Walter Rupp

Humania


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sei bei den Volksvertretern der Humanier nicht nur unbekannt, sondern so verpönt, dass sie dieses Wort mit Verachtung übergehen. Jeder Parlamentarier könne jederzeit eidesstattlich versichern, dass er Geschenke nie annehme, um sich persönlich zu bereichern und sich in seinen Entscheidungen auch nicht beeinflussen lasse, sondern höchstens, um die Staatskasse zu entlasten. Einladungen zum Essen folge er nur, wenn auf diese Weise der Kontakt mit einem Wähler intensiviert werden kann. Firmenwagen lasse er sich nur unter der Bedingung zur Verfügung stellen, dass man ihn nicht als Werbeträger missbraucht. Und auf das Angebot zu einer kostenlosen Ferienreise für sich und seine Verwandtschaft ginge er nur ein, wenn sicher sei, dass das seiner Weiterbildung und letztlich der Völkerverständigung dient.

      In Humania ist es üblich, gegen jede Art von Diktatur und Menschenrechtsverletzungen mit großem Mut und bewundernswerter Entschlossenheit aufzutreten, und sich nicht durch Drohungen einschüchtern zu lassen. Das Tragische ist nur, dass Antifaschisten immer erst nach dem Zusammenbruch des Faschismus und Antikommunisten immer erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auftreten, in Zeiten aber, in denen man sie dringend bräuchte, nicht zu finden sind. So bleibt es ein Rätsel, wo sie sich zwischen 1933 und 1945 aufgehalten haben, und wie sich die Diktatur, angesichts der beeindruckenden Zahl Oppositioneller an der Macht halten konnte.

       Hofbeichtväter wurden überflüssig, weil kein Politiker mehr einsehen kann, wehalb er seine Fehler, über die die Medien ausführlich berichten, noch einmal in einer Beichte unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekennen soll.

       Ein wegen seiner Affären in die Schlagzeilen geratener Bundestagsabgeordneter

      Die Führungsschicht

      In Humanien zählt man Journalisten, deren Intelligenz und Wahrnehmungsfähigkeit über dem Durchschnitt liegen, zur geistigen Elite. Sie haben das Recht, sich jederzeit ungefragt zu Wort zu melden und Erfahrungen weiterzugeben, die kaum jemand machen möchte. Sie hätten es fast geschafft, die noch in Freiheit lebenden Völker für die hohen Ideale eines von allen menschlichen Unzulänglichkeiten gereinigten Marxismus zu begeistern, hätten die unter dem Kommunismus lebenden Völker mit ihrem Freiheitsdrang das nicht verhindert. Da jeder Journalist imstande ist, auf jede Frage die einzig richtige Antwort zu geben, die Versäumnisse oder Fehlentwicklungen, unter denen das Land leidet, mit erstaunlicher Genauigkeit und Leichtigkeit zu analysieren und die für die Heilung wirksamsten Rezepte zu benennen, ziehen die Politiker es vor, anstatt selbst zu führen, sich von ihnen führen zu lassen.

      Ich selbst habe Woche für Woche erlebt, mit welcher Spannung und Dankbarkeit die Humanier auf die Ausgabe des hoch angesehenen Wochen-Magazins „Der Prügel“ warten. Auf meine Frage an den Herausgeber, was denn das Geheimnis der außerordentliche Beliebtheit seines Magazines sei, versicherte er mir: Seine Beliebtheit sei vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass es der Neigung der Humanier zu zersetzender Kritik und lähmender Skepsis entgegenwirke und den Mut habe, die Abonnenten - und darüber hinaus jeden, der es nötig hat - mit väterlicher Strenge zurechtzuweisen und liebevoll an die Hand zu nehmen, um sie sicher durch ihre Probleme zu führen. Denn die Humanier, auch die in Führungspositionen, blieben - auch als Erwachsene - Kinder und bräuchten bis ins hohe Alter eine feste Hand.

      Eine auffallende Erscheinung ist es auch, dass man in Humania den Querdenkern große Aufmerksamkeit schenkt und eine außergewöhnliche Hochachtung entgegenbringt. Da sie so schnell sprechen können, dass alle, die nachdenken, Mühe haben, mitzukommen, bezeichnen sie sich selbst auch gerne als Vordenker. Man bewundert sie, weil sie es meisterhaft verstehen, abgewirtschaftete, aus der Mode gekommene und längst vergessene Ideen auszugraben, um sie ihren Zeitgenossen als Neuheit anzubieten.

