Shimona Löwenstein

Am Ende des Wohlstands


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Zwangsversiche­rung in allen Bereichen, mache seine Bürger nicht nur nicht freier, sondern lasse an dem gewaltigen, unübersichtlichen und intransparenten Umverteilungs- und Versiche­rungssystem ganz andere Gruppen als die tatsächlich Hilfsbedürftigen profitieren: vor allem Berufspolitiker, Interessengruppen und die öffentlichen Bediensteten, denen die Umver­teilung obliegt. „Das unübersichtlich und intranspa­rent gewordene staatliche Wohlfahrtssy­stem scheint besonders Berufspolitikern zu nützen, die über die Austeilung von ‚sozialen Geschenken’ ihre Wahlkämpfe führen. Mittels Ausver­kauf der Freiheit sichern sie sich ihre Macht.“ [24]

      Dreißig Jahre nach dem beklagten Vordringen so­zialistischer und dirigistischer Vorstellun­gen sieht dieses System, das über den Kommunismus im Kalten Krieg gesiegt hatte, nicht als eine Synthese von echter Marktordnung und staatlicher Sozialpolitik aus, sondern als ein von einer politischen Oligarchie regierter unersättlicher Leviathan. Die mit vielen Einschränkun­gen, regulierenden und inter­venierenden Maßnahmen belastete Wirtschaft gilt ihm als Werk­zeug verschiedener Interessen und Mittel zur Finanzierung anderer, weder freiheitlicher noch sozialer Ansprüche. Die Umformung des Sozialen zum Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates, das auf altbekannten Säulen, nämlich Angst, Intransparenz und Solidaritätsappellen be­ruht, verfehlt zunehmend sein proklamiertes Ziel, die „soziale Gerechtigkeit“, äußerte spä­ter Meinhard Miegel. Der Sozialstaat habe die Gesellschaft, von der er lebt, entsolidarisiert, entmündigt und damit entwürdigt, deformiert und völlig ausgelaugt, bis er jetzt an die Gren­zen deren Tragfähigkeit gelangt sei: Jahrzehntelang habe er keine Vorsorge getroffen, keine Zu­kunftsinvestitionen getätigt, sondern bloße Umverteilung betrieben. Mit Täuschung, Betrug und Illusionstheater, insbesondere durch die Illusion eines „Wohlstands auf Pump“, der nur durch stets zunehmende Schuldenberge finanziert wird, sucht er seine Herrschaft weiter aufrechtzu­erhalten. [25]

      Der so gepriesene deutsche Sozialstaat erscheint angesichts all dieser Tatsachen in einem ganz anderen Licht, nämlich als ein verschwenderisches System, von dem vor allem große organi­sierte Interessen, Berufspolitiker, Staatsdiener und die angeschlossene Hilfeindustrie profitie­ren, der aber die Lebensgrundlagen der Gesellschaft auf Kosten der Zukunft verzehrt. Der parasitäre Charakter dieser nur vermeintlich „sozialen“ Hilfeleistungen ist bezeichnend für viele Bereiche der Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß inzwischen fast alle grundlegenden gesellschaftlichen Sphären, der Arbeitsmarkt und alle sozialen Systeme (das Renten- und Gesundheitswesen), die Infrastruktur, die Umwelt und die Bildung bis zur Krimi­nalitäts- und Gewaltbekämpfung von dieser Entwicklungstendenz betroffen sind. Dieser Trend hat zur Folge, daß sich überall eine überdimensionierte „Hilfeindustrie“ etablierte, die ihre ursprünglich sinnvolle Funktion nach und nach durch eine selbstbezogene Scheinhilfe als Selbstzweck ersetzt. Die Struktur dieser Inanspruchnahme bestimmter gesellschaftlicher Funktio­nen ist mit der eines Tumors vergleichbar, der für sein eigenes Wachstum die Funk­tion gesunder Zellen und Organe so lange unterbindet, bis der ganze Organismus zugrunde geht. So wurde jedenfalls die Situation um die Jahrhundertwende seitens der Kritik gesehen und daraus auf eine gerundlegende Reformierung des ganzen Systems geschlossen. Die Frage ist allerdings, ob die seitdem vorgenommenen Reformen auch die richtigen Heilmittel waren, d.h. ob sie die diagnostizierte Krankheit tatsächlich behandelt oder eher verschlimmert haben.

