Peter Urban

Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe


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zu erlernen, waren glückliche Jahre gewesen.

      »Gütiger Himmel!« bemerkte Lord Hall nachdenklich, nachdem Wesley seine kleine Geschichte beendet hatte. »Wer hat Sie dermaßen eingeschüchtert? Ein Leben, das nur aus vier kurzen Jahren zu bestehen scheint ... Es ist wohl nicht leicht, Richard Lord Morningtons jüngerer Bruder zu sein?«

      Beinahe hätte Arthur seinem alten Reflex nachgegeben und die Augen niedergeschlagen, doch eine innere Stimme befahl ihm, es nicht zu tun und es für einen Abend bei seinem üblichen Misstrauen bewenden zu lassen. Er zwang sich zu einer ehrlichen Antwort. »Nein, Mylord, es ist nicht einfach, der Bruder dieses Mannes zu sein. Doch es gibt auch Dinge, über die ich nicht sprechen möchte und die nichts mit Lord Mornington zu tun haben.«

      »Vielleicht gibt es aber auch ein paar Dinge, über die Sie sprechen möchten. Shore hat mir Ihren Plan für den Aufbau eines militärischen Nachrichtendienstes gezeigt. Während Sie und Charlotte in den Sunderbans waren, haben wir in Fort William eine lange Diskussion über dieses Thema geführt ... Shore, Hickey, St. Leger, John Goldingham, der Astronom der Kompanie, William Petrie vom Geographischen Observatorium und noch einige andere ...«

      Arthurs bedrückte Stimmung, die sich wegen der Erinnerungen an Mornington und seine Vergangenheit für kurze Zeit eingeschlichen hatte, wich augenblicklich einer unbändigen Euphorie. Der Kommandeur des 33. Regiments sprang fast aus dem Stuhl hoch. »Und? Was halten die Herren von der Idee?« platzte er mit einem Mal heraus wie ein Schuljunge.

      Sir Edwin grinste breit. Mit seinem prachtvollen grauen Backenbart ähnelte er einer zufriedenen, satten Katze. »Sie haben gewonnen, junger Mann! Fünf zu eins! Aber was zählt schon St. Legers Stimme ... Ich glaube, er hat nur nein gesagt, weil er beim spannendsten Teil unserer Diskussion seinen Rausch von gestern abend ausgeschlafen hat.«

      »Heißt das, man wird diesen Dienst einrichten?« Arthur war aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsabend.

      »Nicht >man<, Oberst Wesley! Sie selbst werden ihn einrichten. Offiziell unterstehen die Mitarbeiter zwar dem kartographischen Dienst der Ostindischen Kompanie und dem Observatorium, aber ansonsten gehören die Spione, Agenten und anderen finsteren Gestalten zur Armee. Und gehen Sie nicht gleich auf die Palme, weil >John Company< die Finger im Spiel hat. Die ehrenwerten Direktoren in der Leadenhall Street werden nur finanziell für Ihr Informantennetz geradestehen. Ansonsten werden sie sich nicht einmischen. Der Profit für die Kaufleute besteht in der allgemeinen Verbesserung des Kartenmaterials über Indien. Dafür sind ihnen die schweren Silbermünzen, die Sie schon bald Ihren Spionen in die

      Hand drücken können, nicht zu schade. Shore wird Sie morgen nach Fort William bestellen und Ihnen offiziell diese Entscheidung mitteilen. Seien Sie ein guter Junge, Oberst Wesley, und machen Sie ein erstauntes Gesicht. Sie müssen dem großen Shore ja nicht unbedingt verraten, dass der alte Hall sein loses Mundwerk wieder mal nicht halten konnte.«

      Der Jurist zwinkerte Arthur fröhlich zu und stieß sein Weinglas gegen das seine. »Auf Ihre glückliche Zukunft in Indien! Den Anfang dürften Sie jetzt gemacht haben. Alles Weitere liegt nun in Ihren eigenen Händen. Das Rad des Lebens, wie die Inder so schön sagen. Halten Sie es immer ordentlich in Bewegung, und Sie werden Ihren Weg machen.«

      Charlotte legte den Kopf schief und betrachtete Arthur aufmerksam durch ihre runde Brille. Trotz ihrer achtzehn Jahre war sie felsenfest davon überzeugt, dass ein ungefährliches, ruhiges Leben nur etwas für alte Frauen und die dummen Gänse von Kalkutta sei. Die Sache, über die ihr Vater und Wesley sich gerade so angeregt unterhalten hatten, war nicht uninteressant, und ihr war eine Idee gekommen, wie sie sich dabei auch ein bisschen amüsieren und gleichzeitig ein paar Gegenden des Subkontinents in Augenschein nehmen konnte, die sie bislang noch nicht besucht hatte. Wenn es ihr gelang, sich den Kommandeur des 33. Regiments in einem ruhigen Augenblick und unter vier Augen zu greifen, würde sie ihm einen Vorschlag machen, den er nur schwer ablehnen konnte.

      Unerwartet nahm Lady Hall ihrer Tochter einen Teil der Sorge ab. Die alte Dame warf zufällig einen Blick auf eine große Standuhr und stellte fest, dass es bereits weit nach Mitternacht war.

