diejenigen, welche die zweite Anforderung natürlicher Selektion auch noch erfüllen, verschwinden nicht völlig mit ihrem Tod, bleiben dem Wechselspiel des Lebendigen erhalten: In der Form ihrer Gene, also erblicher Eigenschaften bei identischen oder verwandten Nachkommen. Biologisch betrachtet ist Fruchtbarkeit viel wichtiger als fast alle anderen Eigenschaften. Ein Individuum mag noch so begabt sein, wehrhaft, groß oder schlau und überlebenstüchtig, wenn es nicht fruchtbar ist, kann seine Sippe, die Spezies und seine Abstammungslinie insgesamt nichts davon erben und weder körperlich größer noch klüger werden.
Natürlicherweise gehen wechselnde Anzahlen von Nachkommen jeder Elterngeneration zugrunde, ohne ihrerseits Nachwuchs erzeugt zu haben. Um die Überlebenschancen der eigenen Abkömmlinge - oder Verwandter mit möglichst viel gleichen Genen - zu erhöhen, sind zwei alternative Fortpflanzungsweisen natürlich selektiert worden:
1 Größtmögliche Anzahlen von Samen, Eiern, Frchten, Jungtieren, Kindern pro Lebenszeit herzustellen;
2 ihre qualitative Begünstigung gegenber den selektierenden Umweltfaktoren, vornehmlich durch Ernährung, Schutz, Temperaturregulation.
Bei zwittrigen Spezies, sogenannten Hermaphroditen, nutzen alle Individuen beide Strategien für ihre Nachkommenerzeugung. Aber ganze Tierklassen sind stammesgeschichtlich entweder zum quantitativ vermehrenden ersten Fortpflanzungstyp selektiert worden oder alternativ zum qualitativ verbessernden Zweiten. Viele Tierarten entwickelten zusätzlich eine Spezialisierung der Geschlechter auf je eine der beiden Hauptstrategien zur Nachkommenausbreitung. Als männlich gelten der biologischen Begrifflichkeit Organe, Individuen und Verhaltensweisen, welche die erzeugte Nachkommenzahl pro Leben maximieren - also quantitativer Elternaufwand. Weiblich bedeutet in derselben Terminologie Verbesserungen pro Keimzelle zu leisten, insbesondere vermehrt Nährstoffe mitzugeben - also qualitativer Elternaufwand.
Alle Säugetiere sind stammesgeschichtlich zur qualitativ verbessernden Nachkommenerzeugung selektiert und erzeugen zahlenmäßig relativ wenig Nachkommen pro Individuum in ihrer Lebenszeit. Oft weniger als Hundert, selten mehr als einige Tausend. Doch spezialisierten sich die beiden Geschlechter all dieser Spezies darüber hinaus gegensätzlich auf die eine oder andere der alternativen Fortpflanzungsstrategien. Weibliche Vorleistungen an Tragzeit und Milchnahrung für jedes einzelne, lebend geborene Baby, ermöglichen es männlichen Säugetieren die Anzahl eigener Nachkommen zu erhöhen, indem sie mehrere Sexualpartnerinnen begatten. So viele wie sie persönlich erreichen und befruchten können. Ein einziger Bulle vermag körperlich Tausende Kälber, mitsamt seinem halbierten Genom, ins Leben zu stoßen. Denn die Befruchtung jeder gereiften weiblichen Eizelle kann mit einem einzigen männlichen Samenerguss gelingen und funktioniert meistens, wenn er zur rechten Zeit kommt. Ob tatsächlich Nachkommen geboren werden und wie viele, hängt dann allein von der Sexualpartnerin ab, die dabei Mutter wird (s. II 1.).
Diese biologischen Gegebenheiten der Fortpflanzung aller Säugetiere finden in der Viehzucht schon immer Anwendung: Nur die allerbesten männlichen Tiere sind berhaupt zugelassen. Allein der allerschnellste Hengst darf die rossigen Stuten in der Rennpferdezucht begatten und jede Menge Nachwuchs mit seinen Erbanlagen für höchste Geschwindigkeit ausstatten. Der Championbulle einer Samenbank für Milchvieh erzeugt leicht zwanzig- bis dreißigtausend Kälber, die seine erblichen Eigenschaften durch gleiche Gene ausbreiten. Alle durchschnittlichen Bullen und Hengste werden kastriert, zu Ochsen und Wallachen kultiviert. Arbeitstiere und Schlachtvieh. Sie sind also künstlich von jeder Fortpflanzung ausgeschlossen.
