Jan Nadelbaum

Das bunte Haus


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      Familie Mouton aus dem Erdgeschoss interessierte sich weder für ihre Mitbewohner, noch für die Nachbarschaft. Sie schätzte sich glücklich, wenn sie jeden Monat über die Runden kam, ebenso wie Herr Leclerq unterm Dach. Nachdem ihn seine Frau hatte sitzen lassen, trat er jeden Tag ein Stück weiter den Weg in die innere Emigration an. Er interessierte sich noch nicht einmal mehr für sich selber.

      Am östlichen Ende des Platzes hatte vor kurzem die Vermieterin gewechselt. Beinahe fulminant hatte Frau Beata, die man in der Stadt seitdem den ‚Kampfbigos‘ nannte, die Vorbesitzerin aus dem Haus gejagt. Diese war bankrottgegangen, weil sie sich verspekuliert hatte. Ähnliches drohte – munkelte man zumindest – auch dem Vermieter des südlichen Hauses, dessen Name die meisten vergaßen, wenn sie ihn gehört hatten. Inner- und außerhalb hieß er bloß ‚Silberpudel‘. Wenn man ihn brauchte, nahm man ihn mit und ansonsten ließ man ihn halt da, wo er war. Seine Mieter machten eh, was sie wollten und orientierten sich stärker an Herrn Heinz, obwohl der eigentlich nicht viel zu sagen hatte. Er traf hingegen oft den richtigen Ton, und wenn er eine einbruchssichere Haustür wollte, dauerte es nicht lange, bis er die übrigen Mieter überzeugt hatte und der Silberpudel eine solche einbauen ließ. Im Grunde genügte Herrn Heinz sein kleines Dentallabor, jedoch reizte ihn – ähnlich wie Frau Le Stylo – das, was böse Menschen als Macht und gute Menschen als Einfluss bezeichnen.

      Menschen wie Herr Heinz und Frau Le Stylo wohnten in allen Häusern am Platz – kein Anlass zur Sorge also. Schlechte Vermieter verdienen keine braven Mieter. Ein bisschen Aufmüpfigkeit sorgt für Belebung und die konnte der kleine, ruhige Platz allemal gebrauchen. Die sollte er kriegen…

      Mutti öffnet die Tür

      Es goss in Strömen. Selten hatte die kleine Stadt einen derart heftigen Regen erlebt. Er wollte anscheinend gar nicht mehr nachlassen. Die Lichter in den Häusern am Platz waren längst ausgelöscht, die Fensterläden dicht, die Türen verschlossen. Unnachgiebig prasselten die Tropfen auf das sich im Licht der Straßenlaternen spiegelnde Kopfsteinpflaster nieder. Ihr gleichmäßiger Rhythmus hatte etwas Beruhigendes, insbesondere für Herrn Thomas: Er schlief tief und fest. Wenn er schlief, hätte es blitzen, hätte es donnern, hätte das halbe Haus zusammenbrechen können – nichts störte ihn, solange er genüsslich schnarchte mit dem Regen als Hintergrundmusik.

      Drei finstere Gestalten huschten durch die Nacht, durch die schmale Gasse, die direkt auf den Platz führte. Sie schlugen an viele Türen, doch niemand öffnete. Ihre Kleider waren durchnässt und der Regen troff von ihren tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, die sie eigentlich schützen sollten, ihnen nun indes – wie ihre Kleidung am Körper – auf den Stirnen klebten. Müde stolperten sie über das Pflaster, das Schuhwerk gänzlich durchtränkt vom Schlamm der schlechten Straßen, die sie hierher hatten nehmen müssen. Eine von ihnen trug ein Kind in ihren Armen. Es fror. Es schrie. Es weinte. Mit geduldiger Verzweiflung strich sie ihm über die Wange. Es hielt inne, blickte sie an, schrie nicht mehr, aber weinte fort.

      „Weiter, weiter“, trieb sie jemand und wies zum bunten Haus, das wie ein erratischer Block aus einer Umgebung hervorragte, in die es nicht recht passte.

      „Weiter, weiter“, rief er erneut, griff sie an der Hand und riss sie mit.

      Das Kind begann wieder zu schreien. Sie torkelte, fing sich, trat in eine Pfütze. Sie spürte, wie das Wasser an ihre Knöchel spritzte, sah zu dem Mann – ihrem Mann? – der lediglich den Kopf schüttelte und ihr signalisierte, dass sie weitermüssten, „weiter, weiter!“ Sie machte an einer Straßenlaterne Halt. Er und der andere Mann eilten herbei.

      „Was ist“, fragte der Andere.

      „Ich kann nicht mehr“, schnappte sie nach Luft.

      „Wir sind gleich da“, sagte der Andere und zeigte auf das bunte Haus.

      „Weiter, weiter“, spornte der von vorhin sie an. Sie trug das Kind nach wie vor, blickte zum bunten Haus und schien zu begreifen, dass sie ihr Ziel praktisch erreicht hatten.

