Sven Hauth

Marsjahr


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des Rasenmähers jedes seiner Worte verschluckte.

      Natürlich war er sich seines Status als Witzfigur wohl bewusst. Ein alter Mann mit den roten Micky-Maus-Ohren des Gehörschutzes, auf einem John Deere Mäher, der aussah wie die Mini-Trecker, die man zwischen ähnlich geschrumpften Jeeps und Feuerwehrautos auf Kinderkarussells fand. Aber das Gespött der Schüler konnte ihm schon lange nichts mehr anhaben. Knapp dreißig Jahre Hausmeisteralltag hatten ihm ein dickes Fell wachsen lassen. Und nachmittags, wenn die Schüler zu Hause über ihren Hausaufgaben brüteten, verschoben sich die Machtverhältnisse. Dann war er es, der an der Apollo das Kommando hatte.

      Darren drehte eine letzte Runde und fuhr am Gehweg vorbei. Löwenzahn spross aus jeder Ritze zwischen den Betonplatten. Ein klarer Fall für den Kantenschneider. Er wendete den Mäher und steuerte auf seinen Geräteschuppen zu. Sobald er den Wildwuchs beseitigt hatte, würde er sich eine wohlverdiente Zigarette gönnen. Danach stand seine Lieblingsaufgabe an – der Kontrollgang durch das Schulgebäude.

      Darren grinste, denn er wusste, dass es einiges zu kontrollieren gab.

      -

      Nach Unterrichtsschluss trafen sich Paul und Mark am Trophäenkasten. Seit Mark ein Auto besaß, chauffierte er Paul damit nach Hause, wann immer es sein Zeitplan erlaubte. Im Gleichschritt trotteten sie Richtung Parkplatz.

      "Ich hasse es, fotografiert zu werden", sagte Paul

      "Besser als Unterricht."

      "Wozu soll der Blödsinn mit dem Jahrbuch überhaupt gut sein?"

      "Damit deine Freunde sich in zehn Jahren darüber lustig machen können, wie du heute aussiehst."

      "Als ob sich in zehn Jahren noch irgend jemand an uns erinnern wird."

      "Klar werden sie das, Alter. Wir sind doch die wahren Rockstars hier."

      "Nur ohne Band und Groupies."

      Mark nickte in Richtung Hausmeister, der auf seinem lächerlichen Aufsitzmäher über den Grünflecken vor der Schule ratterte und eine gestutzte Rasenbahn hinterließ.

      "Da ist einer, an den sich jeder erinnern wird."

      Dirty Darren war an der Schule eine lebende Legende. Immer, wenn es irgendwo etwas zu reparieren gab, war er zur Stelle. Jeder Schüler kannte ihn, trotzdem schien niemand Näheres über ihn zu wissen, weder seinen Nachnamen noch sein genaues Alter. Seinen Spitznamen hatte er erhalten, weil man ihn nur in dem blauen Overall kannte, der für gewöhnlich übersät war mit Grasflecken und anderen schmierigen Hinterlassenschaften seines Tagwerks. Unter den Schülern kursierten Gerüchte, dass Dirty Darren außerhalb der Apollo nicht existierte. Abhängig vom Erzähler schlief er mal zwischen den Heizkesseln im Schulkeller, mal in seinem Geräteschuppen. Manche behaupteten, er benötige überhaupt keinen Schlaf und wandere nachts ruhelos durch die Schulflure. Mit dem silbernen Vollbart erinnerte er Paul immer an das Schwarz-Weiß-Porträt von Ernest Hemingway auf dem Buchumschlag von "Der alte Mann und das Meer".

      Mark winkte Darren zu.

      "Fuck you, du alter Sack!", rief er, als Darren aufsah.

      "Hey, was machst du denn?", fragte Paul.

      "Der hört nichts unter seinen Micky-Maus Ohren."

      "Trotzdem. Dirty Darren ist doch in Ordnung." Paul erinnerte sich an eine Episode aus seiner Freshmanzeit, an dem er seine Kombination vergessen und der Hausmeister ohne großes Aufheben den Spind für ihn geknackt und ihm einen neuen Zahlencode eingestellt hatte.

      "Deshalb sag ich es ihm ja auch nicht ins Gesicht."

      Darren winkte zurück und rief etwas, das im Knattern des Mähers unterging. Dann wendete er und verschwand hinter dem kleinen Holzverschlag, der sämtliche Werkzeuge beinhaltete, die zur Instandhaltung einer High School nötig waren.

      Der Gedanke an Dirty Darrens Geräteschuppen weckte in Paul nostalgische Gefühle, an eine Zeit, in der die 80er Jahre frisch und unschuldig waren und der Alltag voller Geheimnisse steckte.

