Stefan Rogal

Freuds Psychoanalyse - kurz & einfach


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Inhalte im Unbewussten nicht einfach abstellen wie alte Möbel auf dem Dachboden. Das Verdrängte behält seine Kraft und versucht, ins Bewusstsein zu gelangen, am Zensor vorbei. Es schlüpft gewissermaßen verkleidet durch die Zensur: in Träumen, die wir für Unsinn halten, wenn uns nicht durch Deutung ihre Botschaft klar wird, in Fehlleistungen und nicht zuletzt in neurotischen8 Symptomen. Alle diese sind notwendige Ventile, durch die psychischer Druck abfließt, und sie geben wichtige Hinweise auf unbewusste Konflikte.

      Liebe und Tod: die Triebe

      Die Frage, was den Menschen antreibt, ist so alt wie die Menschheit selbst, und die Zahl der Antworten ist Legion. Und natürlich ist diese Frage auch eines der Hauptthemen vieler psychologischer Theorien. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der schottische Psychologe William McDougall (1871-1938) zählte mindestens ein Dutzend verschiedene Triebe, angefangen vom Selbsterhaltungstrieb über den Schlaf- und Essenstrieb bis hin zum Nestbautrieb; R. S. Woodworth9 sprach sogar von 110 Instinkten.

      Freud war bescheidener und prägnanter. Zunächst sprach er von zwei Trieben: dem Sexualtrieb und dem Selbsterhaltungstrieb, den er indes bald unter den Sexualtrieb subsumierte. Beeindruckt und erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung im Ersten Weltkrieg und weil er mit seiner Erforschung von Sadismus10 und Masochismus11 nur aus dem Sexualtrieb heraus nicht recht vorwärtskam, revidierte12 er seine Triebtheorie. Neben den Sexualtrieb (Eros) stellte er den Aggressions- oder Destruktionstrieb13.

      Triebe – so definierte er – sind die Kräfte, die hinter unseren Bedürfnissen stehen. „Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben“, rufen Erregung oder Spannung hervor und treiben damit den Menschen zur Aktivität, deren Ziel das Ende der Spannung, die Befriedigung ist.

      Das Ziel des Aggressionstriebes ist, nach Freuds Meinung, Auflösung, Zerstörung, Rückkehr zum früheren Zustand des Nichtseins. Indessen konnten oder wollten ihm da selbst orthodoxe Analytiker14 nicht immer folgen. So nimmt man heute eher an, dass ein Übermaß destruktiver Aggression eine Reaktion auf Versagung und starke Frustration ist. Und man betonte zunehmend, dass Aggression ja nicht nur zerstörend, sondern auch konstruktiv sein kann.

      Wenden wir uns dem Sexualtrieb zu. Seine „Triebkraft“, also die Energie, über die er verfügt, nannte Freud Libido (lat. Drang, Begierde), Zentralbegriff der Theorie, die er über die menschliche Sexualität und vor allem die Allgegenwart sexueller Impulse formulierte: der Libidotheorie. Sie war der wohl revolutionärste Teil seiner Anschauungen und löste – ausgangs des 19. Jahrhunderts – heftigste Anfeindungen aus. Denn er stellte die These auf (und bewies sie), dass die Sexualität nicht erst in der Pubertät erwache, sondern dass jeder Mensch von Geburt an sexuelle Empfindungen habe. Allerdings fasst Freud den Begriff „sexuell“ sehr weit: Sexuell ist danach alles, was Lust bereitet, also auch Daumenlutschen oder im Schlamm spielen. Das im rein geschlechtlichen Sinne Sexuelle nannte Freud genital.

      Die Entwicklung der Libido

      Bald nach der Geburt „setzt das Sexualleben mit deutlichen Äußerungen ein“. Die Libido heftet sich an Mund, Lippen und Zunge. Der Mundbereich ist also die erogene Zone, das Zentrum von Wünschen und Befriedigungen in dieser oralen Phase (lat. os, der Mund), die etwa eineinhalb Jahre dauert. Das Kind saugt an der Brust der Mutter, lutscht am Daumen, steckt Gegenstände in den Mund. In der darauffolgenden analen Phase ist die Libido an die Afterschleimhaut, den Darmausgang (lat. anus) gebunden. Lustgefühle entstehen beim Herauslassen des Darminhalts, aber auch beim Zurückhalten. Etwa gegen Ende des dritten Lebensjahres beginnt die phallische Phase (griech. phallos, Glied). Zentrum der Libido, also erogene Zonen, sind nun Klitoris und Penis; die Kinder onanieren oder spielen Doktorspiele, bei denen auch der – wie Freud es nannte – Partialtrieb15 der Schau- und Zeigelust eine Rolle spielt. Um das 5. und 6. Lebensjahr herum tritt die Latenzperiode16 ein: Die Libidoentwicklung ist zum Stillstand gekommen, die Sexualität ruht gewissermaßen. Sie wird erst während der Pubertät wieder aufleben; jetzt vollzieht sich die Entwicklung zur reifen Erwachsenensexualität, die Freud genital nannte und deren Ziel die körperliche Vereinigung ist.

