Arthur Schnitzler

Doktor Gräsler, Badearzt


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der unbestimmten Erwartung, Sabinen zu begegnen. Einmal lief er sogar, wie von einer Ahnung ergriffen, während seiner Sprechstunde, als das Wartezimmer zufällig eben leer stand, die Treppe hinab und tat einen eiligen, doch vergeblichen Gang bis zur Trinkhalle und wieder zurück. Am Abend dieses selben Tages erwähnte er wie beiläufig am Stammtisch, daß man ihn neulich ins Forsthaus gerufen habe, und horchte angespannt und etwas kampfbereit, ob etwa über Fräulein Sabine ein leichtfertiges Wort fiele, wie es in aufgeräumter Herrengesellschaft auch ohne Berechtigung wohl gelegentlich auffliegen mag. Aber die Familie Schleheim schien, wie das matte Echo seiner Mitteilung dem Doktor verriet, außerhalb jeden Interesses zu stehen; und nur ganz beiläufig war von Berliner Verwandten des sogenannten Försters die Rede, bei denen die Tochter, die der Tischgesellschaft offenbar nicht einmal als sonderliche Schönheit galt, zuweilen die Wintermonate verleben sollte.

      An einem der nächsten Spätnachmittage entschloß sich Doktor Gräsler zu einem Spaziergang, der ihn allmählich in die Nähe des Forsthauses führte. Von der Straße aus sah er es stumm im Schatten des Waldes liegen, und auf der Veranda gewahrte er die Gestalt eines Mannes, dessen Gesichtszüge er nicht zu unterscheiden vermochte. Einen Augenblick blieb er stehen und fühlte sich heftig gelockt, geradeswegs ins Haus zu treten und sich, als hätte eben der Zufall ihn hier vorbeigeführt, nach dem Befinden der Frau Schleheim zu erkundigen; aber er besann sich rasch, daß dies, als mit seiner ärztlichen Würde kaum vereinbar, falscher Auffassung begegnen könnte. Von diesem Spaziergang kam er müder und verdrossener nach Hause, als er es nach einer so geringfügigen Enttäuschung für möglich gehalten, und als er Sabinen auch in den nächsten Tagen im Städtchen nicht begegnete, begann er zu hoffen, daß sie verreist oder am Ende gar für immer von hier verschwunden wäre, was ihm im Interesse seines seelischen Gleichmaßes eigentlich wünschenswert erschien.

      Eines Morgens, als er, längst nicht mehr mit dem Behagen der ersten Tage, auf seinem besonnten Balkon das Frühstück einnahm, wurde ihm gemeldet, daß ein junger Herr ihn zu sprechen wünsche. Als gleich darauf ein hochgewachsener hübscher Junge im Radfahranzug auf dem Balkon erschien, zeigte er sich in Haltung und Gesichtsschnitt von einer so unverkennbaren Ähnlichkeit mit Sabine, daß der Doktor nicht umhin konnte, ihn wie einen Bekannten zu begrüßen.

      »Der junge Herr Schleheim, –?« sagte er in mehr überzeugtem, als fragendem Tone.

      »Der bin ich,« erwiderte der Junge.

      »Ich habe Sie gleich an der Ähnlichkeit mit – Ihrer Mutter erkannt. Bitte, nehmen Sie Platz, junger Mann. Ich bin noch beim Frühstück, wie Sie sehen, Was gibt's? Die Frau Mama wieder leidend?« Es war ihm, als spräche er zu Sabine.

      Der junge Schleheim blieb stehen, die Kappe höflich in der Hand. »Der Mutter geht's gut, Herr Doktor. Seit ihr Herr Doktor so in's Gewissen geredet haben, ist sie etwas vorsichtiger geworden.«

      Der Doktor lächelte, Es war ihm sofort klar, daß Sabine ihre eigenen Befürchtungen zum Zwecke besserer Wirkung ihm als dem Arzte in den Mund gelegt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß Sabine selbst diesmal die Kranke sein könnte, und er erkannte an der unvermuteten Beschleunigung seines Pulses, wie sehr ihm das Wohlbefinden des jungen Mädchens naheging. Doch ehe er noch zu fragen vermochte, sagte der Knabe. »Es handelt sich diesmal um den Vater.«

      Doktor Gräsler atmete auf. »Was fehlt ihm? Hoffentlich nichts Ernstes.«

      »Ja, wenn man das wüßte, Herr Doktor. Er hat sich so sehr verändert in der letzten Zeit. Es muß vielleicht gar keine wirkliche Krankheit sein. Er ist nämlich schon zweiundfünfzig Jahre alt.«

      Der Doktor runzelte unwillkürlich die Stirn. Etwas kühl fragte er: »Also welche Erscheinungen geben Ihnen denn Anlaß zu Besorgnis?«

      »In der letzten Zeit, Herr Doktor, hat der Vater Schwindelanfälle, und gestern abend, wie er vom Sessel aufstehen wollte, ist er beinahe hingefallen und hat sich nur mühselig am Tischrand festgehalten. Und dann, wenn er sein Glas nimmt, um zu trinken, das merken wir schon lange, zittern ihm die Hände.«

      »Hm.« Der Doktor sah von seiner Tasse auf. »Ihr Herr Vater nimmt sein Glas wohl ziemlich oft in die Hand, und wahrscheinlich ist nicht immer Wasser im Glas –?«

      Der Junge sah zu Boden. »Es kann freilich auch ein wenig damit zusammenhängen, meint Sabine. Und dann raucht der Vater auch den ganzen Tag.«

      »Nun, mein lieber junger Herr, Alterserscheinungen müssen das ja eben nicht sein. Also, der Herr Papa wünscht meinen Besuch?« fügte er höflich hinzu.