      Seitdem es diesen Vordenkern gelungen ist, in Humanien das positive Denken durchzusetzen, haben die Leute Mühe, in der Welt überhaupt noch etwas Böses zu entdecken. Sie finden, dass durch Konsumeinstellung Wirtschaftszweige florieren können, die vielen Menschen Arbeitsplätze bieten; dass Steinwürfe oder Straßenschlachten den Bürger aus seiner Lethargie wachrütteln und Missstände schonungslos bloßlegen; dass Gammler die Gesellschaft vor Überlastung ihrer Bildungsstätten schützen; Abtreibungen die Emanzipation der Frau sichern und ein Kind vor der Last bewahren, leben zu müssen; dass Süchte die Pädagogen zwingen, über Versäumnisse nachzudenken und die Kriminalität die Polizei dränge, ihre veralteten Fahndungsmethoden zu verbessern; dass Kirchenaustritte den längst fälligen Gesundschrumpfungsprozess der Kirchen beschleunigen, und Katastrophen den Technikern beweisen, wie unzureichend ihre Sicherheitsvorkehrungen sind. So ist nicht verwunderlich, dass man in Humania kaum noch Übel bekämpft, weil man der Ansicht ist, ein Übel sei gar nicht so übel.

      Wenn die Humanier oft außerstande sind, schwierige Probleme zu lösen, dann ist das der Tatsache zuzuschreiben, dass die Intellektuellen bei ihnen in der Mehrzahl sind. Da die Politiker sich nicht - wie einst die Monarchen - mit Hofbeichtvätern und mit Narren umgeben, sondern mit diplomierten Ratgebern und Experten, ist es unmöglich geworden, sie von törichten Entscheidungen abzuhalten.

       Der Staatssekretär ‘für dringende Angelegenheiten’ wies den Vorwurf, er verwische den Unterschied zwischen privatem und dienstlichem Bereich, als haltlos zurück. Er beteuerte, dass er keinen Privatbereich kenne, und sich nur für seine Dienste entschädigen lasse.

       Klarstellung im Magazin ‘Der Prügel’

      Gesellschaft

      Jene Humanier, die bei der Arbeit am eigenen Charakter nicht weiterkommen, versuchen sich als Gesellschaftsreformer zu betätigen. Mit bewundernswerter Selbstlosigkeit und Einsatzfreude gehen sie daran, die Zustände am Arbeitsplatz, in den Schulen oder Kirchen, und ihre Mitmenschen zu verbessern. Sie greifen dabei auf alte Modelle zurück, die schon früher einmal scheiterten, und entwerfen neue, die sich nie bewähren werden. So rechnen sie sich eine Chance aus, endlich einmal eine entscheidende Rolle spielen zu dürfen.

      Ein schon ergrauter und seniler, aber bei den Studenten - trotz seines hohen Alters - umso mehr verehrter Privatlehrer für Gesellschaftspolitik, der - soweit ich herausfinden konnte - Karl Marxer oder Murxer heißt, und der mit Hilfe seiner Theorien die Wirtschaft zahlreicher Länder ruinieren konnte, ohne dadurch sein Ansehen als Wirtschaftstheoretiker zu beschädigen, versuchte mich zu überzeugen, dass es zwei Wege zu einer paradiesischen Gesellschaft gebe: Man müsse entweder dem Strom, der den Garten Eden bewässerte und sich in vier Arme teilte, solange stromaufwärts gehen, bis man das Paradies erreicht, und den Engel - sollte er noch als Wache vor dem Tor des Paradieses stehen - mit Protestmärschen oder Steinwürfen vertreiben. Sollte er sich jedoch nicht vertreiben lassen, könnte man an einem anderen Platz, - es gäbe genügend Plätze, die sich dafür eignen - aus eigener Kraft ein noch schöneres Paradies errichten. Die Menschheit habe dafür tausende von Jahren Zeit. Einwände erstickte er mit dem Satz, den er mit geröteten Augen wiederholte: „Es ist kaum zu glauben, was möglich ist, wenn man nur glaubt.“

      Den Begriff ‘Lebensqualität’ habe ich in Humanien bis zum Überdruss gehört. Niemand weiß, wer ihn zuerst erfunden hat und was darunter zu verstehen ist. Die einen stellen sich dabei ein unüberschaubares Angebot von Waren vor, andere Studienförderung und Weiterbildung mit großzügigen Stipendien, andere die Vermehrung von Krankenbetten und Kindergartenplätzen oder bezahlten Urlaub, und vor allem soziale Sicherheit. Die Vergnügungsindustrie hilft dabei kräftig mit, dass jeder ohne Unterbrechung in Zerstreuung leben kann.

      Da die Vorstellungen über die Reformen so zahlreich sind wie die Reformer, ist eine Übereinstimmung darüber ausgeschlossen, wie gleich alle sein sollen und wieviel Entscheidungsspielraum jedem zugestanden werden soll? Ob eine strenge Ordnung, ein kontrolliertes Chaos oder das Rudelverhalten, wie es sich unter Raubtieren bewährt, den Vorzug haben sollen? Ob man auf einer geregelten Arbeitszeit oder auf dem regelmäßigen Besuch von Vergnügungsstätten bestehen soll? Wie man Verbrecher als normale Bürger in die Gesellschaft integriert? Wie man jedem Bewohner des Landes seinen Zweitwohnsitz und seine verkehrsfreie Straße garantiert?