      An jenem Sommertag, an dem Paul und Mark bechlossen, ihrer zukünftigen High School einen Antrittsbesuch abzustatten, brannte die Sonne unbarmherzig von einem wolkenlosen Himmel. Sie sattelten ihre BMX-Räder und strampelten fünf endlose Meilen durch die klebrige Hitze. Dehydriert und mit verbrannten Nacken bremsten sie am Haupteingang und starrten ehrfurchtsvolle auf den Schichtkuchen aus rotem Backstein und Zement, der ihre neue akademische Heimat werden sollte. Dies also war die Apollo – der magische Ort, an dem die Großen zur Schule gingen. In wenigen Wochen, wenn die Ferien vorbei waren, würden auch Paul und Mark Mitglieder dieser privilegierten Vereinigung sein. Goodbye Grundschule, für immer.

      Sie fuhren um das Gebäude herum über den Rasen, um sich die Sportanlagen auf der anderen Seite anzusehen. Auf halbem Weg stießen sie auf Darrens Schuppen.

      "Was da wohl drin ist?", fragte Paul.

      "Wir werden es nie erfahren, wenn wir nicht nachschauen." Mark ließ sein Rad ins Gras fallen und spähte durch eines der Quadrate in dem winzigen Sprossenfenster.

      "Kannst du was sehen?"

      "Ist zu dunkel." Er kniete sich hin und zerrte an der Unterkante eines der Holzbretter.

      "Was machst du da?", fragte Paul.

      "Siehst du doch. Los, hilf mit."

      Gemeinsam rüttelten sie der Reihe nach an diversen Brettern, bis sie eines fanden, das locker genug saß. Der rostige Nagel löste sich quietschend aus dem Querbalken, und Mark bog das Brett zur Seite wie den Zeiger einer Turmuhr.

      "Gehen wir mal rein."

      "Und wenn der Hausmeister uns erwischt?"

      "Wenn schon. Was soll er machen? Uns den Kopf abschneiden?"

      Zehn Jahre waren ein Alter, in dem es gerade noch als cool durchging, in einen fremden Schuppen einzudringen. Nacheinander zwängten sie sich durch die schmale Lücke ins Innere.

      "Wow", sagten sie gleichzeitig.

      Sie wagten kaum zu atmen. An einer Wand hingen Gartengeräte. Scheren, Harken, Schaufeln – allesamt neu und unbenutzt aussehend. Die staubigen Lichtstrahlen, die durch die Ritzen ins Innere drangen, verwandelten sie in mysteriöse Skulpturen. Auf der Werkbank lagen nach Größe sortierte Maulschlüssel, pedantisch aufgereihte Schraubenzieher, Imbusschlüssel und Zangen. Darunter standen Elektrogeräte, deren Funktion sich Paul nicht erschloss. Mittendrin parkte der Aufsitzmäher, damals noch ein älteres Baujahr, angestrahlt von der Sonne, die durchs Fenster fiel, wie ein Star im Spotlight.

      Es waren nur Werkzeuge, doch sie erschienen wie seltsame Gegenstände aus einer fremden Welt – der unbekannten Hausmeister- und Gärtnerwelt, die sich in diesem Augenblick mit der naiven Welt der Zehnjährigen kreuzte.

      "Wir sollten besser gehen", flüsterte Paul.

      "Gleich." Mark inspizierte einen weißen Schrank in der Ecke. Er zog an der Tür, die sich mit einem schmatzenden Geräusch öffnete. Im Schrank wurde es hell.

      "Ein Kühlschrank." Marks Kopf verschwand in dem Licht. "Yeah, Cola!"

      Mark nahm sich eine Dose und warf Paul eine andere zu.

      "Mark, lass uns abhauen."

      "Sofort. Nur noch austrinken."

      Er setzte sich auf den Mäher, öffnete die Dose und spielte an den Hebeln und Knöpfen des Minitraktors.

      Paul rechnete damit, dass der Hausmeister jeden Moment hineinstürmen und die Heckenschere von der Wand reißen würde. Riesig wie sie war, hätte er mit einem einzigen Schnitt sowohl seinen als auch Marks Kopf abtrennen können. Doch alles blieb still.

      Schließlich wurde Mark langweilig. Sie krochen zurück ins Freie und schoben das Brett an seine ursprüngliche Position. Nichts wies darauf hin, dass der Schuppen unberechtigt betreten worden war.

      "Bereit für den Pussy Magnet?"

      Marks Stimme riss Paul der Vergangenheit. Sie waren auf dem Schülerparkplatz