Jens Wahl

Die Kostenvermeidungsdirektive


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nach der Testamentseröffnung gemeinhin als bescheiden bezeichnet werden: Der elterliche Hof war teilweise verschuldet. So konnte der Bruder ihr nicht den ihr zustehenden Pflichtteil auszahlen, ohne den Hof noch mehr zu belasten. Deshalb hatte sich Friederike mit ihrem Bruder so geeinigt, dass sie ihren Pflichtteilsanspruch stundet und als Sicherheit in Form einer Hypothek auf den Hof eintragen ließ. Diese sollte erst später, wenn es dem Hof wieder finanziell besser ging, ausgelöst werden. Doch ihre Schwägerin war der Ansicht, dass Friederike ganz auf ihren Pflichtteil zugunsten des Hofes verzichten solle. Der Schwägerin zum Trotz behielt sie auch das eine Zimmer, welches ihr laut Testament neben dem Pflichtteil mit ständigem und mietfreiem Wohnrecht zustand, als ihren Hauptwohnsitz.

      Aus all diesen Gründen hatte sich Friederike bei der AHOS-Reederei als Shore-Excursions-Guide, kurz SEG, beworben - sie wollte etwas von der Welt sehen und das gleichzeitig noch bezahlt bekommen. Als SEG hatte sie als Verbindungsglied zwischen dem örtlichen Reiseleiter des jeweiligen Landausfluges und den mitreisenden Gästen zu fungieren. Dabei konnte sie mit ihren Sprachkenntnissen punkten, sie sprach fließend Englisch und Spanisch. An Bord beriet sie die Gäste beim Verkauf der Landausflüge.

      Wenn man in Armee-Einteilungen denkt, gehörten die SEG zu den Soldaten an Bord. Friederike wollte unbedingt in den Offiziersbereich aufsteigen und bewarb sich deshalb vor einem Jahr für die firmeninterne Weiterbildung zum SEM.

      Da sie als Pubertierende in den Bereich „leicht unterdurchschnittliche Schönheit“ eingeordnet worden und ihr das auch bewusst war, sollten Männer kein großer Stolperstein auf ihrer Karriereleiter werden. Sie war schlank, weil sie ihr eigener Ehrgeiz auffraß. Das unauffällige, aber nicht hässliche Gesicht, von kastanienbraunem, schulterlangem Haar umrahmt, hatte sie mit einer Brille verunziert. Ihr gefiel diese Brille mit dickem schwarzem Rand auch nicht, aber es war eben zur Zeit modern. Was aber ist modern? Das, was uns die Designer und Marketing-Strategen ständig aufschwatzen? Warum empfand sie nicht das als modern, was ihr selbst gefiel?

      Sicherlich hatte sie bereits Beziehungen zu Männern gehabt - ab und zu war der Wunsch nach etwas 'Unterbodenpflege' auch bei ihr zu verspüren. Den Begriff 'Unterbodenpflege' für Geschlechtsverkehr hatte mal ein junger Kfz-Mechaniker, mit dem sie ein paar Tage zusammen war, gebraucht. Es ist nun einmal so, dass auch angeblich weniger schöne Frauen und Männer die gleichen Gefühle und Wünsche haben wie die, meist selbst ernannten, Schönsten der Welt. Was aber ist Schönheit? Hat da nicht auch jeder einen eigenen, individuellen Geschmack? Weshalb orientieren wir uns das ganze Leben immer nur an den Vorgaben anderer? Um zu vermeiden, dass wir anecken, wenn wir aus dem vorgeschriebenen Massengeschmack herausfallen? Womit erkaufen wir uns dieses „nicht-anecken-wollen“? Jeder Mensch ist ein einmaliges Original und sollte sich dies auch immer wieder bewusst werden lassen und sich danach verhalten.

      Aber diese Beziehungen waren immer wieder sehr schnell auseinandergegangen. Ein „leider“ verspürte sie bei den Gedanken daran eigentlich nie. In ihrem jetzigen Beruf wäre eine feste Beziehung nur hinderlich gewesen. Mit den Gästen etwas „anzufangen“, war unter Androhung einer fristlosen Kündigung verboten. Mit den Kollegen auf dem Schiff wollte sie keine Beziehung beginnen, um nicht in irgendeiner Form erpressbar zu werden, was sich hinderlich auf ihre Karriere auswirken könnte. So hatte sie in dem in der heutigen Zeit fast unübersehbaren Sortiment an kleinen „Helferlein“ für einsame Stunden eine Lösung für sich gefunden. Diese waren immer willig, und wenn die Batterie leer war, wurde diese gegen eine neue ausgetauscht. Nach verrichteter Arbeit kurz säubern und das Ding im Nachtkasten ablegen - praktischer ging es kaum.

      Ein Kerl läge danach neben ihr, zufrieden wie ein frisch gesäugtes Baby. Und fing womöglich noch an, zu schnarchen! Oder stellte diese saublöde Frage: „Wie war ich?“ Eine Antwort gab sie darauf nie, sie hätte fast immer „Viel zu schnell fertig“ gelautet. Noch in der gleichen Nacht an mindestens eine Wiederholung zu denken, war bei den wenigsten Kerlen, mit denen sie das Kopfkissen geteilt hatte, möglich. Falls doch, benötigten diese auch immer wieder eine mehr oder weniger lange Aufladezeit dazwischen. Das Einzige, was man mit dem „Helferlein“ nicht konnte, war Kuscheln. Doch dazu waren die Kerle auch meist nur vorher bereit, um sich in Schwung zu bringen. Danach bekamen die doch meist nicht schnell genug ihren Slip wieder an!

