Shimona Löwenstein

Am Ende des Wohlstands


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      Shimona Löwenstein

      Am Ende des Wohlstands

      Irrwege und Fehlentwicklungen der Reformpolitik

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       1 Der Mythos des Sozialen

       2 Beschäftigungstherapie statt Arbeit

       3 Gesundheitswesen für Gesunde

       4 Die Metastasen

       5 Nachtrag: Einige Überlegungen zu Ursachen und Bekämpfung der Armut

       6 Anmerkungen

       7 Quellen

       8 Abkürzungen

       Impressum neobooks

      1 Der Mythos des Sozialen

      Vor beinahe schon fünfzehn Jahren beleuchtete Walter Wüllenweber in einem Aufsatz in der Berliner Zei­tung folgenden zunächst etwas befremdlich anmutenden Sachverhalt: Das Sozial-Logo biete die perfekte Tarnung für eine Hilfeindustrie, die den Hilfsbedürftigen nicht nur nichts nützt, sondern ihren Interessen eher schadet. Das gilt nicht nur für die karitative Tätigkeit von Mutter Teresa, von deren Einnahmen (100 Millionen jährlich) angeblich 90 % nach Rom überwie­sen wurden, sondern auch für die ertragsreichen Hilfeindustrien in Deutschland, die an der Beseitigung der eigentlichen Übel oder Mißstände in Wirklichkeit wenig Interesse ha­ben, weil sie damit ihre Existenzberechtigung in Frage stellen würden. Zwei Beispiele wurden ge­nannt: das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ (AGAG) und die „Arbeitsbe­schaffungsmaßnahmen“ (ABM), insbesondere in Ostdeutschland. Es zeigte sich, daß diese „sozialen Aktionen“ kontraproduktive Auswirkungen für die zu erreichenden Ziele ver­zeichneten. [1]

      Wie ist es aber möglich, daß humanitäre oder soziale Hilfeleistungen den Hilfsbedürftigen eher schaden als helfen? Handelt es sich um Mißbrauch oder um strukturell bedingte Systemfeh­ler, die dazu führen, daß immer mehr Armut entsteht, je mehr Armutsbekämpfung betrieben, daß trotz großer Bemühungen, Arbeitsplätze zu schaffen, die Arbeitslosigkeit wei­ter wächst, und daß bei stetig steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen Teile der Bevölke­rung schlechter versorgt sind? Viele Menschen spenden oder engagieren sich ehrenamtlich, für Entwicklungshilfe, für die Bekämpfung von Armut und Krankheiten und sonstige hu­manitäre Ziele (in der letzten Zeit insbesondere für Flüchtlinge) oder auch für diverse Natur- und Umweltschutzprojekte in der Annahme, ihre Hilfeleistun­gen seien sinnvoll. Auch die Bereitschaft, Wohlstand zu teilen, und der Stolz auf den Sozialstaat, der allen ein menschenwürdiges Leben und Teilhabe am gesellschaftlichen Fort­schritt ermöglichen sollte, blieben lange Zeit unangefochten. Was ist geschehen, daß das angeblich „Soziale“ asoziale Konsequenzen zeitigt, während Hilfeleistungen Mißstände nicht beseitigen, sondern nur die wachsende Hilfeindustrie fördern, die von den Mißständen lebt? War dem immer schon so oder entstanden diese Schieflagen erst durch gesellschaftliche Fehlent­wicklungen?

      Das Konzept einer Ordnung, die später als die „soziale Marktwirtschaft“ bezeich­net wurde, wie es von den Vertretern des ursprünglichen deutschen Neoliberalismus, des sogenannten Ordo-Liberalismus, vor allem von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, in der Nachkriegszeit formulierten wurde, ging von der Vorstellung der freien Marktwirtschaft, der Wettbewerbsordnung als der effizientesten und gerechtesten Wirtschaftsordnung aus, de­ren Schutz vor privatwirtschaftlicher Vermachtung dem Staat aufgetragen wurde. [2] Dieser An­satz sollte nicht mit dem heutigen konzeptlosen „Neoliberalismus“ verwechselt werden, der im Gegenteil die immer größere Machtkonzentration durch globale Weltwirtschaftskonzerne und die gängige Praxis des rücksichtslosen Aufkaufens anderer Unternehmen, einschließlich „feindlicher Übernahmen“, Monopolisierung, Kartellbildung und Beseitigung von Konkur­renz eher mit sozialdarwinistisch anmutenden Schlagworten über die Durchsetzung des Tüchtigeren als quasi Naturgesetz zu rechtfertigen sucht. Die „soziale Markwirtschaft“ sollte auch keinen „dritten Weg“ im Sinne eines Kompromisses zwischen der als ineffizient erkann­ten Planwirtschaft und dem „ungebändigten Kapitalismus“ [3] einschlagen, sondern eine Syn­these von echter Marktordnung und Wohlstand der ganzen Bevölkerung schaffen, deren be­nachteiligte Teile erst bei seiner Verteilung mitberücksichtigt werden sollten. Somit war die Auf­gabe des Staates zunächst die Sorge für Rahmenbedingungen der Marktordnung und Beach­tung von fairen Spielregeln, damit es auf dem Markt zu keiner „Vermachtung“ kommt, danach die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens und gleicher Chancen für alle.