       1.1. Die Krise des Sozialstaats und der Tanz auf der „Titanic“

      Die sich ständig verschlechternde Situation in mehreren sozialen Bereichen war also gut be­kannt, wurde jedoch verdrängt. Immer heftigere Kritik an sorgloser Politik kam seit den 80er Jahren vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern. So wies beispielsweise das Frankfur­ter Institut für wirtschaftspolitische Forschung seit 1983 in mehreren Publikationen auf die Gefah­ren des sehr verbreiteten kurzsichtigen, engstirnigen und punktuellen Denkens in der Poli­tik hin, das allmählich auch das einzelwirtschaftliche Denken und Handeln korrumpiert und fehlgeleitet habe: Nebenwirkungen und langfristige Folgen von politischen Entscheidun­gen wurden ausgeblendet oder verdrängt, überfällige Korrekturen hinausgezögert und Illusio­nen über die Tragfähigkeit staatlicher Finanzen geschürt. Durch Mängel im Bildungswesen und die Behinderung von Forschung und Entwicklung wurden ungünstige Bedingungen geschaf­fen, durch Preisinterventionen, ein unzweckmäßiges Steuersystem, desorganisierte Mietwohnungs­märkte, brüchige Renten-, Pflege- und Krankenversicherungssysteme und eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Reglementierungen, Wettbewerbsbeschränkungen, strukturkon­servierenden Subventionen u.ä. die Wirtschaft verwirrt und gelähmt, private Initia­tive fehlgelenkt. Die Folgen waren Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur zugun­sten von Konsumausgaben, vor allem Sozialleistungen und Subventionen, und deren Finan­zierung durch immer höhere Neuverschuldung, d.h. Verlagerung von Lasten auf kom­mende Generationen. [26] Kritisiert wurden also vor allem die kontraproduktive Förderungs- und Reglementierungspolitik, die Tendenz zur Bürokratisierung und Verrechtlichung der Wirt­schaft und des Arbeitsmarktes, die Kostenexpansion der Staatsausgaben und der sozialen Versicherungssysteme sowie auch die moralische Zweifelhaftigkeit von vermeintlich sozialen Ziel­setzungen in der Praxis. Die Empfehlungen des Instituts waren 1994, die Fehlentwicklung die­ses verkürzten Zeithorizonts und dessen Folgen allgemein bewußt zu machen, eine Übertra­gung von Entscheidungsfreiheiten auf private Unternehmen und Haushalte, die Einfüh­rung institutioneller Stabilisierungsfaktoren (wie es z.B. die Bundesbank vor der Einfüh­rung des Euro war) sowie die Überprüfung aller Gesetzesvorlagen im Hinblick auf ihre Ne­ben- und Fernwirkungen in der Zukunft. Sie wurden allerdings nie befolgt.

      Die ersten beiden sozialdemokratischen Kanzler haben den Sozialstaat ausgebaut und unverant­wortlich expandieren lassen. [27] Auch während der 16-jährigen Kanzlerschaft von Hel­mut Kohl trat die lange angekündigte politische Wende im Sinne einer grundlegenden Re­form der sozialstaatlichen Strukturen nicht ein, im Gegenteil: Die kritische wirtschaftliche Situa­tion hat sich mit einer Steigerung der Staatsverschuldung um 240 % und der Arbeitslosig­keit um 60 % sowie einer steigenden Steuer- und Abgabenlast weiter verschlim­mert. Daher wundert es nicht, daß der spätere (verbale) Reformkonsens zugleich als Abschied vom „Sozialen“ gedeutet wurde. Ende der Siebziger war dieser zum Leitbegriff der Republik geworden, während Kohls Wiedervereinigung in dessen traditionell etatistischer Logik er­neut zum Projekt der Sozialpolitik gemacht und deren Kosten dem sozialen Sicherheitssystem auf­gebürdet wurden. [28] Statt einer Wende redete man am Ende der CDU-Regierung eher von ei­nem Reformstau.

      Aber auch die an Gerhard Schröder geknüpften Reformhoffnungen haben sich nicht er­füllt. Es erschein zunächst nicht allzu realistisch, nachdem eine nur scheinbar konservative Regierung sechzehn Jahre lang dieselbe Verteilungs- und Beschwichtigungspolitik betrieben hatte, von ei­ner sozialdemokratischen eine wesentliche Änderung zu erwarten. Der schwache Kanzler war nicht einmal in der Lage, seine winzigen Spar­pläne durch Streichungen von bestimmten Steuervergünstigungen (Spendenabzugsfähig­keit, Eigenheimzulage usw.) im Hinblick auf die Spenderlobby und bevorstehende Landtagswah­len durchzuziehen. [29] Zum Teil standen Schröder die Widerstände in seiner eige­nen Partei im Wege, erstarrte Parteistrukturen, [30] gegen die er sich als Kanzler nicht durchzuset­zen vermochte, zum Teil gegenseitige Blockaden der Parteien. Dafür war das erbärmli­che Ergebnis des Vorweihnachtsspektakels 2003 im Vermittlungsausschuß ein gutes Beispiel. Selbst die von ihm eingeleitete und später gepriesene Reform-Agenda 2010, vor der man sich zunächst eine gewisse Steuerentlastung versprach, wurde von der Opposition gegen ihre eigenen Grund­sätze bekämpft und blockiert. [31] Und doch war es gerade dieses Programm, das der ebenso konzeptlosen britischen Politik Tony Blairs oder der Neuen Demokraten in Amerika ähnelte, mit dem eine Reihe von Scheinreformen eingeleitet wurde, die unter dem Vorwand von Modernisierung, Privatisierung und Deregulierung mehr Schaden an den bestehenden Strukturen eingerichtet hat als die spätere eher vorsichtigere Politik der „kleinen Schritte“ von Angela Merkel.

      In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende schien es zumindest, als sei das Leitbild des Sozialstaats und das Glaubensbekenntnis zum Sozialen, verbunden mit vie­len Rücksichten auf Besitzstände und Wahlergebnisse, stärker gewesen als alle Hin­weise auf die Widersinnigkeit und wirtschaftliche Irrationalität der bestehenden Praxis, Progno­sen und Warnungen von Sachverständigen. Die katastrophale Finanzlage (das „schwar­ze Loch“