Iris Wandering

Unglück


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schwer. Für Silvia, die das Ganze nur aus der Entfernung betrachtet, sieht es leichter aus. Bleibt nur noch ihre Phantasie.

      Wie gut, dass das Haus recht wenige Treppen hat. Der Gedanke auszuziehen kommt für Max gar nicht in Betracht, denn das wäre verantwortungslos. Und dann führt Max ja auch das Büro des Vaters quasi alleine. Mini meint, dass es eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen kann. Also bleibt nur die Lösung, für ein gutes Heim zu sorgen. Dann kann Max endlich das Elternhaus mitsamt der Verantwortung für die Familie hinter sich lassen. Dann kann er ein neues, ein selbstbestimmteres – sein eigenes Leben beginnen.

      Mini, ebenfalls groß gewachsen, mit glattem, langem dunklen Haar, kleiner Brille auf der niedlichen Stupsnase und die schmalste von den drei Geschwistern, findet die Lösung, die ihre Oma für sie hat, auch nicht wirklich gut. Denn wenn es nach Oma ginge, solle sie zu Hause bleiben und den Vater pflegen. So wie es früher eben immer war und so wie sich ihre Tochter um sie und ihre Schwägerinnen kümmert. Das jüngste Kind bleibt zu Hause und versorgt selbstverständlich die Alten. Mini hat andere Pläne für sich selbst. Sie möchte in eine andere Stadt umziehen, ein Studium machen und sich einmal nur um sich kümmern können. Vielleicht Hamburg, vielleicht Berlin, vielleicht München. Auf jeden Fall soll sie groß sein die Stadt, in die sie geht.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Aufbruch

      Normalerweise ließ Max immer zuerst den Hund raus, aber seit seine Hündin Hexe tot ist, hat sich sein Morgenritual deutlich verändert. Jetzt geht er kaum noch mit seinem Tee in der Hand hinaus in den weitläufigen Garten oder setzt sich auch nicht mehr so oft wie früher auf einen der Steinwälle, die sein Vater mit ihm als Zwölfjährigen zusammen in leichten Terrassen angelegt hatte – oder war es umgekehrt gewesen?

      Hexe hatte alles und jeden neu beschnüffelt, als wäre es ein fremder und nicht ihr eigener Garten. Was nicht nur an Hexes sprunghaftem Wesen, sondern auch an den vielen tierischen Besuchern gelegen haben könnte.

      Max erinnert sich daran, dass seine beiden Schwestern früher gerne mal im Garten schliefen, aber der nächtliche Geräuschpegel hatte Silvia meist schon in den frühen Morgenstunden wieder zurück ins Haus gehen lassen. Und Mini verschlief so ziemlich alles, war ohnehin schwer zu wecken und dann oft empört, wenn Silvia sie alleingelassen hatte. Dabei versicherte Silvia ihr immer wieder aufs Neue, sie nicht in ihrem seligen Schlaf stören zu wollen. Vielleicht sollte Silvia nicht von sich ausgehen, denn Mini hat wohl weniger das Problem mit dem Schlafen als sie selbst. In der Zeit als Silvia wegen der ständigen Streitereien mit ihrer Mutter von dort weg und wieder zu ihnen zog, um in Ruhe das Abitur zu machen, las Mini der großen Schwester oft so lange vor, bis diese endlich eingeschlafen war. Verrückte Welt!

      Das Haus steht am Feldrand. Max lässt den Blick weit bis zu den nächsten Hügeln schweifen. Er hat die Morgenstunden meist für sich allein. Früher hatte der Vater ganze Nächte durchgearbeitet. Die beiden Männer begrüßten sich morgens nur kurz in der Küche, bevor sein Vater ins Bett oder zu einem Termin verschwand. Und Max ging dann entweder in die Uni oder in das väterliche Büro, wo er den Bürostuhl vor dem Computer meist noch warm vorfand.

      Die Sonne scheint. Es ist ein richtig schöner Frühsommertag heute. Der Tee dampft vor sich hin, während Max die Unterlagen, die die Firma ihm zugeschickt hat, wohl zum gefühlt hundertsten Male durchsieht.

      Es ist viel zu warm für einen Anzug, aber der muss wohl sein. Die Weste darunter lässt er lieber weg. Das wäre zu viel des Guten und für den heutigen Termin auch nicht angebracht. Für das hellblaue Hemd und den beinahe bunten Schlips entschieden, verabschiedet sich Max später nur ganz knapp von seinem Vater und seiner Schwester Mini, er sei ja in zwei Tagen wieder da. Er übernachte bei einem Kommilitonen, hatte er ihnen vor ein paar Tagen erzählt. Je bestimmter er seine wenigen Worte ausspricht, umso weniger Fragen werden ihm gestellt. Es ist ein wenig wie das Füttern eines hungrigen Tieres: Solange er nur Stück für Stück genug hergibt, wird er nicht weiter bedrängt. Andersherum könnte man wohl auch sagen, die Familie hielte ihn an der langen Leine. Was macht das schon? Das Ergebnis zumindest ist, dass er sich auf diese Weise einen gewissen Freiraum verschaffen kann. Und bald würde sowieso alles anders sein.