      Dieses Konzept wurde aber vorschnell als Festlegung von Zielen durch staatliche Eingriffe in das Spiel der Wirtschaft mißverstanden, infolge dessen in das Marktsystem immer mehr dirigisti­sche und marktfremde Bestandteile hineingetragen wurden, die dessen Funktionsfähig­keit beinträchtigen. Es beruhte auf einem Denkfehler: Der Zweck der Wirt­schaft, nämlich die an sich moralisch neutrale Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung, die erst im Zusammenspiel des Marktes moralisch zu bewertende Ergebnisse (Arbeitsplätze, allgemeinen Wohlstand) als Nebenfolgen hervorbringt, wurde mit diesen Nebenfolgen selbst verwechselt. Man könnte diese Denkweise etwa durch die Vorstellung veranschaulichen, als würde man bei einem Fußballspiel nicht für das faire Spielen sorgen, sondern den Gewinner im voraus bestim­men und durch Eingriffe ins Spiel oder Modifizierung der Regeln das Ergebnis garantie­ren wollen. Diese Auffassung erinnert an archaische ökonomische Vorstellungen der Kirchenväter, die durch die Einführung von Moralgesetzen in die Rahmenbedingungen des Mark­tes, das Festlegen von gerechten Preisen oder Löhnen, die Marktwirtschaft ihrer Effi­zienz beraubten. Das Ergebnis dieses Moralismus ist keine moralische Wirtschaft, sondern eine Verschwendung von Mitteln und Chancen, die dadurch gerade den Ärmsten vorenthalten wer­den. [4]

      Ludwig Erhard, dessen hauptsächliches Verdienst es war, die Marktwirtschaft in der Bundesre­publik auch gegen die anfängliche Skepsis der Alliierten durchgesetzt zu haben, hatte vor dieser Entwicklung gewarnt: „Die Marktwirtschaft und die menschliche Freiheit und Frei­zügigkeit müssen Schaden leiden und am Ende verlorenge­hen, wenn etwa um des Phan­toms des Wachstums willen die in­nere und äußere Stabilität unserer Wirtschaft nur noch durch immer weiter greifende Eingriffe des Staates in das wirt­schaftliche Gefüge rein äußer­lich in einem technologischen Sinn gewährleistet erscheinen, während der Wissende sehr wohl erkennt, daß diese notwendig immer weiter um sich greifende ‚Plan’-Wirtschaft mit dem Ge­danken einer freiheitlichen Le­bensordnung nicht mehr vereinbar ist.“ [5]

      Das Problematische an dieser Entwicklung waren nicht die guten Absichten der sozialen Refor­mer, sondern die Art und Weise, wie man diese zu verwirklichen suchte, nämlich durch direkte Eingriffe in die wirtschaftlichen Abläufe, beispielsweise durch Festsetzung von Min­dest- oder Höchstpreisen, die zu Deformationen des jeweiligen Marktes führen, diverse Nebenfol­gen bewirken und der gewünschten Vorstellung eher zuwiderlaufen. So führte etwa die Festsetzung von Höchstpreisen [6] für Mieten in Altbauwohnungen keineswegs zur Siche­rung von preiswerten Wohnungen für „sozial Schwache“, d.h. Menschen mit niedrigem Einkom­men, sondern zu einem desintegrierten Wohnungsmarkt. Es kam zur überdimensiona­len Steigerung der Mieten in den Neubauwoh­nungen, von den Vermietern beabsichtigtem Ver­fall von alten