Hubert Wiest

Die Schattensurfer


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jeden Abend. Dann stieg er in sein Bett und zog die Decke über den Kopf, so wie er es immer tat, wenn er schlief. Er wartete ein paar Minuten, dann wälzte er sich zur Seite, hin und her, wie jede Nacht. Er schnarchte. Es sollte so aussehen als würde er schlafen. Währenddessen rief er unter der Decke von seinem ceeBand die exakte Uhrzeit ab: 18:35.

      Luan stellte mit seinem ceeBand eine Verbindung zum Überwachungscomputer der Häppy Kidz her. Nach dem dritten Versuch knackte sein ceeBand das Passwort und Luan war drinnen. Er wählte die Überwachungskamera seines Zimmers aus. Nun musste er nur noch die Liveaufnahme beenden und stattdessen die Aufzeichnung von 18:32 bis 18:35 abspielen. Immer wieder, in einer Endlosschleife. Die Wachmannschaft würde Luan in seinem Bett sehen, wie er schlief und sich hin und her wälzte. Frühestens morgen würde es auffallen, wenn er nicht aufstand. Und dann wäre er längst im Lunapark untergetaucht.

      Luan kletterte aus dem Bett und zog sich an. Er ging zum Fenster. Fingerdicke Stahlbolzen verriegelten es von außen. Mit Gewalt ließ sich da nichts machen. Luan setzte einen starken Elektronikmagneten von innen gegen die Scheibe, konzentrierte die Magnetleistung auf die Stahlbolzen und schob sie wie von Geisterhand zu Seite. Jetzt ließ sich das Fenster ohne Widerstand öffnen.

      Luan sprang aus dem Fenster. Er ließ sich von den riesigen Blättern der Bananenstaude auffangen und glitt hinunter auf den weichen Boden. Nervös suchte er den Park von Häppy Kidz ab. Da war niemand. Sie saßen alle beim Abendessen. Es war genau der richtige Moment. Luan sprang auf und jagte im Zickzack durch den Park. Er wusste, wo er den Überwachungskameras verborgen blieb. Sein ceeBand zeigte ihm den Weg bis zum Tor.

      Am Eingang stand Frau Bertowas Scooter. Es war ein burgunderroter Zweisitzer. Die Polster waren mit braunem Samt bezogen und der vergoldete Bersolantrieb glitzerte im Straßenlicht. Den Code könnte er lässig knacken. Diebstahl, schoss es Luan durch den Kopf. Dann hätte die Bertowa vielleicht doch recht gehabt, ihn von der Kristallfeier auszuschließen. Nein, den Gefallen würde er ihr nicht tun.

      Er atmete ganz tief durch. Sein ceeBand zeigte den Fußweg zum Lunapark an. Er würde 57 Minuten und 12 Sekunden brauchen.

      3 IM LUNAPARK

      Sansibar ließ die Verschlüsse ihrer Schuhe zuschnappen und warf ihre Tasche über die Schulter. Vor dem Spiegel zupfte sie ein paar lila Haarsträhnen zurecht, die zwischen ihren glatten haselnussbraunen Haaren hervorleuchteten. Sie achtete peinlich genau darauf, dass ihre Haare das linke Ohr bedeckten. Sansibar mochte es nicht, wenn man ihr Ohrläppchen sah, denn das war unten so komisch eingekerbt. Als kleines Kind hatte sie einen Unfall gehabt. Papa hatte es ihr erzählt. Sie selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sansibar war beim Spielen mit dem Ohrring an der Schraube eines Klettergerüsts hängen geblieben. Sie hatte es nicht gemerkt und war in den Sand gesprungen. Dabei war der Ohrring herausgerissen. Es musste ziemlich wehgetan haben, vielleicht waren deshalb ihre Erinnerungen daran verschwunden. Den zweiten goldenen Ohrring trug sie immer noch am rechten Ohr.

      Sansibar strich über den Bildschirm, der sich wie ein breites Band um ihr Handgelenk zog. Ein TwaddleBand. Nicht gerade das neueste Modell, aber als Kommunikator taugte es noch allemal.

      „Papa, ich gehe mit Marella in den Lunapark. Sie nimmt mich auf ihrem neuen Scooter mit“, tippte Sansibar und wusste, dass ihr Vater nichts dagegen haben würde. Ihr Vater verbot nie etwas. Er konnte sich darauf verlassen, dass sie keinen Blödsinn machte. Dazu war sie viel zu vernünftig.

      Auf dem Bildschirm erschien ein Mann mit grau durchzogenen Locken. Er hatte seine widerspenstigen Haare mit Gel in eine ordentliche Frisur gezwungen. Auf seinem schwarzen Stirnband schimmerte ein dunkelroter Kristall. Corrado Arbani lächelte Sansibar durch seine Hornbrille an: „Ich wünsch dir viel Spaß, mein Schatz. Bitte denk dran, dass du bis 10 Uhr zu Hause bist, auch wenn heute Freitag ist. Und schick mir ein paar Bilder vom Lunapark. Du weißt, Mama und ich hatten uns damals dort kennengelernt.“

      „Klar, mach ich“, sagte Sansibar. Sie dachte an Mama. Sansibar hatte nur ein einziges Bild ihrer Mutter vor Augen. Mama im orangefarbenen T-Shirt. Eine große lila Blume aufgedruckt. Es war damals vor zehn Jahren, mitten in der Nacht.

