Klaus Melcher

Wie im Paradies


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Saal, einzeln die meisten, überflogen mit einem leeren Blick den ihnen bekannten Raum, entdeckten den Fremden, der ihnen schon beim Frühstück angekündigt worden war, nahmen aber keinerlei Notiz von ihm, als gäbe es ihn gar nicht.

      Langsam strebten sie zu ihrem Platz.

      Das alles lief gespenstisch leise ab, wie nach einem festen Plan, fast wie ein Uhrwerk.

      Wen würde es an seinen Tisch, an seine Seite verschlagen? Die Alte mit dem langen Putenhals, an dem eine einreihige Perlenkette baumelte, oder der Dicke oder vielleicht der knorrige Lange. Der wäre ihm der Liebste, wenn er wählen dürfte!

      Er durfte nicht wählen!

      Eine Allerweltsperson steuerte auf den Stuhl neben seinem zu, zog ihn mit einem Ruck zurück, sagte kurz, fast militärisch knapp: „Guten Tag!“, stellte sich in den schmalen Zwischenraum zwischen Stuhl und Tisch, ging etwas in die Knie und zog den Stuhl exakt bis in seine Kniekehlen vor, so dass sein Gesäß mitten auf das Sitzkissen platziert wurde. Das geschah mit einer derartigen Akkuratesse, wie Fromm sie noch nie gesehen hatte.

      Der Mann beugte sich ein wenig nach links vor, als wollte er seinen Nachbarn in ein vertrauliches Gespräch ziehen, warf aber nur einen Blick auf seine Serviettentasche und nahm sie auf, als er sich davon überzeugt zu haben schien, dass es seine war.

      „Man muss immer aufpassen. Die sind manchmal sehr nachlässig und verwechseln die Servietten.“

      Fromm nickte.

      Ja, das könnte er sich ohne weiteres vorstellen, bei so vielen Leuten, sagte er, obgleich er nicht wusste, ob sein Nachbar ihn wirklich angesprochen hatte.

      Nichts wäre ihm unangenehmer gewesen, als ein Gespräch zu beginnen, das nicht gewünscht war.

      Und seinem Nachbarn schien in der Tat nichts daran zu liegen, sich mit Fromm zu unterhalten.

      Schweigend entfaltete er seine Serviette, legte sie sorgfältig auf den Schoß, wartete schweigend und kerzengerade auf seinem Stuhl sitzend, dass ihm der Teller mit einer wässrig aussehenden – und ebenso schmeckenden – Suppe gefüllt wurde.

      Vorsichtig tauchte er den Löffel ein, vermied sorgfältig, dass die kleinen Sternchennudeln über den Rand schwappten, füllte ihn bis zur Hälfte und führte ihn zum Munde. Nachdem er die Brühe kurz angepustet hatte, um sie abzukühlen, probierte er sie und versenkte den Löffel gleich wieder auf dem Tellerboden.

      „Wer soll das essen?“, schimpfte er und schob seinen Teller von sich.

      Der Mann, verdammt noch mal, imponierte Fromm!

      Schade nur, dass er während des ganzen Essens keinen weiteren Laut mehr von sich gab.

      Wie übrigens all die anderen auch, die im Laufe der nächsten Minuten ihren Platz eingenommen hatten und geduldig auf das Essen warteten.

      Wer Fromm ebenfalls imponierte, eher den Atem raubte, waren die Serviererinnen.

      In keinem Hotel, das er in seinem langen Leben bereist hatte, und er kannte viele und nicht gerade die schlechtesten, hatte er eine derartige Häufung von jungen hübschen Frauen gesehen, alle ausgestattet mit den edelsten Proportionen, endlos langen Beinen und schlankem knackigem Po, mit Brüsten, die jeden Mann noch im Schlaf verfolgen, mit einem Gesicht so voller Liebreiz, dass man das Essen vergaß.

      Wie eine Prozession traten sie aus einer Nebentür, aus der das Klappern von Tellern und Töpfen drang, stöckelten, Servierwagen vor sich herschiebend auf die Tische zu, hielten in der Mitte inne, beugten sich, verheißungsvoll lächelnd, leicht vor und gewährten jedem, der es wünschte, einen atemberaubenden Einblick in die Tiefe ihres weißen Kittels, während sie die Teller abräumten.

