andere fast verloren hatte.

      Sie umsorgten ihre kranken und gebrechlichen Mitbewohner liebevoll und ließen sie ebenso wenig allein wie ihren Nachwuchs, der mit Verständnis und Güte, doch nötigenfalls auch mit Konsequenz und Strenge, erzogen wurde.

      Spiel und Spaß waren zwar auch sehr wichtig, doch nicht ausschließlich. Auch das Pflichtbewusstsein und besonders die Achtung vor jedwedem Leben nahmen einen hohen, sehr hohen, Stellenwert ein. Außerdem waren natürlich auch noch...

      „Sieh doch nur, Andros! Was für eine besonders schöne Schnecke“, unterbrach eine vergnügte Stimme abrupt des Königs Gedanken.

      König Oyster drehte verärgert den schweren Kopf in Richtung des Störenfrieds. Seine schweren Lider senkten sich halb über die Augen. Seine breiten Lippen spitzten sich als wolle er pfeifen, und sein Brustkorb spannte sich unter einem gewaltigen Atemzug.

      „Robby!“

      Tosend wie ein Orkan brach sich seine befehlsgewohnte Stimme an den Muschel- und Glaswänden und ließ nicht nur diese erbeben.

      „Robby! Hierher!“

       Klick. Klack. Klick. Klack.

      Zarte Muscheln lösten sich von den Wänden, sanken lautlos hinab, um für alle Zeiten im weichen Sand des sich unaufhörlich wandelnden Meeresbodens zu versinken. Seepferdchen klammerten sich Halt suchend aneinander. Schlanke Aalleiber drifteten hilflos unter der gewaltigen, Schallwellen erzeugenden Stimme ihres Herrschers in alle vier Himmelsrichtungen auseinander.

      Kinder klammerten sich in wilder Panik an ihren Fischeltern fest. Sprotten und andere leichtgewichtige Meeresbewohner taumelten schwerelos wie Blütenstaub zur gewölbten Glaskuppel des Saales empor.

      Schnecken und Muscheln zogen sich blitzschnell in ihre Häuser zurück. Muränen und anderes Getier vergruben sich hastig im Sand. Und selbst die nicht gerade leichtgewichtigen Delphine schwankten ein wenig haltlos hin und her. Ein nochmaliges, jetzt jedoch bereits gedämpftes:

      „Robby, komm sofort hierher!“

       Klick. Klack.

      Eine letzte Muschel versinkt im ockerfarbenen Sand.

      Ein weißer Schatten huscht pfeilschnell an der atemlos verharrenden Menge vorbei und passiert wendig und äußerst elegant den schmalen Durchgang, hinter dem eine geschwungene gläserne Empore der Dachkuppel entgegenstrebt.

      Und hier, auf seinem Thron, über dem das mit Juwelen und Perlen geschmückte Auge der Weisheit und der Gerechtigkeit über die Entscheidungen des Herrschers der Unterwasserwelt wacht, erwartet König Oyster den Störenfried. Der weiße Schatten gleitet gewandt neben ihn.

      „Hier bin ich, Großvater. Ich habe dir etwas mitgebracht“, verkündet die sanfte Stimme seiner Enkeltochter. Ein behutsamer Flossenschlag. Etwas Weiches gleitet in des Königs vierfingrige, auf der Sessellehne ruhende Hand.

      Er senkt den Kopf und schaut. Eine Blume, so weiß wie frisch gefallener Schnee, gesprenkelt mit seegrünen und aquamarinblauen Tupfern. Wie schön, denkt der König, der Blumen bewundert. Dieses liebe Mädchen! Er verkneift sich mühsam ein gerührtes Lächeln.

      „Was sollte dieser Lärm, Robby?“, fragt er stattdessen streng. „Hier findet eine wichtige Versammlung statt, falls dir das entgangen sein sollte. Wir haben Probleme, mein Kind. Große Probleme! Du, als die Thronerbin, solltest wahrlich mehr Interesse zeigen; schließlich besteht das Leben nicht nur aus Spiel und Spaß.“

      Robby senkte beschämt den Kopf. Ach, herrjeh! Die Versammlung! Die hatte sie doch glatt vergessen.

