Holger Hähle

Rock wie Hose


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02: PPT-Folie mit einer Auswahl von Kostümierungen

      Mit dem Ende der sechsjährigen Grundschule werden Schuluniformen an allen weiterführenden Schulen zur Pflicht. Das gilt für private und öffentliche Schulen. Die Schuluniform soll einerseits die sozialen Unterschiede aufheben, andererseits sollen die traditionellen Geschlechterrollen reproduziert und festgeschrieben werden. Daher gilt für die Mädchen Rockzwang. In Wenzao tragen die Jungen eine lange, dunkle Hose mit einem weißen Hemd und spitzem Kragen. Auf der Brusttasche ist die Schülernummer mit dem Schulwappen eingestickt. Die Mädchen tragen Blusen mit rundem Kragen und dazu eine Schleife am Kragenknopf. Der Einheitsrock für die Mädchen ist ein knielanger Faltenrock mit typisch schottischem Tartan in Blau, Grau und Rot, so wie auf dem Umschlagfoto abgebildet. Heute ist das Schottenkaro ein verbreitetes Muster für Schulröcke in ganz Taiwan. Ursprünglich gab es das nur in Wenzao. Die Idee kam von einer Ordensschwester aus England. Mit dem kiltähnlichen Faltenrock wollten die Nonnen einen Kontrast setzen zu den damals verbreiteten militärisch ausgerichteten Schuluniformen in braunen Khaki-Tönen und Marineblau.

      Seit einigen Jahren dürfen die Mädchen im Winter auch Hosen tragen. Dazu braucht es einen einfachen Antrag. Eine Prüfung der Begründung findet nicht mehr statt. Früher konnten nur z.B. Körperbehinderte so einen Antrag mit Aussicht auf Erfolg stellen. Heute kann jedes Mädchen den Antrag stellen. Die Möglichkeit auch eine Hose zu tragen, wird aber kaum genutzt. Auf meine Nachfragen sagten mir Schülerinnen, dass ihre Mütter das so wünschten, weil ein Rock für angehende Damen ordentlicher ist. Bemerkenswert ist der Kommentar einer Schülerin, die sagte: „Röcke sind etwas Besonderes. Schon im alten China waren Hosen für die Bauern da. Die Beamten bis hin zum Kaiser trugen Kleider. Das ist vornehmer.“ Mich erinnert das an einen indonesischen Studenten, der in einem anderen Zusammenhang bemerkte, dass die muslimischen Männer sehr darauf achten, sich bei feierlichen Anlässen angemessen im Sarong zu kleiden. Dafür käme nur der traditionelle Wickelrock infrage, weil Hosen zu ordinär sind.

      Die Jungs haben meist keine Beziehung zu ihrer Uniform. Sie ziehen sie an und fertig. Einige Frauen hassen ihre Uniform wegen der Rockpflicht, die früher auch an kälteren Tagen keine Ausnahme duldete. Viele Frauen lieben ihre Uniform und heben sie später als Erinnerung an die Schulzeit auf. Alle Lehrerinnen, die ich in meinem Kollegium frage, bestätigen, dass sie noch eine alte Schuluniform zu Hause hängen haben.

      Die Kostümwahl der Schüler in meinem kleinen Karnevalsspiel folgt überwiegend den gewohnten Geschlechterrollen. Als Kind fand ich für mich auch nur Indianer- oder Piraten-Verkleidungen passend. Vielleicht haben sich aber die Zeiten ein wenig geändert. Einige Mädchen wählen das Popeye-Kostüm und einige Jungen stimmen für das Feen-Kostüm. Das Prinzip der grundsätzlichen Kostümfreiheit haben sie also erkannt. Ich frage mich, ob das am Söder als Marylin Monroe liegt?

      Für den Lehrer werden querbeet fast alle Auswahlmöglichkeiten empfohlen. Einige Schüler wollen mir etwas Passendes aussuchen. Sie begründen die Entscheidung für Popeye mit meiner Schwimmerfigur. Andere suchen den kulturellen Brückenschlag und empfehlen mir einen Sun-Yat-Sen-Anzug oder einen Kimono. Eine letzte Gruppe mag es lustig. Sie suchen den Kontrast zum Gewohnten. Sie wollen zu Karneval den Lehrer in der Schuluniform sehen - natürlich in der Uniform der Mädchen.

      Das ist der Moment, wo ich jedes Mal lächle und herausstelle, dass ich mir das als Schüler auch von meinem Lehrer gewünscht hätte. Eine größere Sensation gibt es wohl nicht. Es folgen erwartungsvolle Blicke und nach einer rhetorischen Pause die Frage, wann ich es denn tue. Die Umsetzung sei jedenfalls kinderleicht. Ich lehne dann freundlich ab und erinnere daran, dass eine solche Verkleidung zu sehr mit dem Rollenverständnis als Lehrer bricht. Ich gebe zu bedenken, dass manche Eltern darin einen nicht akzeptablen Autoritätsverlust sehen. Das verstehen sie. Und damit ist das Thema dann abgehakt.