      Gefühle zeigen, kann hinderlich für die Karriere sein. So wurde Friederike schon während ihrer SEG-Zeit als Eisblock, unnahbar und arrogant eingeordnet - sie fand es gut so und nahm sich vor, dieses Image weiter zu pflegen. Eine gewisse Distanz sollte zwischen Vorgesetzten und deren Unterstellten vorhanden sein und auf den Unterschied hinweisen. Dies war schon ihre Meinung, als sie bei AHOS noch „ganz unten“ war. Wollte sie rein äußerlich auf Distanz gehen, band sie sich das Haar nach oben, was ihr ein noch strengeres Aussehen verlieh.

      Nachdem sie ihre Reisetaschen auf die Kabine transportiert hatte, begab sie sich in die Kleiderkammer. Hier wurde die kostenlose Dienstkleidung ausgegeben. Doch diesmal wollte Friederike keine Kleidung tauschen. Nein, ganz genussvoll forderte sie für ihre schwarzen Schulterklappen auf der weißen Uniformbluse je einen weiteren gelben Streifen an.

      In die Kabine zurückgekehrt, machte sie sich an die Dienstplanung für die bevorstehende Reise.

       Kapitel 2 - Am Stammtisch

      In der urigen Gaststätte „Zum Wolpertinger“ im Süden Traunsteins ging es laut her. Vor knapp zwei Wochen hatte Bundeskanzlerin Merkel Anfang September 2015 die Grenzen für die vor Ungarn gestrandeten syrischen Flüchtlinge geöffnet - ohne vorherige Absprache mit den anderen europäischen Partnern und ohne vorherige Abstimmung im Bundestag. Sehen so demokratische Entscheidungen aus? Deutschland und Europa wurden einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und sollten trotzdem den dadurch zusätzlich entstandenen Aufwand schultern. Tagtäglich strömten Tausende von Flüchtlingen ins Land, teilweise unkontrolliert. Und es war kein Ende der Aktion abzusehen. Die stereotype Wiederholung der Aussage der Kanzlerin „Wir schaffen das“ brachte keine Lösung für die absehbaren Probleme, die Deutschland erwachsen werden. Viel mehr klang dies wie ein Befehl an alle Helfer, dass sie das zu schaffen haben.

      Der „kleine Stammtisch“ bestand nur aus vier Teilnehmern, die sich einmal monatlich trafen. „Weshalb macht die Merkel denn nicht endlich wieder die Grenze dicht?“, fragte Ole Eick ratlos am kleinen Stammtisch. „Weil dies unmoralisch und nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention in Einklang zu bringen wäre - darin gibt es wirklich keine Obergrenze“, entgegnete Maximilian Meier, Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Traunstein. Er wurde meist nur kurz als Max bezeichnet, war schlank und besaß noch einen vollen, fast schwarzen, Haarschopf. "Das heißt aber für mich im Umkehrschluss nicht, dass jedes Land gezwungen ist, bis zum eigenen Ruin Flüchtlinge aufzunehmen. Dies würde weder der eigenen Bevölkerung noch den Flüchtlingen etwas nutzen", fuhr Max fort. "Wobei es seltsamerweise keinen interessiert, wie es um die Moral der europäischen Länder steht, die sich strikt weigern, Flüchtlinge aufzunehmen."

      'Eick' heißt im Mecklenburgischen nichts anderes als 'Eiche'. Doch es hält sich dort das hartnäckige Gerücht, dass alle, die so heißen, ihrem ursprünglichen Namen eine ganz andere Bedeutung gegeben haben durch das Hinzufügen eines kleinen waagerechten Striches ganz unten am ersten Buchstaben. Inwieweit dies wahr ist, werden wohl nur die Träger dieses Namens wissen. Immer, wenn Ole aufgeregt war, verfiel er in sein mecklenburgisches Platt: „Jo, ick heff mir de Konvention durchgelesen. Awer ick heff do keen beten rutfinnt, dat ein Lann sik selbst ruinieren mutt, bloot um anner to helpen. Un do kamen we doch bannig flott hen, wenn dat so wieter gaht, nech?“ Er wurde langsam wieder ruhiger: „Die Merkel muss doch begreifen, dass sich nicht eine beliebige Menge an Flüchtlingen sinnvoll integrieren lässt - die benötigen Essen, Kleidung, Wohnungen und Sprachkurse. Irgendwo ist doch da eine Kapazitäts- oder Leistungsgrenze, denn das muss doch auch alles bezahlt werden! Und wenn es, wie abzusehen, dieses Jahr eine Million Migranten werden, dann 'vergessen' die Nachrichtenfuzzis und Politiker doch immer wieder, den Familiennachzug mit mindestens dem Faktor drei bis vier hinzuzurechnen für die Folgejahre.“ „Du weißt doch, dass sich die Politiker immer nur das herauspicken, was sie für sich nützlich finden!“, schmunzelte Max über das Plattdütsch. „Und vor ein paar Jahren hat sich Frau Merkel für die Probleme der Flüchtlinge