Wolf Döhner

Sheherazade - Mon Amour


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war der gleiche Gast, vor dem mich vorhin der Kellner gewarnt hatte, als ich mich an einen leeren Tisch setzen wollte.

      "Setzen Sie sich an einen anderen Tisch", sagte er, ohne dass ich ihn sogleich verstand. " Hier sitzt noch ein Gast, der gleich wiederkommt."

      Er machte eine unmissverständliche Kopfbewegung, die pure Verachtung ausdrückte und zeigte auf ein halbleeres Bierglas, das noch auf dem Tisch stand.

      Etwas verwirrt begab ich mich zu einem anderen Tisch, an dem schon eine junge Frau saß und las.

      Der Gast kam dann tatsächlich kurze Zeit später zurück. Ein großer, braun gebrannter Kerl im Trainingsanzug. Die schwarzen Stummelhaare standen ihm wie eine Bürste vom Kopf. Seine tief liegenden Augen stachen unter starken Augenbrauen hervor, sodass er auf den ersten Eindruck eher furchteinflößend erschien,

      Aber als er dann zu meinem Tisch kam und die junge Frau ansprach, war seine Sprache leise und fast schüchtern. Sie verstand ihn zunächst genauso wenig wie ich. Dann wurde klar, dass er ihr etwas zu Essen bestellen wollte.

      Sie bedankte sich aber und bat gleichzeitig um Entschuldigung, dass sie hier säße und lese.

      "Sei mir nicht böse, aber ich will jetzt gerade lesen."

      Sie waren also vertraut – wie vertraut war nicht zu erfahren.

      Später ging ich zu meinem Platz im Abteil, um etwas zum Schreiben zu holen. Als ich wiederkam, war der Platz mir gegenüber leer. Der Bürstenkopf saß alleine weiter vor mir, als dann kurz vor der nächsten Station die Szene mit dem Schaffner einsetzte.

      Wo mochte die junge Frau sein? Welches Schicksal mochte beide miteinander verbinden?

      Während ich noch darüber nachdachte, fuhr der Zug wieder an. Draußen lief der Trainingsanzug auf dem Bahnsteig dem Zug mit nach vorne gebeugtem Oberkörper hinterher. Seine Gestalt erhielt dadurch fast etwas Groteskes, so als fiele dieser große Körper beim nächsten Schritt unweigerlich vornüber zur Erde. Aber er fiel nicht. Er wirkte zornig und ratlos. Dann entschwand er meinem Gesichtsfeld.

      So enden Geschichten, dachte ich. Oder sie fangen so an.

      Ich erhob mich, um wieder zu meinem Abteil zu gehen. Im Aufstehen bemerkte ich auf dem Sitz mir gegenüber eine kleine, runde Dose aus Messing, deren Deckel eine emaillierte, sich kreuzende Doppel-Helix zierte. Auf diesem Platz hatte vor kurzem noch die Frau mit dem Buch gesessen.

      Ich nahm das Kleinod auf und öffnete es, obwohl ich mir zunächst nicht sicher war, ob es nicht besser wäre, es liegen zu lassen oder dem Schaffner ungeöffnet als Fundstück zu übergeben. Obwohl....

      Ja, ich war neugierig oder soll ich besser sagen interessiert? Vermutlich hätte sogar fast jeder so gehandelt wie ich. Ein Fundstück muss man zunächst untersuchen und sei es nur um Hinweise auf den Eigentümer zu bekommen. In dem Döschen lag ein winziges Bild des Mannes, den ich eben erst so verzweifelt auf dem Bahnsteig hatte hin und herlaufen sehen. Ich erkannte ihn sofort an seiner vorne übergebeugten Haltung und seinen buschigen Augenbrauen auch wenn er auf dem Bild in einem modischen Anzug gekleidet war, volles, schwarzes Kopfhaar trug und in fast lässiger Haltung auf der Promenade irgendeines touristischen Ortes zu sehen war. Er wirkte auf dem Bild keineswegs mehr so befremdlich, wie ich ihn hier im Zug erlebt hatte. Das Lächeln in seinem Gesicht nahm zudem den Augen den furchterregenden Ausdruck. Kurzum, mir lächelte eine gänzlich andere, durchaus sympathische Person zu. Seinen rechten Arm hatte er zur Seite ausgestreckt so, als habe er jemanden an der Hand. Doch dort fehlte dem Bild die weitere Information, denn offensichtlich war hier etwas abgeschnitten worden, so dass es aussah, als wäre die Hand amputiert worden.

      Anscheinend gehörte das Fundstück der Unbekannten oder vielleicht sogar dem Unbekannten. Unter dem Bild lag zusammengefaltet ein Zettel: „Ein Stern ist uns in unseren Schoß gefallen. In Liebe K“, stand da mit großen, markanten Buchstaben geschrieben. Ich vermutete, dass sie von dem Mann stammten, dessen Äußeres so wenig zu seiner Sprache und zu der Schrift zu passen schien.