      „Wo seid ihr gewesen, du und deine Brüder?“, fragte der König streng.

      „Wir...wir haben Menschen beobachte“, kam es leise wie ein Hauch aus Robbys Mund.

      „Menschen?! Wann? Wo?“

      „I...im Plank...Planktongrund“ stotterte Robby wohl wissend, dass sie und ihre Brüder dort nichts zu suchen hatten.

      „Planktongrund?! Habe ich das richtig verstanden, Robby? Sagtest du wirklich Planktongrund? Diese Gegend ist doch für jedermann, hörst du, Robby:

      Für JEDERMANN! gesperrt.“

      „Ich weiß, Großvater“, flüsterte das kleine Robbenmädchen zitternd vor Scham, und eine dicke Träne, schillernd wie Perlmutt, rollte, eine feuchte Spur hinterlassend, ihre weiche Wange hinab.

      „Ach Gottchen! Die arme Kleine. Ich würde sie zu gerne tröstend an mein Herz drücken“, seufzte eine dicke Feuerqualle gerührt.

      „Sie ist aber auch zu niedlich“, säuselte Flonka, die gestreifte Wasserschlange, entzückt.

      „Zum Fressen süß“, zischelte ihre Artgenossin Portza spöttisch. „Wäre sie nicht die Thronfolgerin und würde sie nicht zu unserer Gemeinschaft gehören dann, ja dann ...!“ Sie beendete den Satz zwar nicht, aber ihre hornigen Kiefer mahlten vielsagend aufeinander.

      „Hi, hi“, kicherte die Feuerqualle. „Lass das lieber nicht den König hören, meine Liebe, sonst ...“ Sie verstummte verlegen unter dem vorwurfsvollen Blick eines urweltlich anmutenden Geschöpfes mit riesigen, weiß umrandeten Telleraugen.

      „Hör auf zu weinen“, flüsterte der König seiner Enkelin zu. „Wir wollen unserem Volk doch kein Schauspiel bieten.“

      Robby hob den runden weißen Kopf und sah ihn um Vergebung heischend an.

      „Ist ja schon gut, Kleines“, murmelte der König. Unter seinen schweren, violettfarbenen Lidern hervor betrachtete er sein Enkelkind. Seltsam, dachte er wie schon so oft. Seltsam, dass die Nachkommen meiner Rasse bis zu ihrem vierten Lebensjahr wie ganz normale Robben aussehen mit dem einzigen Unterschied, dass ihr Fell weiß ist und dass wir erst mit zunehmendem Alter die uns vorherbestimmte Gestalt annehmen. Und auch seltsam ist, überlegte er weiter, dass ausschließlich den Mitgliedern meiner Familie, der Königsfamilie, zusätzlich zu ihren Flossen auch noch zwei menschenähnliche Arme mit vierfingrigen Händen wachsen.

      Noch war davon nichts bei Robby zu sehen. Aber in wenigen Jahren würde auch sie sich verändern, ebenso wie ihre Brüder, und ihm zum Verwechseln ähnlich sehen. Bis auf die Rückenstreifen selbstverständlich.

      Denn nur in der Anzahl der violettfarbenen Bogen oberhalb dieser Streifen unterschieden sich die Angehörigen der Königsfamilie voneinander. Doch das vermochten Außenstehende natürlich nicht zu erkennen, wo doch dieses Unterscheidungsmerkmal selbst innerhalb seines Clans nicht selten zu Missverständnissen führte.

      „...und da haben wir es gesehen, Großvater“, schreckte ihn die Stimme seiner Enkelin aus seinen Gedanken auf.

      „Bitte, was? Was habt ihr gesehen?“, fragte der König verwirrt.

      „Die Fässer, Großvater. Viele, viele große Fässer.“

      „Ähnelten