Jon Pan

Der Plethora-Effekt


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Lust. Warum fiel ich nicht über sie her? Sie lächelte. Ich lächelte zurück. Die Zurückhaltung war von mir abgesprungen und der Anstand war nachgerückt. Wann endlich würde ich mich von meinem selbstkonstruierten Abbild befreien können?

      »Diese Charlotte«, sagte Martina, »war sie deine Freundin?«

      Ich nickte.

      »Und du hast sie enttäuscht?«, fragte sie weiter. »Aber du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich bin auch nicht gerade das, was man ein anständiges Mädchen nennt.«

      Ich lehnte mich etwas vor.

      »Vielleicht ist es ganz gut, dass wir nicht zu viel voneinander wissen«, sagte sie, und ihre Stimme klang sanfter als sonst. »Was würdest du zum Beispiel davon halten, wenn ich gar nicht mit meiner Mutter zusammenlebte?«

      »Sondern?«, platzte es aus mir heraus.

      »Ich könnte doch verheiratet sein.«

      »Bist du’s?« Ich rief die Worte beinahe.

      Ihre Augen fixierten mich, als wäre ich ihr Opfer. Ihre Hand griff seitlich unters Haar und warf es auf. Es fächerte sich über die Schulter, begrub den feinen Träger des Kleides unter sich.

      »Ja, ich bin verheiratet«, sagte sie knapp.

      Der Schlag saß. Innerlich taumelte ich, äußerlich richtete ich mich auf. Martina saß da und zeigte eine Leichtigkeit, die nicht zu übertreffen war.

      »Enttäuscht dich das?«, fragte sie und hielt den Kopf ein wenig schräg, als würde sie einen Gegenstand prüfend betrachten.

      Ich war sprachlos.

      »Um ehrlich zu sein«, sagte sie, »erstaunt es mich, dass du dich für jemanden hältst, der nicht weiß, was sich gehört. Ich finde, du bist ein grundanständiger Kerl. Genau das ist es doch, was mich an dir so fasziniert.« Sie meinte es bitterernst. Sie hielt mich für einen anständigen Kerl! War das nicht genau das, was ich ihr die ganze Zeit hatte sagen wollen? Und nun, da sie es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich wie ein Idiot. »Gleich am ersten Abend, als wir uns kennen lernten«, fuhr Martina weiter, »dachte ich, du würdest bloß mit mir schlafen wollen. Aber es kam nicht so. Und das gefiel mir. Ich brauche jemanden wie dich.«

      »Und dein Mann?«, presste ich aus mir heraus. »Der weiß nichts?«

      »Ich habe ihn nicht betrogen.« Sie machte eine kurze Pause, spielte mit ihrem Haar. »So richtig betrogen habe ich ihn nicht, oder?«, hängte sie fragend an.

      »Darum wolltest du nicht, dass ich mit meinem Wagen vor dem Haus wartete.« Etwas anderes fiel mir nicht ein.

      »Aber ich möchte mit dir schlafen«, sagte sie, ohne auf meine Frage einzugehen.

      Sie wollte mit mir schlafen. Klar und deutlich hatte sie es ausgesprochen. Gut, sie war verheiratet. Vorausgesetzt, sie hatte mir die Wahrheit erzählt. Was kümmerte mich das! Ihr Mann wusste nichts von mir. Und meine Geschichte? Mit einem gezielten Schnitt war sie abgetrennt worden. Der Ballast lag irgendwo, nur nicht mehr zwischen uns.

      »Du würdest deinen Mann also betrügen?«, fragte ich.

      »Warum denkst du so kompliziert?« Martina legte sich auf den Rücken, schob sich die Hände unter den Kopf. Das Haar breitete sich auf dem Boden aus. Ich brauchte mich nur noch über sie zu beugen. Nun befand sie sich wieder in der Zone, in der ich bereit war, sie ohne zu zögern zu verführen. Doch in der Zwischenzeit hatte sich etwas verändert. Durfte mich das stören? Meine Hand tastete sich vor, schlich von der Seite an Martina heran, streichelte ihre Wange. Ich zögerte nach wie vor, trotz der besagten Zone.

      »Warum möchtest du mit mir schlafen?«, fragte ich sehr leise.

      Sie setzte sich ruckartig auf, drehte mir das Gesicht zu, das Haar flog mit. »Bist du wirklich so kompliziert?«, fuhr sie mich an. »Das gibt es doch nicht! Seit vier Wochen machen wir nun rum, und noch immer benimmst du dich wie jemand, der nicht weiß, worum es geht!«

      Wie berechnend sie plötzlich wirkte

      Für Sekunden fühlte ich mich verwirrt. Dann spürte ich einen Schub in mir, der mich gleich voll in Besitz nahm. Ich warf mich über Martina und zog ihr das Kleid aus.