      „Bei mir wird es heute Abend spät werden. Ich habe noch einen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch liegen“, sagte Herr Arbani. „Den Antrag zum Versicherungsschutz der Verwaltungsvereinbarung muss ich heute noch unbedingt bearbeiten. Das ist im Übrigen eine ganz interessante Sache: eine Vereinbarung, die ohne Versicherungsschutz auf Regionalebene …“

      Sansibar schluckte, wenn Papa erst einmal anfing zu erzählen, konnte sie ihn kaum noch bremsen. Er war der liebste Papa der Welt, aber eine ziemliche Plaudertasche.

      Auf Sansibars TwaddleBand blinkte nun das Bild eines blonden Jungen und wollte Sansibars Vater zur Seite schieben. Dabei verformte es sich wie ein Gummiball, der auf den Boden aufschlug.

      „Muss auflegen, Papa. Mika meldet sich.“

      Sansibar strich über den Bildschirm. Das Bild ihres Vaters verblasste.

      „Kannst du mir Karamellsticks vom Lunapark mitbringen?“

      „Klar, mach ich, Mika.“

      „Mir bitte auch, Gruß Hannah“, legte sich ein Schriftzug über Mikas Bild. Das Video eines Mädchens mit Helm drängelte sich in den Vordergrund: „Kommst du endlich runter, Sansibar. Ich warte schon eine halbe Ewigkeit vor eurem Haus.“

      „Hallo, Marella, bin sofort unten.“

      Sansibar öffnete die Wohnungstür und trat hinaus in den schneeweißen Hausgang. Er roch frisch geputzt, nach Kaugummi. Sansibar dachte an früher. Mama hatte das gleiche Putzmittel verwendet. Ich liebe Kaugummiduft, tippte sie auf ihren Bildschirm. Ein paar Freunde schickten Bilder mit nach oben gereckten Daumen.

      Sansibar fuhr in der gläsernen Aufzugskapsel nach unten. Die Türen zischten auf und direkt davor wartete Marella mit ihrem nagelneuen Scooter. Er schwebte eine Handbreit über dem Boden. Sanft wie auf Wellen schaukelte er in der Luft. Der Rahmen glänzte milchkaffeefarben. Darum rankten sich hellblaue Blumenmuster. Sie leuchteten. Lässig, als würde sie schon jahrelang Scooter fahren, hielt Marella den weit nach oben geschwungenen Lenker. An den Griffen hingen hellblau blinkende Fransen.

      Marella grinste glücklich. Sie hatte den Scooter von ihren Eltern zum Kristallfest bekommen.

      Aber noch viel wichtiger war das funkelnagelneue Lackstirnband mit dem klaren Kristall. Er saß vorne, ganz in der Mitte. Jeder erhielt so einen zum Kristallfest. Marella hatte die Prüfung erfolgreich bestanden. Jetzt war sie Mitglied der Gesellschaft. Sie war Teil von RUHL. Noch glänzte der Kristall farblos. Er war durchsichtig wie Fensterglas. Sansibar wusste, dass er seine Farbe ändern würde, wenn Marella der Gesellschaft half. Aber es würde Monate dauern, bis er ein erstes zartes Gelb annehmen würde. Und bis zum Ende der Schulzeit verfärbte sich der Kristall bei den meisten nur in ein kräftiges Zitronengelb. Kaum jemand erreichte ein Dottergelb oder gar Orange. Orange war die nächste Stufe. Manche Erwachsene kamen Zeit ihres Lebens nicht über ein Zitronengelb hinaus. Die vertrockneten Zitronen, wie sie genannt wurden, hatten kaum etwas für die Gesellschaft geleistet. Sie wären auch mit einem Granit gut bedient gewesen. Hinten auf dem Stirnband saß der Protrektor, das technische Herz. Er schickte die freien Gedanken an RUHL.

      Bewundernd ging Sansibar um den Scooter: „Der ist echt cool“, sagte sie und pfiff durch die Zähne. „Zu meinem Kristallfest wünsche ich mir auch einen Scooter.“

      „Das ist ein Aeroflair 125“, hauchte Marella. Sie strahlte. „Das neue Modell mit Pentussekantrieb.“

      „Der fliegt bestimmt wahnsinnig schnell.“

      Marella nickte. „Eigentlich schon. Aber meine Eltern haben das Sicherheitspaket installieren lassen. Zu meinem sechzehnten Geburtstag wird es deaktiviert. Das haben sie versprochen.“

      Vorsichtig strich Sansibar über das hellblaue Blumenmuster. Der Lack fühlte sich glatt an.

      „Nun steig endlich auf“, drängelte Marella. „Du wirst sehen, er fliegt fantastisch.“

      Sansibar schwang sich hinter ihrer Freundin