Martina Berscheid

Leichtgewichte


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Roland-Stein.“

      Zu spät merke ich, dass ich mich bei seinem dämlichen Namen verhaspelt habe. Sonst sag ich nichts. Was auch.

      Die Stille zwischen uns knistert wie eine 380.000-Volt-Hochspannungsleitung.

      Er denkt nicht dran, den Blick zu senken. Seine Augen sind braun wie Schlammpfützen. Kein Hauch kräuselt ihre Oberfläche.

      „Und wer soll in Zukunft meine Texte verfassen?“, wage ich einen letzten jämmerlichen Versuch.

      „Ihre Kollegen im Marketingteam. So, wie ich es immer propagiert habe.“

      So ist das also. Mein Magen ätzt.

      Boss drückt einen Knopf auf seinem Telefon. „Frau Müller, begleiten Sie Herrn Holm bitte hinaus. Er hat für den Rest des Tages frei.“

      Er schmeißt mich raus!

      Ich verlasse den Raum, bevor seine parfümierte Vorzimmerdame mich eskortieren kann. Meine Jacke hängt noch im Büro, aber ich will keinem begegnen und dumme Fragen beantworten. Lieber friere ich.

      Draußen glänzen die Straßen feucht vom Regen. Platanenblätter verkleben den Bürgersteig.

      Mir ist zum Heulen, verdammt, ich bin sonst nicht der Typ. Jetzt gehöre ich auch zu dem gesichtslosen Gros der Arbeitslosen, so normal geworden in diesem Land und doch anrüchig, so war es in unserer Firma, wo nur die Spitzenklasse ihr Brot verdient. Sagt Boss, wenn er Reden hält. Die schreibt er selbst.

      Ich gehe und gehe, schlurfe durch die Fußgängerzone, vorbei an dem Juwelier, wo Jenny und ich uns letzten Samstag Ringe angeschaut haben, ignoriere das auffordernde Geglitzer aus dem Schaufenster. Mir klappern die Zähne und es dämmert schon, ich muss nach Hause, Jenny wird sich sorgen. Ich habe Angst vor ihrem traurigen Blick. „Dann feiern wir eben nur im kleinen Rahmen“, wird sie sagen, aber ich will keinen kleinen Rahmen, ich will nur einmal heiraten, und zwar Jenny, und ich will eine Party, von denen unsere Gäste noch ihren Enkeln erzählen werden.

      Ich gelange an eine Kreuzung, schleppe mich über den Zebrastreifen. Ein Wagen nähert sich. Schnell.

      Warum macht der nicht langsam, das ist ein Zebrastreifen, verdammt noch mal!

      Ich lege einen Zahn zu, aber …

      Bremsen kreischen. Ich stürze. Zusammengekrümmt liege ich auf der Straße.

      Eilige Schritte. Jemand bleibt vor mir stehen. Schwere Atemstöße. Als sei er oder sie noch nie so schnell gerannt.

      Ich hebe mühsam den Kopf. Schwarze, glänzende Schuhe in grellem Scheinwerferlicht. Ich wische mir über die Stirn, starre auf meine Hand. Blut!

      Jemand greift nach meinem Arm. „Alles in Ordnung?“

      Diese Stimme … Ich hebe den Kopf ein Stück höher.

      „Herr Stein-Roland!“

      „Herr Holm …“ Sein Kehlkopf hüpft.

      „Sie haben mich angefahren!“, krächze ich.

      „Ich habe Sie nicht gesehen.“ Seine Stimme ist rau.

      Er schaut auf den Boden, wo ein bisschen Blut glänzt wie Lack.

      Nicht gesehen? Erst entlässt er mich, und dann fährt er mich um ein Haar zum Krüppel.

      Ich fange an, hysterisch zu wimmern. Mache mich schwer, sodass er Mühe hat, mich zu halten.

      „Was ist denn los, Harry?“, ertönt ein Stimmchen. Danach klackern Stöckelschuhe.

      Boss fährt herum. Eine Frau schlendert näher und bleibt neben ihm stehen: eine Rothaarige mit Botoxgesicht und einem Körper, an dem sich ein plastischer Chirurg so richtig ausgetobt haben muss. In ihrer linken Hand wippt eine Zigarette.

      Boss schließt kurz die Augen. Lässt meinen Arm los. „Nichts, Schätzchen. Geh in den Wagen zurück.“

      In meinem Kopf macht es Klick, wie beim Entsichern einer Pistole. Ein Gedanke schießt in mein Hirn.