      »Oberst Wesley, es ist schon spät. Möchten Sie heute Nacht bei uns zu Gast bleiben? Der Ritt in die Sunderbans war weit, und Sie hatten einen langen Tag. Außerdem tut es Ihrem hübschen goldfarbenen Pferd sicher gut, wenn es Sie jetzt nicht mehr bis zu den Kasernen des 33. Regiments zurücktragen muss ...«

      Arthur überlegte kurz. Charlottes aufmunternder Blick half ihm, seine Entscheidung zu treffen. »Danke, Mylady. Sehr gerne!« Er fühlte sich in der Gesellschaft dieser freundlichen Familie wohl und hatte nichts dagegen, ausnahmsweise nicht um vier Uhr morgens aufzustehen und auf den Exerzierplatz hinaus zu hetzen.

      Nachdem Sir Edwin Halls Neuigkeiten über seinen ersten großen

      Sieg in der Machtzentrale von Britisch-Indien Arthur in eine zutrauliche und redselige Stimmung versetzt hatte, ließ er es sich nicht nehmen, seinen aufmerksamen Zuhörern detailliert zu schildern, warum er auf die Idee gekommen war, einen militärischen Nachrichtendienst ins Leben zu rufen, dem nicht Soldaten, sondern einheimische Zivilisten angehören sollten. Ausführlich schilderte er den grauenvollen Flandernfeldzug der Jahre 1793 bis 1794 und die Probleme, die die Truppen des Herzogs von York mit ihren französischen Feinden gehabt hatten, weil sie nicht über zuverlässige Informationen bezüglich des Kriegsschauplatzes verfügt hatten.

      Als Arthur Englands geschlagene Truppen gerade die Weser, Ems und Alle überqueren ließ, ging es Sir Edwin durch den Kopf: »Als hätte der Junge die Chronik des Feldzugs geschrieben. Er hat nicht ein einziges Wort über seine eigenen Erfahrungen und seinen eigenen Krieg gesagt. Er erzählt das alles völlig ruhig und ungerührt, obwohl es einen Soldaten doch prägen müsste, wenn er das erste Mal auf einem Schlachtfeld kämpft.«

      Charlotte ging ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf. Aber sie hatte im Gegensatz zu ihrem Vater sofort eine Erklärung parat: Die schlimmen Dinge, über die Arthur heute, vier Jahre später, so gelassen berichtete, waren in Wirklichkeit noch viel schlimmer und grauenvoller gewesen, und er hatte einfach Angst davor, sich zu erinnern. Also versteckte er sich hinter militärischen Fakten und spielte allen die Rolle des unbeteiligten Beobachters vor, der nur Schlüsse zog und neue Ansätze für die Zukunft aufzeigte.

      Hätte Arthur die Gedanken der jungen Frau lesen können – er hätte ihr zähneknirschend Recht gegeben. Nur mit größter Selbstbeherrschung gelang es ihm, sich hinter der Fassade äußerer Ruhe und Unberührtheit zu verstecken. Manchmal, nachts, wenn er nach einem sehr anstrengenden Tag erschöpft die Augen schloss, schlich die grausame Realität des Krieges in Flandern sich in sein Unterbewusstsein, und tief in seinem Inneren durchlebte er den ganzen Krieg, wie er damals gewesen war: blutig, grausam und ohne Menschlichkeit. Meist schrak er irgendwann schweißgebadet und zitternd vor Angst in seinem Bett hoch, weil er wieder die furchtbaren Schreie der Verletzten und Sterbenden hörte und das Grollen der Kanonen vernahm. Diese Alpträume von den Schanzen von Boxtel plagten ihn nur selten, aber jedesmal, wenn sie ihn heimsuchten, stellte er sich die Frage, ob er wirklich für den Soldatenberuf geschaffen war, oder ob es nicht besser wäre, die Armee weit hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Dann aber stellte sich die Frage, was er eigentlich noch konnte, außer Soldat zu sein, und jedesmal lautete die Antwort: »Nichts, das dir ein erträgliches Auskommen sichert.« Deshalb ergab er sich nach jeder schlaflosen Nacht wieder in sein Schicksal und tröstete sich damit, dass man vielleicht nur von der ersten Begegnung mit dem Krieg Alpträume bekam und dass mit der Zeit und der Gewohnheit alles leichter und besser würde.

      An diesem Abend beruhigte Arthur sich mit dem Gedanken, dass er nicht alleine war, sondern umgeben von freundlichen, gutherzigen Menschen und in einem friedvollen Haus. Er redete sich ein, dass die Gespenster des Krieges solche Orte mieden wie die Pest. Darum verabschiedete er sich zwei Stunden später voller Zuversicht von seinen Gastgebern und zog sich in sein Zimmer zurück. Der Nachmittag mit Charlotte und der herrliche bengalische Königstiger, dem er in den Sunderbans begegnet war, waren der Stoff, aus dem ein wunderbarer, erholsamer Traum gemacht sein würde.

      Charlotte hatte die Tür ihres Zimmers sorgsam hinter sich geschlossen. Doch anstatt sich auszuziehen und brav ins Bett zu gehen, wie es sich für eine Tochter aus