R. B. Landolt

Eine Schlange in der Dunkelheit


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Vorstellung ein. Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Du stellst dich ganz vorne hin, direkt vor den Vorhang, und was immer geschieht, lass es geschehen, klar?“

      Ein paar Sekunden, nachdem die Uhr am nahen Kirchturm zwei Uhr geschlagen hatte, brauste ein höllisches Getöse aus Trompetenstößen und Trommeln über den Jahrmarkt. Im Nu drängten sich die Zuschauer in dichten Reihen in der Mitte des Marktplatzes. Farbige Wimpel flatterten im Wind, und an einer rot bemalten Stange hing eine Fahne, auf der in großen Lettern Zirkus Magico geschrieben stand. Das erwartungsvolle Gemurmel verstummte, als die Vorhänge zur Seite glitten.

      Auf der linken Seite stand ein halbnackter Mann, auf seinem riesigen Schädel ein weißer, mit kleinen Vögeln verzierter Turban. Ihm gegenüber blies ein Zwerg falsche Töne aus einer Kindertrompete und hämmerte gleichzeitig voller Eifer auf eine zerbeulte Trommel ein. Er trug eine unförmige rote Nase, und seine Schuhe, die unter einer grässlich karierten gelben Hose hervorlugten, wären auch einem Riesen ein paar Nummern zu groß gewesen. Beim letzten Ton hüpfte ein kleiner spitzbäuchiger Mann hervor. Mit einer eleganten Bewegung zog er den schief sitzenden Zylinder vom Kopf und enthüllte volles weißes Haar, das er glattgekämmt und mit einem sauber gezogenen Scheitel trug.

      „Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrtes Publikum, liebe Kinder“, hob er an, „ich möchte Sie im Namen der Künstler begrüßen und Sie zur Teilnahme an unserem absolut einmaligen Programm einladen. Ich habe das große Vergnügen, Sie mit unseren Attraktionen bekannt zu machen. Nie zuvor in der Welt des Zirkus hat man eine derartige Kombination von Können, Anmut und Eleganz gesehen.“ Das Publikum lachte über den kleinen Mann, der seine Begeisterung so unverhohlen zeigte. „Doch keine langen Reden mehr“, sagte er, „Lasst uns beginnen!“

      Der Zwerg legte das Instrument weg und sagte die erste Nummer an. Die Zuschauer zuckten zusammen. Die Stimme war nicht nur laut, sie klang tief und misstönend, wie das Timbre eines falsch gestimmten Blasinstruments.

      Jetzt erwachte der halbnackte Mann zum Leben und griff nach einer Fackel. Sekunden später tropfte Harz auf den Boden, eine gelbschwarze Rauchfahne stieg in den Himmel, verfolgt von unzähligen Augenpaaren. Im nächsten Augenblick zuckte eine Flamme aus seinem Mund, begeistertes Klatschen begleitete sie auf dem Weg in die Wolken.

      Im Verlauf der nächsten Stunde wurde dem Publikum ein Leckerbissen nach dem anderen präsentiert. Die Zuschauer waren hingerissen, und der Applaus am Ende der einzelnen Nummern schwoll zu einem Orkan an. Jaco ließ sich durch die Begeisterung mitreißen, doch er blieb wachsam und warf immer wieder einen Blick über die Schulter. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihm seine Verfolger noch immer auf den Fersen waren.

      Der Direktor, der die nächste Nummer ankündigte, holte Jaco zurück zur Vorstellung. „Meine Damen und Herren“, sagte er gedämpft, „wir werden nun das besondere Vergnügen haben, die unnachahmlichen Fähigkeiten Madame Olgas zu genießen. Doch bevor wir beginnen, ein paar Worte zu der außergewöhnlichen Künstlerin, deren Gegenwart Sie in wenigen Minuten entzücken wird.” Er brach ab und blickte ernst zum Himmel. „Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, ist leider wahr. Die kleine Olga litt in ihrer Kindheit an Albträumen, die sie manchmal für Tage nicht schlafen ließen. Ihre Mutter pflegte an ihrem Bett zu wachen, wenn es besonders schlimm war, doch stellen Sie sich ihr Entsetzen vor, als das Kind eines Tages, in schläfriger Trance, unvermittelt zu sprechen begann und vor einer Reise warnte, die ihnen allen den Tod bringen würde ... Madame wusste, was zu tun war. Sie sagte die Reise gegen den Willen ihres Mannes ab, und war glücklich und traurig zugleich, als man nach einigen Wochen von einem schrecklichen Unglück berichtete, das mehreren Reisenden den Tod gebracht hatte.” Erneut legte der Direktor eine bedeutungsschwere Pause ein. „Bitte, meine Damen und Herren, begrüßen Sie sie mit einem warmen Applaus!“

      Jaco zog überrascht die Brauen hoch, als ihm abseits der anderen Zirkusleute eine Frau ins Auge fiel, die mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl saß, umgeben von einer Aura, die sie wie ein unsichtbarer Mantel aus etwas Dunklem, Zerbrechlichem einhüllte. Sie war um die vierzig, klein und zart, in schwarzen Samt gekleidet. Das Haar fiel über ihr Gesicht, auf dem eine leichenhafte Blässe lag. Unter dem getuschelten „Oh!“ und „Ah!“ der Zuschauer trat sie langsam nach vorne und machte es sich in einem mit bordeauxrotem Plüsch bezogenen Sessel bequem.