      Verdammt! Max flucht. Sein Rad hat einen Platten. Aber Silvi ist nicht da, denkt er, dann kann sie also auch nicht wissen, dass er ihr Rad für die Fahrt zum Bahnhof benutzt. Sie würde sicherlich meckern, dass es dort schnell geklaut werden könnte, gerade weil es über Tage dort stehen würde. Aber das ist sowieso eine Schrottmöhre, die sie einfach hiergelassen hat. Will ja eh keiner mehr haben. Na ja, oder so wie er: Eben mal schnell von A nach B. Kein Wunder, dass sie sich nach der letzten Geschwistertour in England ein neues Rad zugelegt hatte, sie kam kaum noch mit. Egal, er muss los. Halt, Schloss nicht vergessen! Die Tür neben dem Garagentor knallt zu. Lauter als beabsichtigt, weil er es nun sehr eilig hat.

      So ein Mist! Den von ihm eingeplanten Zug hat er um eine Minute verpasst. Aber was für ein Glück, der nächste kommt gleich. Obwohl leicht außer Atem geraten, wandert Max auf dem Bahnsteig in Gedanken versunken auf und ab. Eine größere Tasche braucht er nicht mitzunehmen, denn er hat noch genug Sachen zum Wechseln bei Anna in Hamburg. Und das winzige flache schlichte Kästchen mit dem Ring für sie hat er vorsorglich innen in seine Sakkotasche gesteckt, dort ist es am sichersten findet Max. Man könnte ihn glatt für einen Kinderring halten, so zarte Hände hat Anna. Was sie wohl sagen wird? Und gleich darauf fragt er sich, was der Termin an diesem Tag bringen mag.

      Das Vorstellungsgespräch ist für den frühen Nachmittag angesetzt. Und danach macht die Firma noch ein Auswahlverfahren. Was für ein Tag! Aber das Wichtigste – wird sie «Ja» sagen? Dass er mit ihr reden wolle, hatte er ja schon anklingen lassen.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Erwachen

      Anna wacht ziemlich spät am Morgen und dazu verkatert auf. Sie wirft einen Blick auf ihren Radiowecker. Es ist zehn Uhr. Viel zu spät, um bei Max anzurufen und ihm Glück zu wünschen. Außerdem will er nicht angerufen werden. Er meldet sich lieber bei ihr.

      Ein wenig mühsam richtet sie sich im Bett auf. Mit ihrer Nachbarin Nina ist Anna gestern versumpft und das macht sich an ihrem dicken Schädel gerade deutlich bemerkbar.

      Das so oft verregnete Hamburg präsentiert sich heute von seiner schönsten Seite, blauer Himmel pur. Nina ist auch erst vor Kurzem in das Haus eingezogen und nur wenig älter als Anna. So erkunden sie oft zusammen die für sie beide neue Stadt oder besuchen sich gegenseitig, wann immer es Annas Arbeit oder Ninas wechselnde Schichten zulassen. Na, macht nichts, bis zum Nachmittag läuft Anna wieder «rund» und die nächsten Tage hat sie ohnehin frei. Wie gut, dass sie die Überstunden, den Urlaub und eigentlich alles mit in den neuen Vertrag, die neue Stadt und die neue Wohnung übernehmen konnte. Alles verläuft in geraden Bahnen, so wie sie es gerne hat. Fehlt nur noch Max. Aber irgendwie ist ihr mächtig komisch. Übel und ein bisschen schwindelig. Vielleicht sollte sie die Abende demnächst etwas weniger «flüssig» gestalten.

      Nach einem kurzen späten Frühstück, das vor allem aus Zähneputzen und jeder Menge Mineralwasser besteht, geht Anna zunächst einmal in den Keller, um die schönen Gläser nach oben zu holen. Einige der Umzugskartons hat sie noch gar nicht ausgepackt. Die neuen Weingläser, die sie nach längerem Suchen in einem der Kartons findet, sind für heute Abend gedacht. Jetzt scheint ihr der rechte Moment dafür zu sein. Denn eines ist klar, es soll ein schöner Abend werden, überhaupt eine schöne Zeit mit Max. Jetzt, da er sogar für zwei Tage hier sein und sie ihn nur für sich haben wird. Anna möchte Max Dinge und Orte zeigen, die sie zum Teil selbst entdeckt oder in einem Stadtführer gefunden beziehungsweise von Kollegen oder Nina genannt bekommen hat. Vielleicht bleiben sie aber auch nur zu Hause, das wäre auch sehr schön.

      Max hatte Anna davor gewarnt, alle Sachen unaussortiert einfach mitzunehmen, aber sie hatte sich nicht darum gekümmert und weder Zeit noch Lust dazu gehabt. Er ist immer so praktisch. Vielleicht ist er gerade deswegen eine so gute Ergänzung zu ihrer fröhlichen und spontanen Art.

      Also kann sie heute einmal mit den Kisten im Keller weitermachen. Anna legt sich, wie auch beim Putzen, ihre