      „Herr Stein-Roland.“ Meine Stimme klingt so boshaft, dass ich selbst erschrecke. „Sagen Sie doch bitte Ihrer lieben Frau, sie soll einen Krankenwagen rufen …“

      Ich kralle meine Hand in den feinen Anzugsstoff und ziehe mich an Boss hoch, sodass er fast umfällt. Mit Befriedigung registriere ich, wie mein Blut auf sein Jackett tropft.

      Ich schaue von ihm zu der Rothaarigen. Fasse mir mit der Verwirrung des soeben Angefahrenen an die Stirn.

      „Äh … ist Ihre Frau nicht blond?“

      Boss starrt mich an, mit offenem Mund. Blitzt Verblüffung oder Verachtung in seinen Augen? Sein Haar hängt strähnig herunter. Er riecht nach Schweiß und Angst.

      „Geh endlich in den Wagen, verdammt!“, ruft er über die Schulter.

      Die Rothaarige gehorcht und stakst davon.

      Boss fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht.

      „Ich rufe den Notarzt.“ Er blickt zum Auto, wo außer dem Glühpünktchen einer Zigarette nichts zu sehen ist.

      „Lassen Sie sich so lange krankschreiben, wie Sie zur Genesung brauchen.“ Er seufzt. „Und danach können wir über eine … Entschädigung sprechen.“

      Seine Stimme ist so morsch wie die Baumstümpfe, auf die ich als Kind im Wald immer draufgehüpft bin.

      Bis sie krachten.

      Er wendet sich ab. Aber unsere Partie ist noch nicht zu Ende.

      „Ich will meinen Job zurück. Und ich denke, eine Gehaltserhöhung wäre auch angemessen, Herr Stein-Roland. Über die Höhe können wir uns ja demnächst verständigen.“

      Er bleibt stehen. Und nickt.

      Als der Rettungswagen kommt, ist Boss längst weggefahren.

      „Unfallflucht?“, fragt der Sani, während er meine Kopfwunde begutachtet.

      Ich nicke.

      Er spuckt einen Fluch aus. „Geht’s einigermaßen?“

      Großartig, denke ich, und unterdrücke ein Grinsen.

      Die Schuhe

      Als hätten sie Marie Antoinette gehört: lavendelfarbene Seide mit Lilienmuster, die Schnallen verziert mit filigranen Spangen, silbern wie die hohen Absätze. Sich ihrer Schönheit und Extravaganz bewusst, thronen die Schuhe auf einem kleinen Podest und blicken würdevoll auf den Hofstaat aus Sandalen, Ballerinas und Pumps.

      Nie zuvor hat Helen solche Schuhe in einem Laden gesehen. Wie gut hätten sie zu den Kleidern gepasst, die sie früher trug: pflaumenblaue oder schwarze Ballonröcke mit Spitzenborte, Gehröcke oder Schößchenjacken aus Samt, Rüschenblusen mit Manschetten. Aufgestöbert auf Flohmärkten und in Second Hand-Läden. Sie erinnert sich an die Blicke ihrer Freundinnen, ihre entzückten, schrillen Ausrufe: „Das würde ich mich nie trauen anzuziehen.“

      Jan hatte ihre Kleidung auch gefallen. Ihr Stil sei so individuell. Kapriziös. Bis er ihm, kurz nach ihrer Hochzeit, zu auffällig wurde und sie anfing, Jeans und Shirts zu tragen wie alle anderen. Jan wirkt seither gelangweilt, wenn er sie anschaut, aber beruhigt. Seit der Kleine auf der Welt ist, meidet Helen ihr Spiegelbild. Und niemand betrachtet sie mehr mit Interesse, bis auf ihr Kind.

      Sie schiebt den Gedanken weg, an den Rand des Bewusstseins, wo es schattig ist und alles an Klarheit verliert. Und an Schmerzpotenzial.

      Sie betritt den Laden.

      Die Schuhe passen. Ihre Füße sind schmal geblieben. Die Seide umschließt sie wie eine Liebkosung. Helen bewegt sich in ihnen so sicher, als hätte sie die Schuhe schon oft getragen. Als wäre sie jemand anderes. So wie früher.

      Heute Abend trifft sie ihre Freundinnen. Als Teenager waren