      „Gut.“ Mehr brachte sie nicht heraus und setzte mit den beiden die letzten Meter bis zur Pforte fort. Das kleine Vordach bot ihnen halbwegs Schutz vor dem Regen. Einer drückte auf den untersten Klingelknopf.

      Bei Herrn Thomas schellte es. Der Klang weckte ihn nicht, nicht im Entferntesten. Von Genussmenschen heißt es normalerweise, dass sie gerne essen, gerne trinken, das Leben in vollen Zügen genießen. Der spröde Herr Thomas wurde erst – und nur da! – im Schlaf zum Genussmenschen. Sein Höhepunkt eines Tages war die Nacht, sein Lieblingsort das Bett im Schlafzimmer. Es schellte zum zweiten Mal, doch was kümmerte es ihn, wenn es außerhalb seines Schlafzimmers klingelte?

      Die drei mit dem Kind wurden ungeduldig. Nichts tat sich. Alles blieb dunkel, alle Türen blieben geschlossen. Der Eine tippte mit dem Finger auf eine große Klingeltaste, die sich von den anderen unterschied. Der Andere nickte. Sie warteten. Im zweiten Stock ging ein Licht an. Sie schauten hinauf. Das Fenster wurde entriegelt und ein Kopf lugte hervor.

      „Ich komme“, beruhigte Mutti.

      Sie schloss das Fenster. Es dauerte eine Weile, da klackte die Tür. Mutti öffnete sie einen Spalt. Sobald sie gemerkt hatte, dass es sich bei den dreieinhalb Gestalten um zwei Männer, eine Frau und ein Kind handelte, stieß sie die Pforte weit auf. Sie blickte in erschöpfte Gesichter, nass und tropfend und auf ein Kind, das sich an seine Mutter klammerte, jedes Schreien und Weinen unterließ, als Mutti, einer Heiligen gleich, gehüllt in einen gleißenden Strahlenmantel, den ihr das Treppenhauslicht verlieh, aus dem hellen Flur heraus vor sie in die kühle Düsternis getreten war. Langsam sanken die drei auf die Knie und sahen ehrfurchtsvoll zu Mutti hinauf. Mit bebender Stimme fragte der Andere: „Dürfen wir herein?“

      Mutti wandte sich nicht zu ihnen, sondern guckte zu den gegenüberliegenden Häusern. Sie atmete tief ein. Nachdem sie innerlich bis sechzig gezählt hatte, erkundigte sie sich: „Woher kommt ihr?“

      „Aus der Nachbarstadt“, antwortete der Andere.

      Mutti hob eine Augenbraue. „Ja, und?“

      „In unserer Straße brannte es. Niemand half uns, keiner von den Nachbarn, im Gegenteil: Sie taten alles dafür, dass es weiterbrannte“, berichtete der Andere. „Wir haben uns schließlich auf den Weg gemacht und hoffen, hier Sicherheit und eine Zukunft zu finden.“

      Mutti hatte von dem Feuer gelesen. Sie tat so, als überlege sie und meinte dann flapsig: „Na, nu‘ steht ma‘ wieder uff! Hab‘ noch ‘ne Wohnung frei. Ich zeig sie euch. Kommt rein.“

      Die drei küssten dankbar ihre Hände und erhoben sich. Mutti geleitete sie ins Haus und brachte sie zu ihrer neuen Bleibe im dritten Stock.

      Herr Thomas ist überrascht

      Ein wenig dösig stieg Herr Thomas, den Preußischen Präsentiermarsch pfeifend, auf eine Trittleiter, um im Treppenhaus zwischen erstem und zweitem Stock eine Glühbirne auszutauschen, die die Nacht augenscheinlich nicht überlebt hatte. Im Erdgeschoss schloss jemand die Haustür auf. Es raschelte. Die Tür rumste. Es raschelte wieder und dieses Rascheln kam näher. Eine Frau sprach etwas, ein Mann gab Antwort. Sie stiegen die Treppen hinauf. Es dauerte nicht lange, ehe sie um die Ecke bogen und vor Herrn Thomas auf seiner Trittleiter standen. Er musterte sie durch die dicken Brillengläser, einen nach dem andern, während sie ihn anstarrten, als sei ihnen nie zuvor ein Hausmeister über den Weg gelaufen.

      „Sie haben aber ordentlich eingekauft“, meinte er trocken mit Blick auf ihre fast berstenden Plastiktüten.

      „Hallo“, grüßte die Frau schüchtern.

      „Hallo“, entgegnete Herr Thomas.

      „Weiter, weiter“, meinte der Eine und schob sie an. Sie gingen an Herrn Thomas vorbei. Der schüttelte den Kopf und folgte ihnen unauffällig die Treppen hinauf. Vor der ehemals leeren Wohnung blieben sie stehen. Der Andere kramte in seiner Hosentasche und zog den Schlüssel heraus. Herr Thomas spähte