Claus Karst

Beispielhaft


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sie zusammen in einer Hoch­schulband, um sich ein bisschen Taschengeld zu verdienen.

      Bei den Philharmonikern spielte Hotte die Solo-Klarinette, beherrschte aber auch die Familie der Saxofone. Für das geplante Jubiläumskonzert war ihm die Interpretation von Mozarts Klarinettenkonzert übertragen worden. Er war stolz darauf, dass die Veranstalter ihm ihr Vertrauen schenkten und nicht einen Star von außerhalb verpflichtet hatten.

      Die beiden Jugendfreunde begrüßten sich mit einer freundschaftlichen Umarmung, denn sie hatten sich Jahre nicht mehr gesehen. Nachdem sie einige Erinnerungen ausgetauscht hatten, berichtete Hotte ihm, dass er wieder eine Jazz-Combo gegründet hätte, weil er sich ohne Jazz nicht als echter Musiker fühle. Zweimal in der Woche träte er abends im Blue Notes auf, wenn ihm seine Zeit und seine Engagements dies er­laubten. Er lud ihn für den Abend vor der Gene­ralprobe ein. „Dann kommen wir mal auf andere Gedanken, Alter.“

      Wotan war gespannt. Das Blue Notes genoss seit etlichen Jahren einen überragenden Ruf in der Jazzszene. Gerne nahm er die Einladung an, die Erinnerungen an seine Studienzeit weckte.

      An besagtem Abend fuhr Wotan gegen 22 Uhr mit dem Taxi ins Blue Notes. Inzwischen hatte er erfahren, dass Hotte, der die Jazzszene nie völlig verlassen hatte, an dem Club beteiligt war. Er befand sich im Kellergeschoss eines ehemaligen Fabrikgebäudes. Als Wotan die Eingangstür öffnete, schreckte er zurück. Ein fast undurchsichtiger Nebel aus dichtem Tabakrauch empfing ihn in dem Raum. Die Luft in dem Club war keinesfalls gut für ihn vor dem Opernengagement. Er hatte auf seine Stimme zu achten. Daher nahm er sich vor, nicht allzu lange zu bleiben. Er wollte aber Hotte nicht enttäuschen, da er sein Kommen zugesagt hatte.

      Die Band legte gerade eine Pause ein. Wotan suchte nach seinem Freund, den er an der Theke entdeckte. Hotte stellte ihm seine Combo vor, einen Schlagzeuger, einen Elektrobassisten, einen Gitarristen, einen Keyboarder. Er selbst musizierte auf einem Tenorsaxofon und einer Klarinette. Alle Musiker gehörten den Philharmonikern an und hatten sich ihre Jugendliebe zum Jazz bewahrt.

      Nachdem sie ein Glas Bier miteinander getrunken hatten, gingen die Musiker zurück aufs Podium. Wotan suchte sich einen freien Tisch, bestellte noch ein Bier und war gespannt, was die Musiker in dieser ungewöhnlichen Kombination zu bieten hatten. Sie spielten einen unkonventionellen, eigenen Stil, nicht gerade progressiv, sondern sie variierten die Melodien weitgehend auf klassische Weise. Gelegentlich schlich sich ein Touch Gipsy-Jazz ein, den Hotte im Blut hatte und beisteuerte.

      Der Club war gut gefüllt, es herrschte eine prächtige Stimmung, ein Großteil der Gäste schien ihn regelmäßig zu besuchen und sich zu kennen. Sogar auf der Tanzfläche tummelten sich ein paar Unentwegte.

      Als Wotans Augen sich einen Weg durch die Rauchschwaden bahnten, fiel ihm eine junge Frau in Jeans und einem roten Wickelpulli auf, um die dreißig vielleicht, mit rotblonden Haaren. Sie setzte dort allein und in sich versunken den Rhythmus der Musik in Tanz um. Ihre Bewegungen fesselten ihn. Schon bald konnte sich Wotan von diesem Bild nicht mehr lösen, vor allem, weil diese Frau ihn an jemanden erinnerte. Er beobachtete sie genauer. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Genau wie sie hatte Anja Söderström ausgesehen, als sie sich kennengelernt hatten. Anja, die wunderbare schwedische Mezzo-Sopranistin, in die er sich dazumal bis über beide Ohren verknallt hatte, mit der ihm fälschlich ein Verhältnis nachgesagt worden war. Einmal wäre es fast zu einem Mehr gekommen, hätten ihre Gefühle füreinander die Oberhand gewonnen, aber schließlich hatten sich beide eine zu enge Beziehung versagt. Sie wollten ihre Künstlerfreundschaft nicht gefährden. Anja war bereits vor Jahren einem Krebsleiden erlegen, was als großer Verlust in der Opernszene angesehen worden war. Heute erinnerten nur noch einige wenige Einspielungen auf Tonträgern an diese großartige Interpretin.

      War diese Begegnung ein Zufall, ein Wink des Schicksals? Er glaubte nicht an Zufälle. Und während die Musiker den Wild Cat Blues mit einem beeindruckenden Schlagzeug-Solo intonierten, ging die Musik nahtlos über in Georgia, ein Song, den Wotan früher mit großer Hingabe gesungen und mit dem er stets bewiesen hatte, dass auch der Blues durch seine Adern floss.