      Ein kreisender Sog riss mich in eine Unwirklichkeit ohne Bedrohung hinein. Die Nacht, die uns umgab, das Zirpen der Grillen, das Mondlicht, ab und zu die Berührung eines frischen Windes auf meiner Haut, Martinas warmer Körper, der sich weich an den meinen schmiegte, durch all das streifte ich meinen bisherigen Zustand wie eine ausgeleierte, teils brüchig gewordene Hülle ab. Paradoxerweise löste ich mich auf und wurde gleichzeitig immer mehr eine Einheit. Unsere Körper wälzten sich auf der Erde, dicht an der Grenze, von wo aus wir in die zuckende Dimension des Protoplasmas abzusacken drohten. Und irgendetwas oberhalb von uns, eine schwebende Substanz, die ein unbekanntes Organ ausatmete, klammerte sich an uns fest, verschmelzend. Vielleicht schrieen wir, ohne dass es jemand hörte. Mit halboffenem Mund nach Luft schnappend, von schwachem Licht umhüllt und von Sternen beblinzelt, schoss der Gedanke in mich hinein, unsere Leiber würden demnächst in einer mächtigen Detonation zerspringen – dann bliebe hier auf der Erde nichts von uns übrig als ein zitronengelbes Kleid im grünen Gras in der Einsamkeit einer unbewohnten Landschaft.

      Die Zeit verdichtete sich auf einen Punkt. Alles stand still. Wie lange wir uns schon liebten, wusste ich nicht. Eine weite Strecke lag noch vor uns. Auch sie würden wir mit dem Gefühl von Ewigkeit in einer zusammen gepressten Sekunde durchrasen. Wie leidenschaftlich Martina war!

      Im Taumel zwischen Wahn und Bewusstsein, vernahm ich ein Geräusch. Hinter mir knackte es. Martinas Hände schürten weiter meine Erregung. Ich suchte ihren Lippen, verlor mich erneut in ihrem Bann. Aber es gab kein totales Vergessen mehr. Ich fühlte mich plötzlich beobachtet.

      Wie ein Blitz flog es über meinen Rücken, eine Attacke mit der Schnelligkeit eines unerwarteten Überfalls. Meine Glieder spannten sich, und ich wälzte mich seitlich weg.

      Martina blieb liegen. Vor mir stand jemand. Eine Hand griff nach mir. Ich wich aus, warf mich schützend über Martina. Die Hand packte mich am Genick. Ich rief, so laut ich konnte: »Loslassen, loslassen!« Keine Reaktion. Und da war noch jemand. Ich versuchte mich aufzurichten. Der Druck an meinem Genick presste mich auf Martina zurück.

      Es mussten zwei Männer sein, die dicht bei uns standen. Ich atmete kräftig ein und kämpfte mich frei, richtete mich auf. Tatsächlich entdeckte ich einen Mann. Dann einen zweiten. Sie waren nicht besonders groß. Und auch nicht besonders kräftig, sonst hätte ich mich nicht so leicht freikämpfen können.

      »Was wollt ihr?«, rief ich dem einen, der sich direkt vor mir befand, zu. Als Antwort tauchten zwei weitere Gestalten auf, Männer mit etwa demselben Körperbau wie die anderen beiden. Sie trugen dunkle Kleider, die ich durch die Dunkelheit der Nacht nicht richtig erkannte. »Lauf weg!«, rief ich Martina zu.

      Sie erhob sich und rannte los. Einer der Männer verfolgte sie.

      Was spielte sich hier ab? Hatte etwa Charlotte uns diese Typen nachgeschickt? Unsinn, absoluter Unsinn! Was phantasierte ich da zusammen?

      Zwei der Männer kamen bedrohlich auf mich zu. Ich drehte mich schnell um, ein Dritter stellte sich mir in den Weg. Nun waren es schon fünf. Mir fiel ihre sehr ähnliche Erscheinung auf. Zu spät, sie fassten nach mir, hielten mich fest. Ich schlug um mich, doch sie schafften es, mich bewegungsunfähig zu machen.

      Wo war Martina? Ich sah sie, nun von zwei Männern verfolgt, wie sie, laut und schrill schreiend, im nicht sehr hellen Mondlicht durch die Büsche rannte.

      »Lauf, lauf, sonst erwischen sie dich«, keuchte ich, ohne dass sie mich hören konnte. Ich selbst saß hoffnungslos fest. Die Männer zogen mich mit sich fort. Keiner sprach ein Wort oder gab sonst einen Laut von sich. »Lauf zum Wagen, lauf schon!«, rief ich Martina zu, damit sie es wenigstens schaffte, sich zu retten.

      Obwohl sie sie fast eingeholt hatten, ließen die Männer, die sie verfolgten, plötzlich von ihr ab,. Das erstaunte mich. Hatte es damit zu tun, dass ich mich nicht mehr befreien konnte? War ich derjenige, den