      Das Zitat erkannte ich sofort als eines von Lasker Schüler. Viel wichtiger war jedoch, dass jetzt mein Jagdinstinkt geweckt war. Die Frau mit dem Buch musste noch in dem Zug sein, denn anders konnte ich das Verhalten des Mannes auf dem Bahnsteig in Naumburg nicht deuten. Also galt es nur, sie zu finden. Allerdings war mir klar, dass das Finden erst ein Anfang sein würde – von was wusste ich nicht. Aber ich war neugierig und ich merkte, wie meine Fantasie wieder auf Touren kam. Eine Fantasie, die mich in den letzten Jahren fast vollständig verlassen zu haben schien. Mein letztes Buch, das ich veröffentlichen konnte, lag schon fünf Jahre zurück. In der Zwischenzeit hatte ich mich notdürftig von dessen Erträgen und Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten können.

      Es war in der Tat nicht schwer, die Frau zu finden. Ich schlenderte suchend zweimal durch den gesamten Zug und dann sah ich sie. Sie saß in einem leeren Abteil und war in ihr Buch vertieft.

      Ein fragendes Lächeln des Erkennens begegnete mir, als ich in das Abteil trat, bevor sie sich wieder ihrer Lektüre zuwendete.

      Wie sollte ich mich an sie wenden? Sie war vollständig in das Buch vertieft. Es schien mir einfach ungehörig, sie dabei zu stören. Ich betrachtete sie eingehend. Sie mochte Mitte oder Ende dreißig sein, also gut zwanzig Jahre jünger als ich. Ihr dunkler Teint war vermutlich der Rest einer Urlaubsbräune. Er passte jedenfalls gut zu dem schwarzen Pferdeschwanz, der mit einem weißen Seidentuch zusammengebunden leicht hin und herwippte, wenn sie die Seiten blätterte. Ihre randlose Brille gab ihr etwas Lehrerhaftes. Aber das, was ich von den Augen erkennen konnte, zeugte von Interesse und Spaß am Lesen. Immer wieder huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, das in seltsamem Gegensatz erschien zu dem strengen, fast melancholischen Zug um ihren Mund.

      Nach einer Weile hob sie den Kopf.

      „Warum fixieren Sie mich so eingehen? Ist etwas nicht in Ordnung mit mir?“

      Sie schaute mich mit braunen Augen neugierig an und ich merkte wie ich rot wurde.

      „Verzeihen Sie, dass Sie sich durch mich offensichtlich gestört fühlen. Eigentlich wollte ich das gerade vermeiden. Auf der anderen Seite muss ich Sie wohl stören, weil ich vermute, dass Sie das hier im Speisewagen liegen gelassen haben.“

      Und damit hielt ich ihr das Döschen entgegen.

      Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie es fast zögernd entgegennahm. Ohne es zu öffnen legte sie es neben sich, murmelte einen kurzen Dank und griff wieder zu ihrem Buch. Doch dann legte sie es wieder hin und sah mich mit einem fast spöttischen Lächeln an.

      „Sie haben natürlich das Döschen geöffnet und kennen ihren Inhalt. Sie haben den Mann auf dem Bild erkannt und nun sind sie neugierig, wie das Bild und das Zitat zu der Wirklichkeit passen.“

      Ich starrte sie mit offenem Mund an. Eine solche Direktheit hatte ich nicht erwartet. Sie aber stieß ein kleines, kurzes Lachen aus.

      „Sie brauchen sich weder entschuldigen noch verlegen zu sein. Ich hätte sicher genauso gehandelt wie Sie. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie sich vorstellen.“

      Vielleicht wurde ich noch röter, als ich schon war, als ich ihr meinen Namen nannte. Doch dann hatte ich mich gefangen. Mir gefiel ihre gerade Art und die Sprache, die sie sprach.

      „Natürlich haben Sie recht mit Ihren Vermutungen. Ich gebe unumwunden zu, dass ich neugierig bin. Das gehört eben zu dem Beruf eines Schriftstellers.“

      Sie hatte die Brille abgenommen, löste das Seidentuch aus dem Pferdeschwanz, schüttelte kurz den Kopf, so dass ihre Haare sich auf ihren Schultern ausbreiten konnten.

      „Beim Lesen stören mich die Haare, Herr Köhler, oder darf ich Bernd sagen“, meinte sie ohne einen Anflug von Koketterie. Dann fuhr sie fort. „Ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen nennen. Ich heiße übrigens Katharina, Katharina Ulrich. Erzählen Sie mir ein wenig von sich.“

      Ich hatte mich bereits an ihre direkte Art gewöhnt und so berichtete ich in aller gebotenen Kürze über meine Verhältnisse und dass ich nun schon seit einigen Jahren in einer schöpferischen Flaute