Werner Siegert

Zwischen Lust und Flammenschwert


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durch den Kopf gehen lassen. Eigentlich kann ich mir doch noch einen schönen Tag machen, so lange das Geld reicht. Wo sind wir denn hier?"

      "Hundert Kilometer westlich von München!"

      "Und wie teuer sind hier die Gasthöfe?"

      "Kommt drauf an, welchen Komfort Frau Raphael in Anspruch zu nehmen gedenkt!"

      "Viel kann ich mir nicht leisten. Außer, ich stelle mich morgen wieder an den Straßenrand!"

      Die Zimmer kosteten 48 Euro, mit Frühstück. Parkplatz hinterm Haus. An der ARAL-Tankstelle gab es zwar Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränke und Schnickschnack. Aber keinen Reisebedarf wie etwa eine Zahnbürste, Zahnpasta, Waschlappen oder gar ein Damennachthemd. Aber ein T-Shirt XXL mit zwei Teddybären drauf. Frau Raphael ist wie ausgewechselt. Ausgelassen wie eine Kegelschwester gackelt sie über ihre Einkäufe, die ein wenig anders ausfallen, als sie morgens geplant waren.

      "Er hat kein Brot mehr, keine Butter und nur noch wenig Aufschnitt. Kaffee ist auch alle! Wird er wohl ein langes Gesicht machen morgen. Ach nein, seine Britta wird ihn verwöhnen. Er wird's dann auch nötig haben. Nach einer ganzen Nacht. Ob er die noch durchsteht? Nicht nur so ein vorgetäuschter Kegelabend. Schon danach kommt er ganz schlapp nachhause!"

      Tiemann bemüht sich, gerade soviel Konversation zu machen, dass er nicht unhöflich wirkt. Na ja, sie scheint sich nicht allzuviel zu grämen über ihren Fremdgänger. Es gibt Schwäbischen Filettopf. Und für jeden zwei Viertele. Macht nach Adam Riese je einen halben Liter trockenen Trollinger. Der löst die Zunge. Und noch einiges mehr.

      "Eigentlich", philosophiert die Lucia-gekleidete Raphaelin, "eigentlich sollte so eine Ehe nach zwanzig Jahren oder fünfundzwanzig automatisch enden! Dann, wenn die Kinder aus dem Haus sind, spätestens. Wer dann noch weitermachen will, der kann ja echt nochmal sein Gespons heiraten."

      Tiemann mag sich nicht so recht an dieser Diskussion beteiligen. Braucht er auch nicht, denn der Alkohol hat die Zunge seiner Anhalterin ganz schön gelöst.

      "Dann könnte er ja seine Britta fragen, ob sie ihn auf Dauer will. Wissen Sie, das ist eine Floristin, wie man heute sagt. Früher war's für uns halt ein Blumenmädchen. Ist ganz hübsch. Hat ganz schön was in der Bluse. Da steht meiner drauf."

      "Scheint Ihnen ja wirklich nicht viel auszumachen!"

      "So lange er nicht mit dem Geld rumschmeißt, ihr kein Kind macht und sich kein Aids holt, hab’ ich ihm gesagt, und die Person kommt mir nicht ins Haus! Mach' ich doch kein Trara. Dann lässt er mich wenigstens in Ruh'. Wenn er bloß nicht so hässlich zu mir wäre. Manchmal denke ich, er will mich zu Tode ärgern und schikanieren, damit er an das Haus kommt. Das gehört nämlich mir. Treu war er sowieso nie. Er hat ja lange Zeit im Außendienst gearbeitet. Die ganze Woche weg, in Hotels, Gasthöfen. Da hab' ich immer gemerkt, wenn er was mit einer gehabt hat. Dann wollte er besonders lieb sein. Manchmal wollte er dann mit mir was Neues ausprobieren. Ne, die Männer! Jetzt ist er ja seit zwei Jahren pensioniert."

      Tiemann machte seine Studien. War das nun "gut bürgerlich"? Vor dem Schlafengehen wollte er sich noch die Füße vertreten. Nochmal an die frische Luft. Eigentlich allein. Aber die Raphaelin heftete sich an seine Fersen. Nicht ohne Gespür für Zwischentöne.

      "Sie müssen schon sagen, wann ich Ihnen auf die Nerven gehe. Aber Sie glauben gar nicht, wie gut mir das tut, mal mit einem Menschen reden zu können. Mal rauszukommen. Ich bin ja da, wo wir wohnen, wie eingesperrt. Sie müssen wissen, ich war Dolmetscherin für Französisch, Italienisch und Spanisch. Da bin ich viel rumgekommen. Lauter interessante Leute. Politiker, Manager, Künstler. Bei Kongressen, Messen, Verhandlungen. Und jetzt nichts mehr. Es gibt so viele Jüngere, Knackige. Die werden von Agenturen lieber vermittelt. Ganz, ganz selten, dass die nochmal für irgendeinen lokalen Anlass an mich denken. Irgendwie ist mein Leben zuende. Mein Sohn, der Georg, ist in San Francisco. Die Tochter Melanie in Hamburg, mit 'nem Lebensgefährten, wie man so sagt. Wir haben wenig Kontakt. Nachhause zieht es sie nie. Spießbürgertum. Dörflicher Mief. Lass dich doch scheiden, sagt sie. Soll er doch zu seiner Britta ziehen ..."