      Gerade wollte Fromm den warmen Duft, der ihrem Dekolletee entströmte, wie ein Ertrinkender in sich aufsaugen, da servierten sie das Hauptgericht, zwei Scheiben Rinderbraten in dicker brauner Sauce, ein Klacks Rotkohl, drei Kartoffeln.

      „So ist das immer“, sagte der Nachbar und stocherte auf seinem Teller herum, schob das Fleisch von der einen Seite zur anderen, dass es von allen Seiten in der Sauce gebadet wurde.

      „Erst machen sie einem den Mund wässrig, lassen einen in ihrem Duft baden, und dann das! Servieren nur Sauce.“

      Er machte eine Pause, aus der die tiefste Enttäuschung sprach, derer ein Mensch fähig war.

      „Können sie nicht endlich mal das Versprechen einlösen?“

      Sein Nachbar nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der sich die letzte Serviererin entfernte.

      Auch sie ging kerzengerade, kaum merklich schwangen ihre Hüften, und dann wurde sie von der Küchentür verschlungen.

      „Dafür nehme ich selbst das Essen in Kauf“, sagte er, und nach einer Weile fuhr er fort: „Und auch all das andere hier.“

      Während Fromm noch überlegte, was sein Nachbar wohl gemeint hatte, sagte er: „Ich heiße übrigens Gustav Preuss.“

      Während das Geschirr klappernd wieder abgeräumt wurde und in der Küche verschwand und man auf den Nachtisch wartete, den Höhepunkt fast jeden Mittagessens, begannen die ersten leisen Gespräche. Jetzt hatte man Zeit, verpasste nichts, auch nicht den Nachschlag, der gerne gewährt wurde.

      Man wartete geduldig und voller Erwartung.

      Augenblicklich verstummte das Raunen im Speisesaal, als die Wagen, voll beladen mit den Dessertschälchen, herein geschoben wurden.

      „Bestimmt wieder Vanillepudding mit Schokoladensauce“, mutmaßte Gustav Preuss, „vielleicht auch mit Obst aus der Dose. - Ganz besonders lecker sind die tiefgefrorenen Himbeeren. Aber die gibt es nur an besonderen Feiertagen.“

      Sehnsüchtig sah er ihrer zuständigen Serviererin entgegen, und der Grund war jetzt sicher Vanillepudding und nicht die überhaus süße kleine Person, die ihn servierte.

      Als Fromm sah, wie verzückt sein Nachbar diese alberne Nachspeise genoss, schob er ihm sein Schälchen zu.

      „Ich bin Alexander“, sagte er wie zur Entschuldigung oder Begründung.

      „Gustav“, stellte Preuss sich noch einmal vor und zog den Teller zu sich heran.

      Nachdem er auch seinen zweiten Pudding verschlugen hatte, legte er seinen Teelöffel in das leere Schälchen, wischte sich den Mund und verstaute die sorgfältig zusammengefaltete Serviette in der Serviettentasche.

      Mit einer weit ausholenden Geste, die den ganzen Speisesaal umfasste, wandte er sich wieder Fromm zu.

      „Sehen Sie sich in diesem Raum mal um. Was sehen Sie hier?“

      Als Fromm nicht gleich antwortete, fuhr er fort: „Lauter alte Leute, alle fast scheintot. Und warum sind hier lauter Gruftis? Weil wir nicht mehr in der Gesellschaft der Jungen gelitten sind. Früher, ja, da waren wir willkommen, als sie uns brauchten. Aber jetzt machen wir nur Umstände, und sie haben für uns einen Platz gesucht weit ab vom Schuss.“

      Er lachte bitter.

      „Wir sollen einen schönen Lebensabend haben, sagen sie, und das hier wäre wie ein Paradies, gerade richtig für uns, wir hätten uns das schließlich verdient. Aber ganz ehrlich, in Wirklichkeit geht es denen nur darum, dass wir auch beim Sterben keine Umstände machen.“

      Ob Alexander Fromm hier bleiben würde, würde sich noch zeigen.

      Noch jedenfalls war er nicht davon überzeugt.

      Und nur die hübschen Serviererinnen anzustarren, war zwar reizend, aber ob das auf die Dauer ausreichen würde?

      3. Der Sinn des Lebens

      Als Fromm in sein Zimmer zurückkehrte, erwartete ihn eine Überraschung. Auf dem Tisch standen eine Schale mit etwas Obst, eine Flasche Wasser und vor allem eine reich bebilderte Broschüre mit dem Titel ‚Weserresidenz – Das Paradies