      Wenn diese Entwicklung normal verlaufen ist, müssen wir einschränkend hinzufügen. Denn natürlich entwickelt sich die Libido selten so glatt und ungestört wie hier beschrieben (auch die Zeiteinteilung ist hier schematischer als im wirklichen Leben: Die Phasen können früher oder später beginnen und überschneiden sich im Allgemeinen auch). Die Libido fließt, wie schon gesagt, während der Sexualentwicklung von einer erogenen Zone zur nächsten, von einer Befriedigungsform zur nächsten, von einem Lustobjekt zum anderen. Bei jeder Station bleibt gewissermaßen ein bisschen Libido „hängen“; das ist normal. Auch Erwachsene mit einer reifen genitalen Sexualität haben Lust am Schauen oder Zeigen und genießen die orale Befriedigung des Essens oder Trinkens; auch der Kuss ist eine Form der oralen Befriedigung.

      Libido-Fixierung

      Die Libido kann jedoch auch ganz „stecken bleiben“, auf ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Art der Befriedigung festgelegt sein. Dann werden die folgenden Phasen der Entwicklung nicht oder nur oberflächlich durchlaufen und der Mensch bleibt unreif. Man nennt dies die Fixierung17 der Libido. Etwa das berühmte „Muttersöhnchen“: ein Mann, der auf seine Mutter als Objekt der Befriedigung fixiert ist, also auf der oralen Stufe, in der vor allem die Mutter die Befriedigung gewährt, stehengeblieben ist. Alkoholismus und pathologische18 Esssucht sind Beispiele einer Fixierung auf die orale Befriedigungsform. Auch die Perversionen finden ihre Erklärung in der Libido-Fixierung. So wird sexuelle Befriedigung bei manchen nur auf analem oder oralem Wege beziehungsweise durch Voyeurismus oder Exhibitionismus (Fixierung der Libido auf den Partialtrieb der Schau- und Zeigelust) erreicht.

      Ist ein Kind – oder ein Erwachsener – in einer Konfliktsituation, so kann es zu einer Triebregression kommen (lat. regredi, zurückgehen). Da zieht man sich, in einer Lage, mit der man nicht zurechtkommt, also auch keine Befriedigung findet, auf eine frühere Stufe zurück, von der man weiß, dass hier die Befriedigung sicher ist. Etwa der kleine Junge, der eben eine Schwester bekommen hat, auf die sich nun die ganze Aufmerksamkeit konzentriert: Er fängt, obwohl er schon vor Monaten damit aufgehört hat, wieder das Daumenlutschen an. Da weiß er, was er hat, findet Trost und Sicherheit in einer unsicheren Welt. Oder die junge Frau, deren Ehe in die Brüche gegangen ist und die – unsicher, ängstlich, traurig – sich nicht zurechtfinden kann: Sie tröstet sich beispielsweise mit übermäßigem Essen. Beides sind Regressionen auf die orale Stufe.

      Freuds Theorie enthält noch eine Form der Libido: die Ich- oder narzisstische19 Libido, die wir beim Neugeborenen finden. Es ist „egoistisch“, weiß nur von sich, seinen Wünschen und Befriedigungen, liebt nur sich (die Psychologie spricht von primärem Narzissmus). Schon in den ersten Monaten jedoch wandelt sich diese Selbstbezogenheit des Säuglings. Er beginnt, seine Energie und sein Interesse auf die Umwelt zu richten, zunächst auf die Mutter. Psychoanalytisch gesprochen: Die narzisstische Libido wird zur Objekt-Libido. Diese Umwandlung ist äußerst wichtig für die Entwicklung des Kindes: Sprechen- und Laufenlernen, die Intelligenzentwicklung hängen davon ab und nicht zuletzt auch die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, andere zu lieben. Bekommt ein Säugling nicht die Zuwendung und Liebe, die er braucht, um sich allmählich von sich selbst weg auf andere zu konzentrieren, dann bleibt seine narzisstische Selbstbezogenheit bestehen (sekundärer Narzissmus). Das ist bei vielen Heimkindern der Fall, die wenig oder keine liebevolle Zuwendung bekommen, oder aber, wenn die Beziehung zwischen Mutter und Kind schwer gestört ist, wenn also die Mutter ihrem Kind gegenüber vorwiegend Ablehnung oder gar Hass verspürt und das Kind folglich vor allem Angst erlebt. Das führt zu einer schweren Störung, die es dem Kind und auch dem späteren Erwachsenen unmöglich macht, die Realität der Welt um sich her zu erkennen, Beziehungen aufzunehmen, zu lieben und sich lieben zu lassen. Eine schwere Störung umso mehr, als sie so früh eintritt und damit die ganze weitere Entwicklung in entscheidendem Maße beeinträchtigt.