Die Natur ist genauso verschwenderisch mit einzelnen Lebewesen, wo es um die nächste Generation einer Spezies geht. Im Wettbewerb mit unabsehbaren Mengen von Konkurrenten, verausgabt jedes Lebewesen all seine Energien und Fähigkeiten, für eine Chance den eigenen Tod zu berschreiten, eine Transzendenz des individuellen Lebens zu erreichen. Wegen der Konkurrenz von Artgenossen und möglicher Verdrängung in seiner Generation oder den nächsten zwei-drei, muss jedes Individuum so viele erwachsene Nachkommen erzeugen als irgend machbar während seiner Lebenszeit. Bei Strafe des Untergangs seiner erblichen Eigenschaften. Infolgedessen werden alle körperlich möglichen Mengen vegetativer Abkömmlinge und Abermillionen sexuell befruchtete Eier, Larven, lebende Junge von jeder Generation erzeugt. Ein riesenhafter Überschuss an Nachwuchs kommt zur Welt, wovon die meisten nicht einmal halb heranwachsen, sodass nur einige Wenige sich ihrerseits fortpflanzen: asexuell durch einfache Zellteilungen (Mitose) sowie sexuell mit neu kombinierten Erbeigenschaften (meiotisch). Die Biologie spricht von 'expendable Surplus' also einem Überschuss an Lebensenergie, den Individuen verausgaben können als Material für die gestaltenden Kräfte natürlicher Selektion. Darunter können ganze Bevölkerungsteile fallen, eine lebende Masse von Artgenossen, woraus künftige Entwicklungen der Spezies entspringen.
Teil II Zweierlei Liebesbindung
Am Anfang war Sexualität ein Gen-Austausch zwischen gleich gestalteten und gleich befähigten Einzellern. Chemisches Erkennen von Artgenossen durch Pheromone (Sexuallockstoffe) oder wechselseitige Haftvorrichtungen sind erste Zellstrukturen einer Evolution zu sexuell unterschiedlichen Individuen derselben Spezies: Die Haken und Ösen der ursprünglich gleichen Einzeller vereinfachen sich zu Haken bei den einen und Ösen bei den anderen; Pheromon-Sendern bei den einen und dazu passenden -Empfängern bei den anderen. Wobei dahingestellt bleiben muss, ob Haken als männlich gelten sollen und Ösen als weiblich oder umgekehrt! Senden von Sexuallockstoffen als weiblich und deren Empfang als männlich?
Sehr viele Spezies vollziehen ihre Sexualität nicht zugleich mit Vermehrung und Erzeugung einer neuen Generation, sondern zusätzlich als genetische Vermischung zweier Artgenossen, eingestreut zwischen regelmäßige asexuelle Fortpflanzungen. Die bereits erwähnten Einzeller, z.B. Pantoffeltierchen legen sich gelegentlich nebeneinander und tauschen halbierte Zellkerne aus über eine eigens dafür hergestellte Gallertbrcke aus Zellplasma zwischen ihren beiden Körpern. Ihre Vermehrung geschieht die meiste Zeit durch einfache Zellteilung als körperliche Verdoppelung von Zelle und sämtlichen Genen. Asexuell. Immer wenn ein Tier über eine bestimmte Größe hinaus gewachsen ist, spaltet sich sein Körper mitten durch und die Chromosomen des Zellkerns längs, also mitotisch in zwei gleiche Teile. Dabei entstehen genetisch identische Nachkommen, die natürliche Klons eines Elternindividuums sind. Jedes einzelne Lebewesen kann sich mittels derlei asexueller Fortpflanzung ausbreiten. In geometrischer Reihe, welche je länger sie wird, umso sprunghafter, schubweise expandiert. Solche unsterblichen Einzeller-Klons erhöhen durch gelegentliche Sexualität die genetische Variationsbreite ihrer Nachkommen. Über ihre zufällige Mutationsrate hinaus. Sie erzeugen in sexuellen Neukombinationen ihrer Gene erbliche Varianten jenseits ihrer bisherigen Erbanlagen und möglicherweise verbesserte Genotypen. Meist um sich Veränderungen in ihren Umgebungsbedingungen schneller anzupassen, beispielsweise zum Überwintern.
Insofern Sexualität eigentlich nur eine Biotechnik zur Neukombination der Gene von jeweils zwei Individuen ist, erscheinen die mühsamen und gefährlichen Paarungen höherer Wirbeltiere Partnersuche, Imponierverhalten, Rivalenkämpfe für jede einzige ihrer Vermehrungen, allzu aufwändig, regelrecht verschwenderisch an Lebenszeit und Energie. Insbesondere wenn man bedenkt, dass auch noch die meisten männlichen Säugetiere völlig leer ausgehen: all die Hengste, Hirsche, Bullen, die niemals eine Herde erobern, keinerlei sexuelle Verbindung erreichen, keine Nachkommen erzeugen und daher auch kaum Liebesbindungen empfinden.
II 1. Surplus Males
Bei Säugetieren gehört das männliche Geschlecht sehr weit gehend zur überschüssigen Bevölkerung für die Wirkungen selektiver Anpassung. Wieso lässt sich biologisch folgendermaßen erklären: Der Soziobiologe C.G.Williams (1970) berechnete für jeden Akt sexueller Fortpflanzung einen doppelten Nachteil gegenber asexueller Vermehrung, insofern männliche Nachkommen, außer meiotischer Chromosomenteilung zur Erzeugung ihrer haploiden Spermien, kaum Beiträge leisten für Fortpflanzungserfolge von Eltern, der Sippe oder Spezies. Denn wie viele Jungtiere geboren werden und heranwachsen hängt zumeist vom Muttertier ab. Der Populationsgenetiker Maynard Smith (1978) bezeichnet diesen Evolutionsnachteil sexueller Fortpflanzung als 'Produktion überflüssiger Männchen'