      »So einfach ist das leider nicht, Herr Doktor. Der Vater dürfte gar nicht wissen, daß Sie seinetwegen kommen, er hat nie was von einem Doktor hören wollen. Und Sabine meint, ob man es nicht auf einen Zufall hinausspielen könnte.«

      »Auf einen Zufall?«

      »Zum Beispiel, wenn Herr Doktor nächstens einmal wieder am Forsthaus vorbeikämen, wie neulich am Nachmittage, da würde die Sabine Sie von der Veranda aus grüßen oder anrufen, und Herr Doktor kämen heran – und – und dann müßte man eben weitersehen.«

      Der Doktor fühlte sich bis in die Stirn rot werden. Und mit dem Löffel in der leeren Tasse rührend, sagte er: »Zum Spazierengehen reicht ja meine Zeit leider nicht sehr oft. Allerdings neulich einmal, ach ja, da bin ich wohl recht nah am Forsthaus vorbeigekommen.« Er wagte nun aufzuschauen und sah zu seiner Beruhigung den Blick des Knaben völlig harmlos auf sich gerichtet. In geschäftsmäßigem Ton fuhr er fort. »Wenn es nicht anders zu machen ist, so will ich denn Ihren Vorschlag – – freilich, mit einem Gespräch auf der Veranda wird wenig getan sein. Ohne gründliche Untersuchung läßt sich ja doch nichts sagen.«

      »Selbstverständlich, Herr Doktor. Wir hoffen ja, daß der Vater sich allmählich auch dazu entschließen wird. Aber wenn Sie ihn zuerst nur einmal sehen würden! Herr Doktor haben ja so viel Erfahrung. Vielleicht könnten Sie's ermöglichen, Herr Doktor, dieser Tage einmal nach Ihrer Ordination, am liebsten freilich wäre es uns schon heute –«

      Heute – wiederholte Gräsler bei sich – heute schon könnte ich sie wiedersehen! Wie wunderbar! Aber er schwieg, blätterte in seinem Notizbuch, schüttelte den Kopf, schien vor unüberwindlichen Schwierigkeiten zu stehen, bis er plötzlich einen Bleistift nahm, entschlossen irgend etwas ausstrich, was gar nicht dastand, und auf die nächste Seite, da ihm dieses Wort eben zuerst einfiel, »Sabine« schrieb. Und er entschied sich freundlich, aber kühl: »Also schön, sagen wir denn: heute zwischen halb sechs und sechs. Ist Ihnen das recht?«

      »Oh, Herr Doktor . . .«

      Gräsler erhob sich, wehrte die Dankbezeugungen des Knaben ab, gab ihm Empfehlungen an Mutter und Schwester mit und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er trat dann vom Balkon in sein Zimmer und sah vom Fenster aus, wie der junge Schleheim mit seinem Rad aus dem Hausflur kam, die Kappe fester in die Stirn drückte, sich flink und geschickt aufschwang und bald um die nächste Ecke verschwunden war. Wäre ich nur um zehn Jahre jünger, dachte der Doktor, so könnte ich mir einbilden, das Ganze sei nichts als ein Vorwand des Fräulein Sabine, um mich wiederzusehen. Und er seufzte leise.

      Bald nach fünf Uhr, in einem hellgrauen Anzug, dessen Trauercharakter im übrigen durch den Flor um den linken Arm gewahrt blieb, fuhr er von Hause ab. Seine Absicht war es, den Wagen in der Nähe des Forsthauses halten zu lassen; aber viel früher schon, bald nachdem er das Bereich der Villen verlassen hatte, sah er zu seiner angenehmen Überraschung auf dem schmalen Wiesenpfad, der sich längs der Landstraße hinzog, Sabine und ihren Bruder sich entgegenkommen. Er sprang aus dem langsam talaufwärts fahrenden Wagen und reichte zuerst Sabinen, dann dem Knaben die Hand.

      »Wir müssen Sie sehr um Entschuldigung bitten,« begann Sabine leicht erregt. »Es ist uns nämlich nicht gelungen, den Vater zu Hause zu halten; und vor dem späten Abend wird er wohl nicht zurück sein. Ich bitte sehr, seien Sie mir nicht böse.« Der Doktor hätte gern eine verdrossene Miene gezeigt, es gelang ihm aber nicht, und er sagte leichthin: »Das tut ja nichts.« Er sah auf die Uhr mit gerunzelter Stirn, als gelte es eine neue Einteilung für den Rest des Tages zu treffen; dann schaute er auf und mußte lächeln, da er Sabine und ihren Bruder wie zwei Schulkinder, die eigentlich eine Rüge erwarteten, am Wegrand stehen sah. Sabine trug heute ein weißes