      „Meine Damen und Herren, den folgenden Herrn brauche ich Ihnen nicht vorzustellen. Hier kommt Caligari!“

      Grabesstille machte sich breit. Aus der Seitenwand löste sich eine Gestalt. Jaco hielt unwillkürlich den Atem an. Bis jetzt hatte ihm die Vorstellung Spaß gemacht, doch nun beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl des Unbehagens.

      Die Worte des Zauberers schnitten, melodisch und messerscharf zugleich, durch die Grabesstille, die mit einem Mal wie eine dunkle Wolke über den Zuschauerreihen lag. „Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie und schlage Ihnen vor, uns ins Labyrinth verschlungener Wege, in die geheimnisvolle Welt des Okkulten, in die mystische Sphäre des Übersinnlichen zu begleiten!“

      Das Spektakel begann. Mit einer leichten Verbeugung vor der Hellseherin hob er den Kerzenhalter auf Augenhöhe und begann in einer fremdländischen Sprache zu murmeln, bis ihr Kopf auf die Brust sank.

      „Gut, so lasst uns beginnen ... Olga, bist du bereit, meine Fragen zu beantworten?“ Sie nickte langsam. „Olga, sag mir doch bitte den Vornamen des Herrn ganz links in der ersten Reihe!“

      „Er heißt Adalbert.“

      Ihre Antworten klangen teilnahmslos, sehr leise, fast ein Flüstern. Während der Zauberer weitere Fragen stellte und Olgas Antworten anfangs zögernden, dann immer heftigeren Applaus auslösten, stellte sich Jaco auf die Zehenspitzen, um einen Blick hinter die Vorhänge zu werfen. Eine Dame formulierte stockend eine Frage nach ihrem verstorbenen Gatten, doch er hörte nicht mehr hin, denn zwischen den Tüchern hindurch zeigte sich ein Mädchen. Ihre Augen huschten aufmerksam über das Publikum.

      Die Hellseherin

      Serafina spürte eine ungewohnte Nervosität. Normalerweise blieb sie unberührt durch die Hektik hinter dem Vorhang und wartete gelassen auf ihren Auftritt. Doch an diesem Tag konnte sie nicht einmal ihr Papagei Napoleon besänftigen, der, auf ihrem Arm sitzend, das Gefieder plusterte und zärtlich an ihrem Ohr knabberte.

      „Meine Dame, Sie sehen wieder mal großartig aus.“ Der Zwerg legte Trommel und Trompete weg und setzte sich auf eine Kiste.

      „Warum klingt das immer so überrascht, Shi-Sha?“, fragte Serafina kühl, lächelte aber. Sie war in ein Kleid aus mattem weißem Stoff gekleidet, eine rosafarbene Schleife in das lange, feucht glänzende Haar gewunden.

      „Du bist doch der einzige Lichtblick unter uns. Und wenn ich sagen darf, ein außerordentlich erfreulicher Lichtblick. Wäre ich ein paar Köpfe größer und zehn Jahre jünger, dann ...“

      „… wärst du immer noch zehn Jahre zu alt“, beschied ihm Serafina, stupste ihn aber liebevoll in die Seite. „Was wäre dann? Würdest du um mich kämpfen?“

      Er sprang auf den Boden und deutete eine Verbeugung an. „Aber sicher, mein huldvolles Fräulein, mit Pferd und Rüstung und Schwert! Und ich würde kämpfen um Sie, bis zum Tod, in Tapferkeit und Ruhm.“ Er wehrte mit einem imaginären Schwert einen ebenso imaginären Gegner ab, teilte kräftige Hiebe aus, duckte sich elegant und schlug schnelle Fußtritte gegen unsichtbare Schienbeine. „Ich bin stark, ich bin unschlagbar, ich bin der Größte! Soll jemand wagen, Sie zu bedrohen, ich haue ihn in Stücke!“

      Sie lachten beide so sehr, dass keiner von ihnen die Frau bemerkte, die sich unbemerkt genähert hatte, eine Matrone mit ausladenden Hüften und derbem Gesicht. Ihre Haare, für Eingeweihte leicht erkennbar als kunstvoll geflochtene Perücke, glichen einem geschmückten Vogelnest. „Oh, da haben wir wohl ein neues Liebespaar“, gluckste sie. Serafina merkte, wie ihre Ohren rot wurden, und bedachte die Frau mit einem wütenden Blick.

      „Verehrte Dame Agatha, seien Sie willkommen in unserem trauten Kreis.“ Shi-Sha machte einen formvollendeten Knicks, doch die Matrone, von den Galanterien des Zwerges wenig beeindruckt, winkte ab.

      „Nun