      Als Entschädigung für den entgangenen Spaß habe ich beim ersten Mal in der darauffolgenden Stunde eine Fotomontage präsentiert. Sie zeigt ein Mädchen in Schuluniform, das sich nach einem Mausklick in ein Bild von mir in Schuluniform verwandelt. Meist gibt es dann noch mal Versuche, mich zur Kostümierung zu überreden, die ich aber leicht beenden kann mit der Frage: „Sie wollen doch nicht, dass ich Ärger mit dem Chef bekomme.“

      Ich mag lebhaften Unterricht. Da vergessen die Schüler, dass sie ganz nebenbei gleichzeitig grammatische Übungen machen. Lernen kann leicht sein und Spaß machen.

      Die erste Klasse meiner diesjährigen Karnevalspräsentation ist im ersten Jahr im Junior College. Das entspricht der siebten Klasse in Deutschland. Die Neulinge sind besonders neugierig. Das habe ich schon zur Weihnachtszeit bemerkt. Die konnten von Weihnachtsritualen nicht genug kriegen. Durch den ganzen Advent haben wir Weihnachtslieder gesungen.

      Inhaltlich verläuft der Unterricht wie gewohnt. Gewöhnlich bleibt er trotzdem nicht. Dafür ist das Schülerinteresse viel zu ansteckend. Und bei aller Kontinuität gibt es diesmal dann doch einen kleinen Unterschied mit weitreichenden Folgen.

      Abb. 03a/b: Oben Lotta, unten ich als Lotta

      Bei den Kostümvorschlägen für mich, ist diese Klasse viel beharrlicher als in den vergangenen Jahren. Man will die Schuluniform, unbedingt. Das ist doch „sooo cool“. Ich zeige die Fotomontage, die mich virtuell verwandelt, um die Gemüter zu beruhigen. Ohne Erfolg.

      „Das sieht doch gut aus“, meint Roswita.

      „Ja“, ergänzt Effi: „Die Uniform steht Ihnen wirklich.“

      „Die können Sie eigentlich immer tragen“, setzt Julio nach: „Probieren Sie es einfach mal aus!“

      Von hinten höre ich noch ein: „Wir sagen es auch nicht weiter.“

      Die ganze Klasse blickt mich auffordernd an. Zum ersten Mal komme ich ins Grübeln. Sie haben ja Recht. Also nicht, dass mir die Schuluniform steht, aber dass es lustig wäre. Jeder Schüler denkt das. Als Schüler hätte ich auch so gedacht. Solche Aktionen sind der Stoff für Anekdoten, die man sich noch lange erzählt, wenn man schon längst von der Schule abgegangen und im erwachsenen Alltag angekommen ist. Was ist denn schon dabei. Es ist ein Spaß, für den ich geliebt werde. Völlig ungefährlich.

      Die vielen fordernden Blicke machen es unmöglich rational abzuwägen. Immer noch hadernd, lasse ich mich zu einem Versprechen hinreißen: „Gut, wenn Sie es schaffen eine Uniform zu organisieren, die mir passt, dann werde ich das machen.“

      Tischklopfen und Johlen signalisieren, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Mein Unbehagen schwindet trotzdem nicht. Für den Söder mag das Karnevalsroutine sein. Für mich ist das Neuland. Es ist einfach zu ungewohnt. Ich habe so gar keine Rockerfahrung. Ich liebe zwar Frauen, aber ich habe keine wirkliche Vorstellung von weiblichem Bewusstsein im Allgemeinen und der Bedeutung von Kleidung für Weiblichkeit im Besonderen. Selbst von meiner Frau habe ich nur ein ungefähres Verständnis, wie sie sich als weibliches Wesen im Rock sieht.

      Beim Unterricht in der nächsten Klasse ist der Verlauf ähnlich. Diesmal zeigt man sich aber mit der Fotomontage zufrieden. Die Schüler sind im dritten Jahrgang und mit 17-18 Jahren auch etwas älter. Versprechungen muss ich nicht machen. Natürlich erzähle ich auch nicht von dem Ereignis in der Klasse zuvor. Die Angelegenheit ist mir noch immer nicht ganz geheuer und irgendwie etwas unangenehm. Zu Hause erzähle ich auch meiner Frau nichts. Instinktiv glaube ich auch nicht daran, dass es so weit kommen wird, dass ich mich kostümiere. Die Vorstellung, als Schulmädchen aufzutreten, ist einfach zu fern.

      Erst als ich am nächsten Tag den Vortrag in einem Kurs der Fachhochschule wiederhole, spreche ich nach dem Unterricht davon. Beim Smalltalk in der Pause suche ich nach lustigen Themen, um damit zu unterhalten. So komme ich ganz nebenbei auch zu meinem Versprechen, denn es ist eine Möglichkeit über meine Freude zu reden, die ich bei so viel Begeisterung empfand.

      Die durchschnittlich sieben Jahre älteren Studenten glauben nicht, dass die Schüler des Junior College es schaffen werden, eine Uniform in meiner Größe zu organisieren.

      „Die sind doch mit der Herausforderung überfordert“, heißt es. Ich müsse ihnen schon ein wenig entgegenkommen und wenigstens ein bisschen helfen.

      Eine