      Tiemann dachte über sein eigenes Leben nach. Witwer. Verheiratet mit seinen Manuskripten. Mit den Romanfiguren. Irgendein Erfolgsautor hatte es mal trefflich formuliert: Einen Roman zu schreiben, gleicht einem multiplen Ehebruch. Man lebt, liebt und leidet mit den selbstgeschaffenen und gelegentlich auch selbst umgebrachten Personen. Man erfindet heiße Liebesnächte und tödliche Autounfälle. Meist irgendwelche außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Eine Frau Raphael käme höchstens als Randfigur ins Spiel. Sonst keine Chance. Wie alt mochte sie sein? Mitte 50? Ausgespielt? Das Leben zuende? Keine Ziele, keine Träume mehr, nur noch das bisschen Leben ableben, an der Seite eines ebenso gelangweilten Fremdgängers? War es eigentlich unfair, lieblos, wenn er sie leise stellte wie ein Radio? Also ihren Sermon ungehört an seinen Ohren vorbeiziehen ließ? Nur kurz auf Zuhören schaltete?

      "Wissen Sie, als Dolmetscherin da hat man natürlich auch so seine Erlebnisse. Da stellen einem die Männer nach. Die Italiener, kann ich Ihnen sagen. Einmal, da waren wir in Hannover. Zur Messe. Standpersonal für eine Maschinenbaufirma. Wir Mädels waren in einem Gartenhaus untergebracht, einer Dependance, wie es vornehmer heißt. Vorne war das Hotel, früher mal ein Herrensitz. Hinten, wo wir wohnten, so 'ne Art Lustschlösschen. Mit 'nem riesigen Badesalon. Mit Rundbadewanne und kleinen Springbrunnen, Liegestühlen. Vor der verglasten Schiebetür ein paar Schritte zum Swimmingpool im Freien. Und wir spätabends da wie die Nixen, nach dem Dinner und vielen Schwätzchen. Die Männer flirten, was das Zeug hält. Na ja, wir da drin in diesem Badeparadies, sechs waren wir. Da merken wir, wie einer seine Nase an der Scheibe plattdrückt. Viel konnte er ja nicht sehen; die war ja beschlagen. Ein paar von uns haben sich zur Seite geschlichen und mit einem Rums die Tür zur Seite geschoben, so dass der Kerl den Halt verlor und kopfüber in unser Badezimmer hineintaumelte. Ein kleiner Schubs, und schon platschte er mit seinem schönen Anzug in die Rundwanne. War das ein Gekreische! Natürlich haben wir ihm die Sachen vom Leib gezogen. Und da saß der arme Kerl, nackig, inmitten von sechs Nixen. Ich möchte nicht wissen, wie oft er diese Szene später in seinen Träumen umgedichtet hat. Denn wir haben uns natürlich an ihm gütlich getan. Kein Sex, nein, nein. Der konnte ja gar nicht. Saß da mit seinem kleinen Würmchen am Bauch. Während wir ihm unsere frühreifen Paradiesäpfelchen vorgeführt haben. Muss eine Tortur für ihn gewesen sein, eine Macke fürs ganze Leben. Was der alles hat erfinden müssen, um seiner Frau oder wem auch immer darzulegen, weshalb sein Pass, sein Führerschein und sein Terminkalender plitscheplatsche nass geworden waren. Geldscheine, alles, Fotos. Ein paar Sachen haben wir mit dem Fön getrocknet. Mit einem Mantel von einer Kollegin und seinen triefenden Sachen ist er lange nach Mitternacht über den Hof getrottet. Armer Kerl. Na ja, wir haben da ja auch noch so allerlei Sachen mit ihm angestellt. Wenn man halt zu mehreren ist!"

      Frau Raphael im Lucia-Kostüm, Anhalterin, ca. 55, wohnhaft in einer Kleinstadt. Lebt von Erinnerungen! Wegzehrung für wieviele Jahre noch?

      Gute Nacht!

      Cappuccino oder nur Milchkaffee?

      "Ich soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!" hat er gesagt. Fröhlich und beschwingt nahm Frau Raphael vom Frühstücksraum Besitz. "Und schauen Sie mal, was ich gefunden hab'!"

      Sie schwenkte triumphierend ihre Scheckkarte.

      "Hatte ich verkramt in den Tiefen meiner Handtasche. Und bei Karin hebt immer noch keiner ab. Dabei habe ich Karl vorgeflunkert, ich könne mit Karin für eine Woche auf so eine Art Alm im Gebirge fahren. Bleib' doch, wo der Pfeffer wächst, war seine einzige Antwort. Nix von Polizei und so, Suchaktion. Was geht in einem solchen Mann vor?"

      Tiemann wehrte sich gegen Vermutungen, die in ihm aufkeimten. Aber das Wort "Nervensäge" hätte beinahe die Schleusentore seines Mundes passiert. Es fiel nicht nur der Zensur zum Opfer, sondern auch gewissen Irritationen. Verdammt, so unübel erschien ihm die Frau heute morgen gar nicht. Jetzt, wo sie Lebensfreude ausstrahlte, gelöst war, die Selbstvorwürfe, etwas ganz und gar Unerlaubtes, Skandalöses gewagt zu haben, sich verflüchtigt zu haben schienen, da konnte er sich gegen das Gefühl nicht wehren, diese Raphael sei erstens doch eine ganz sympathische und überdies gebildete Person.