Karin Szivatz

Orte des Grauens


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Pharmaceuticals. Das ist eine US- amerikanische Pharmafirma, die ein Medikament entwickelt, das imstande ist, die Alzheimererkrankung zu stoppen. Und das Allerschönste daran ist, dass es bereits vollständig getestet und zugelassen ist. Das heißt, dass mit der Therapie sofort begonnen werden kann!“

      Erneut fiel sie ihrer Mutter um den Hals. „Der Albtraum wird bald vorüber sein und du kannst wieder in deinem Haus wohnen und selbständig leben! Kein Pflegeheim, keine Schwestern und kein Chip, der stets anzeigt, wo du gerade bist. Du kannst dann wieder einkaufen gehen, in deinem Garten arbeiten, mit den Nachbarn reden und jede Menge Kuchen backen! Mama, ich weiß gar nicht, wohin mit meinem Glück!“

      Erst jetzt wurde Martha bewusst, was dieses Medikament für sie bedeutete und ließ ihren Tränen ebenfalls freien Lauf.

      Nachdem sich die beiden wieder beruhigt hatten, fragte Martha in zweifelndem Ton: “Ist denn noch so viel Geld übrig, dass ich mir die Behandlung leisten kann? Sie ist sicher nicht kostenlos und sicher auch nicht billig.“

      „Die Krankenkasse übernimmt die Kosten, das steht extra dabei. Und zwar für jeden Betroffenen. Auch für jene Patienten, die gar nicht versichert sind. Es ist ein wahrer Segen, der gerade auf uns hernieder geht. Wir müssen nur am kommenden Freitag ins Hollister-Stadion gehen. Dort wird ein Vertreter des Pharmakonzerns alles genau erklären und man darf auch Fragen stellen.“

      Martha nickte und stellte sich vor, wie es wäre, ihr Leben wieder ohne diese bösartige Krankheit genießen zu können.

      In diesem Augenblick kam Herta, ebenfalls eine Patientin der Alzheimerstation, auf sie zu. „Bist du meine Schwester?“, fragte sie, holte ihr Gebiss aus dem Mund und legte es auf den Tisch. Speichel tropfte aus ihrem linken Mundwinkel auf den Boden. Mit einer unkoordinierten Handbewegung steckte sie sich den Arm eines Teddybären in den Mund, den sie wie ein Baby in ihren Armen hielt.

      Martha schüttelte fast unmerklich den Kopf und dankte Gott inständig, dass ihr solche peinlichen Momente hoffentlich erspart bleiben würden. Ohne nachzudenken würde sie dieses Medikament einnehmen; sie hatte nichts zu verlieren!

      Während des Abendessens unterhielt sie sich mit einigen anderen Patienten, die im Moment ebenfalls eine gute Phase hatten. Auch deren Angehörigen waren verständigt worden und jeder einzelne von ihnen würde sich am Freitag auf den Weg ins Stadion machen. Um dem Verkehrsinfarkt zu entgehen riet eine Schwester, gemeinsam einen Bus zu mieten; und trotz allem eine Einlage ins Höschen zu legen.

      Martha zählte beinahe die Stunden, bis Charlotte sie von der Station abholte und sich mit ihr in den Bus setzte. „Und du glaubst wirklich, dass die Medikamente mir helfen können?“, fragte sie zweifelnd. Sie hatte Angst, sich Hoffnungen zu machen, die letztendlich nicht erfüllt wurden.

      Charlotte sah ihre Mutter an und lächelte. „Alles wird gut, du wirst sehen. Schon bald kannst du wieder in deinem Haus wohnen und mit deinen Freundinnen Karten spielen. Hier ist dein Ausweis, den brauchst du im Stadion, das haben die Veranstalter extra in die Broschüre geschrieben.“

      Der Bus füllte sich rasch und zwei Stunden später standen sie an einem der unzähligen Tore des Stadions. Tausende Menschen mit der Hoffnung auf Heilung warteten mehr oder weniger geduldig auf den Einlass und beäugten die anderen Alzheimerpatienten sowie an Demenz Erkrankten kritisch.

      „Willkommen bei Dobal Pharmaceuticals! Wir bitten die Angehörigen, sich von den Patienten zu verabschieden. Das Stadion fasst einhunderttausend Sitzplätze, viel zu wenig für all die Menschen, die heute Hilfe suchen. Deshalb bitten wir die Angehörigen, vor den Toren zu warten, damit wir für eine größere Anzahl an hilfesuchenden Menschen etwas tun können. Unsere Mitarbeiterinnen kümmern sich um ihre Lieben, keine Sorge. Wir bitten um zwei Stunden Geduld, herzlichen Dank!“, tönte es aus mehreren Lautsprechern und wurde zwei Mal wiederholt.

      Charlotte sah ihre Mutter an. „Ich warte hier auf dich, ok? Bald bist du wieder gesund!“ Liebevoll drückte sie die alte Dame und ließ erst am Eingang ihre Hand los. Sie sah noch, wie Martha einen Stempel auf den Handrücken und dann einen Platz in den vorderen Reihen zugewiesen bekam. Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich und wandte sich an einen Mann, der gerade seine Ehefrau zum Tor gebracht und sie an der Schulter angetippt hatte.