      Nachdem Hotte sein erstes Solo beendet, der Bass das Thema aufgenommen hatte, winkte er seinem Freund zu und bat ihn, zu ihm aufs Podium zu steigen. Wotan folgte der Bitte.

      „Und nun bist du dran!“, forderte Hotte ihn auf.

      Wotan sah ihn stirnrunzelnd, ja, sogar ein wenig verschnupft an. Auf einen Auftritt war er nicht vorbereitet. Er wollte seinen Freund jedoch nicht brüskieren. Erst piano, aber ein wenig rauchig, ließ er seine Stimme erklingen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gesungen. Dann jedoch legte er eine Inbrunst in seine Interpretation, die ansonsten gewöhnlich nur den Farbigen bei dieser Musik zu Eigen ist. Hotte variierte dazu mit hinreißenden Phrasen zurückhaltend die Melodie.

      Plötzlich war es im Club mucksmäuschenstill. Aller Augen richteten sich gebannt auf die Bühne. Nach und nach war ein Tuscheln zu hören: „Weißt du, wer das ist da oben?“

      Immer häufiger machte die Antwort die Runde, wenn auch mit Fragezeichen versehen: „Das ist doch … Ist das nicht dieser … Opernsänger? Wie heißt er noch gleich?“

      Lang anhaltender Beifall beendete schließlich den Song. Die Musiker erbaten anschließend eine kurze Pause, um ihre Kehlen zu ölen, und begaben sich an die Theke.

      Wotan begab sich mit einem frischen Glas Bier auf seinen Platz zurück. Als er sich gesetzt hatte, stand plötzlich die junge Frau mit den rotblonden Haaren und lustigen Sommersprossen im Gesicht vor ihm.

      „Ich habe Ihr Bild heute in der Zeitung gesehen, Sie sind doch Wotan van Geel, nicht wahr?“, fragte sie mit dem deutlich hörbaren Akzent der gebildeten englischen Gesellschaftsschicht.

      Wotan bestätigte ihre Vermutung, schaute sie leicht verlegen an, war er doch einen engen Kontakt zum Publikum nicht mehr gewohnt. Höflich bot er ihr an, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Sie stellte sich als Deutsch-Engländerin vor, mit Namen Eileen Shanahan, Vater Insulaner, Mutter Deutsche, beschäftigt bei der englischen Niederlassung eines Unternehmens dieser Stadt. Nebenher ließ sie ihn wissen, schreibe sie seit ihren Studienzeiten gelegentlich Reportagen und Rezensionen für ein Kulturmagazin. Sie war mittags mit dem Flieger angekommen und hatte den ganzen Tag auf ihr Gepäck warten müssen, das unterwegs verloren gegangen war. In Engand, so erzählte sie, trat sie hin und wieder als Sängerin einer Rock-Band auf. Anlässlich ihres Besuches hier wolle sie sich ein wenig informieren, aber auch amüsieren. Opern waren ihr ebenfalls nicht fremd. Thomas Armsden hatte sie bereits mehrfach auf der Bühne bewundert. Sie beabsichtigte, eine Reportage über seinen Auftritt als Herzog zu verfassen.

      Eileen plapperte munter und unbekümmert drauf los, zeigte Interesse für alles, was Wotan ihr zu erzählen wusste. Bereitwillig beantwortete er ihre Fragen. Er war fasziniert von ihrer Unbekümmertheit, ihren funkelnden blauen Augen. Seine Zurückhaltung verlor sich mit jeder Minute. Sie waren so angeregt in ihr Gespräch vertieft, dass es ihnen völlig entging, als die Musiker sich wieder einen Weg auf die Bühne bahn­ten und Aufstellung nahmen.

      Wotan wurde erst aufmerksam, als er durch das Gemurmel im Raum Hotte durchs Mikrofon sagen hörte: „Liebe Freunde, ich hatte gedacht, dass alle Anwesenden soeben den Sänger erkannt hätten, obwohl er nicht in der Jazzszene aktiv ist. Zu meinem Erstaunen bleibt mir festzustellen, dass dies nicht der Fall ist. Er ist kein Geringerer als mein lieber Freund aus Jugendzeiten, der bekannte Opernsänger Wotan van Geel, der in unserem Opernhaus den Rigoletto in der Jubiläumsveranstaltung geben wird.“

      Beifall brandete auf, im Getuschel an den Tischen war immer wieder zu hören: „Hab ich doch gesagt!“, „Klar, jetzt erkenne ich ihn auch, er war doch in der Zeitung“ …

      Hotte fuhr fort: „Wotan, darf ich dich noch einmal auf die Bühne bitten? Ein oder zwei Songs noch? Ich glaube, unser Publikum wird sich freuen.“

      Ein beifälliger Applaus verlieh Hottes Wunsch den notwendigen Nachdruck.

      Wotan erhob sich langsam von seinem Stuhl, fühlte sich eigentlich von seinem Freund ein wenig überfahren, obwohl er sich hätte denken können, dass Hottes Einladung nicht uneigennützig ausgesprochen worden war. Er begab sich wieder aufs Podium,