      „Das ist doch viel zu schön um wahr zu sein“, rief er erfreut aus und umarmte Charlotte. „Meine Bettsy wird wieder gesund! Ich kann es kaum glauben.“

      Charlotte teilte seine Freude und schon bald lagen viele Angehörige in den Armen fremder Menschen. Sie alle strahlten vor Glück und konnten es kaum fassen.

      Nachdem jedes Tor zum Stadion geschlossen war unterhielten sich die Angehörigen davor über die Auswirkungen der Alzheimer-Erkrankung, in welchen Stadien sich ihre Lieben gerade befanden und auch über die Ängste, die sie bislang durchstehen mussten. Doch nun würde sich alles ändern.

      Währenddessen warteten die Patienten auf die Informationsveranstaltung und so mancher hoffte, dass er nicht genötigt wurde, eine Antiallergen-Matratze zu kaufen nur um an die Wunderpillen heran zu kommen. Doch eine Lautsprecherstimme beruhigte die alten Menschen. Die zuständige Ärztin und Wissenschafterin Sigrid Bergström sei noch nicht angekommen, werde aber jede Minute erwartet. Es wurde um ein wenig Geduld gebeten. Dann tönte Musik aus den Lautsprechern und die Anspannung löste sich merklich.

      Martha nickte im Takt zum Lied und sah ihren Sitznachbarn heiter an. Doch plötzlich verlor sie ihr Lächeln. „Sie bluten aus der Nase!“, rief sie und drückte sich mit dem Rücken an ihre Sitznachbarin auf der anderen Seite. Auch diese sah den Mann mit Entsetzen an, dem das Blut förmlich aus der Nase schoss. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und als Martha sie ansah, bot sich ihr das gleiche Bild. Ihre weiße Bluse wies einen roten Fleck in der Größe eines Fleischtellers auf, doch das Blut strömte nicht nur aus der Nase sondern jetzt auch aus ihren Ohren, den Augenwinkeln und aus ihrem Mund.

      Martha sprang hektisch auf und wollte von den beiden Blutmonstern weg, doch sie erstarrte inmitten ihrer Bewegung und hielt ihre eigenen blutigen Hände vors Gesicht. Fassungslos fixierte sie für einen Moment die Hände, dann ihr Kleid. Auch hier prangte ein dunkler Fleck. In diesem Moment kreischten und schrieen rund einhunderttausend alte Menschen in dem Stadion in blinder Panik, sodass eine Welle des Entsetzens und des Schmerzes über das Stadion hinwegrollte und sich über die Ränder nach draußen ergoss.

      Die Angehörigen sahen in den Himmel und waren eine Sekunde lang erstarrt, als sie das Wehklagen ihrer Lieben hörten. Dann kam Bewegung in die Masse, die sich von allen Seiten auf die Tore des Stadions stürzte. Die Leute hämmerten mit Fäusten gegen die Eisenwände, versuchten, durch versperrte Notausgänge ins Innere des Stadions zu gelangen oder an den Wänden hochzuklettern, doch sie alle trugen lediglich Schürfwunden und blutige, abgerissene Fingernägel davon.

      In der Notrufzentrale der Stadt brach das Netz zusammen, weil Zehntausende den Notruf gewählt hatten um Hilfe für die Menschen im Stadion zu erbitten. Gleich nach dem ersten Anruf waren alle verfügbaren Kranken- und Feuerwehrwagen losgeschickt und von den umliegenden Gemeinden Verstärkung angefordert worden. Dass die meisten Fahrzeuge davon im Verkehrsinfarkt feststeckten, war eigentlich nicht von Bedeutung.

      Während die Folgetonhörner der Einsatzfahrzeuge die Straßen mit ihren durchdringenden Tönen füllten, die Angehörigen vor dem Stadion brüllten, schrieen und klagten, floss im Inneren des oben offenen Gebäudes Blut aus jeder Nase, jedem Mund, jedem Ohr, jedem Auge, jedem Anus, jeder Harnröhre und jeder Scheide. Die alten Männer und Frauen krümmten sich schmerzerfüllt am Boden, kratzten mit den Fingernägeln an den mit Eisen bewährten Toren zur Freiheit, klammerten sich völlig verängstigt an ihre Sitznachbarn und schlugen in wilder Panik und Hilflosigkeit wahllos Köpfe ein. Sie rissen die Stühle aus der Verankerung und schlugen auf jene Menschen ein, die sich in der Nähe der Tore befanden.

      Handtaschen wurden als verlängerte Arme missbraucht und fremde Gesichter mit den Fingernägeln zerkratzt. Sie alle bluteten aus jeder einzelnen Körperöffnung und schon bald lagen viele am Rücken und röchelten; roter Schaum blubberte dabei auf ihren trockenen, rissigen Lippen und floss nach einem kurzen Todeskampf nur noch träge aus dem leblosen Mund.

      Jene,