Hanna Holthausen

Das Geheimnis der schwarzen Schatulle


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von dem wir gerüchteweise gehört hatten, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Eine lange Schlange Menschen, hunderte, gingen in eine niedrige Halle. Als niemand mehr hineinpasste, wurde sie verschlossen. Dann stieg ein Mann die Leiter hinauf, die sich am Gebäude befindet, und legte eine Gasmaske und Handschuhe an. Etwas, das aussah wie weißes Pulver, schüttete er in eine Luke auf dem Dach und eilte, so schnell er konnte, die Leiter wieder hinunter. Und dann hörten wir die Schreie, verzweifelte Schreie. Sie drangen durch die Barackenbretter, durch den Boden, die Fenster und Türen, durch meine Hände in meine Ohren und Augen, in jede einzelne meiner Poren. Die Schreie qualvoll erstickender Menschen. Wie lange schon bin ich im Lager? Wie viele Menschen standen bereits in der Schlange? Tausende. Abertausende.

       Tag x

       Die erste Nacht war schlaflos. Keine der Frauen in meiner Baracke konnte ein Auge schließen. Wir arbeiten für eine Todesfabrik. Es ist eine Frage der Zeit, wann wir selbst in dieser Schlange stehen, die sich langsam in die Halle bewegt. Die Arbeit, die hier verrichtet werden muss, ist mit dem Schleppen schwerer Eisenteile und mit dem Ausgraben großer Steine aus gefrorener Erde nicht zu vergleichen. Wir wünschen uns die Erfrierungen und Verletzungen, die eitrigen Wunden und hungrigen Tage zurück, wenn wir die Männer des Sonderkommandos sehen. Ihre Aufgabe ist es, die Toten und Halbtoten aus den Gaskammern in die Krematorien zu transportieren. Berge von Leichen müssen sie in Öfen stapeln und verbrennen. Tag für Tag. Und immer quellen dicke, stinkende schwarze Wolken aus den großen Kaminen, die mir das Würgen in den Hals treiben.

       Tag x

       Unsere Arbeit besteht aus dem Sortieren der Sachen, die die Menschen zurücklassen müssen, bevor sie die Gaskammer betreten. Haufen von Koffern und Taschen mit Kleidung und Wertgegenständen. Ein Hohn, dass wir einiges davon schmuggeln und behalten können. Zu frieren bräuchte hier im Winter niemand von uns. Aber es ist Frühling. Nach Tod stinkender Frühling.

       Tag x

       Ich habe ihn wieder gesehen. An der Seite von Obersturmbannführer Eichinger kontrollierte er gestern den Gang der „Eliminierung unerwünschter Kreaturen“. Unerwünschte Kreaturen nennt man uns hier. Gustav Langhagen - er muss vom Rapportführer zu etwas Höherem aufgestiegen sein. Als er den Leichenberg vor einem der Öfen begutachtete, konnte ich wieder in seinem Gesicht lesen. Sein Blick war so kalt, dass mich trotz milder Temperaturen fror. Nach einer Aufforderung Eichingers trieb er in barschem Ton die Häftlinge zu mehr Tempo an. Die Toten sollen schneller verbrannt werden. Mich schaudert, wenn ich an Eichinger und Langhagen denke.

       Tag x

       Heute ist etwas Entsetzliches geschehen. Einer der Arbeiter an den Öfen schrie plötzlich wie von Sinnen und konnte von niemandem mehr beruhigt werden. Einer der Aufseher erschoss ihn. Später erfuhr ich, dass der verzweifelte Mann unter den Toten seine Frau erkannt hat. Er hätte seine eigene, zuvor am Giftgas gestorbene Frau in den Brennofen stecken müssen. Der Wahnsinn muss ihm augenblicklich den Verstand geraubt haben, und hätte man ihn nicht erschossen, wäre er aus Verzweiflung gestorben.

       Tag x

       Es geht uns gut. Bei diesem Satz wird der schale Geschmack im Mund noch ranziger, denn ich weiß inzwischen, dass der Preis für diesen Luxus sehr hoch sein wird. Niemand hat jemals jemanden aus dem Kanadakommando zurückkehren sehen. Wir werden alle im Gas enden, denn keine von uns soll von dem, was sie hier sieht, berichten können. Zeugenvernichtung, Judenvernichtung, Menschenvernichtung. Vernichtung.

       Tag x

       Ich weiß nicht, wie viele Schubkarren Kleidung und Habseligkeiten ich während der Nächte nun schon sortiert habe, und auch die Nächte selbst kann ich nicht mehr zählen. Die Angst davor, dass jederzeit unsere Gruppe ausgewechselt werden könnte, wächst. Die hübschen Kleider aus den Bergen, die wir hier tragen, werden wir ebenso wie ihre Vorbesitzerinnen ablegen müssen. Wir werden ins Gas gehen, und die Kleider werden weiterleben, weiter getragen, wieder abgelegt und wieder getragen.

      Als das Telefon klingelt, braucht Pierre einen Augenblick, um in seine Welt zurückzukehren.

      „Pierre Lagrange.“

      „Sag mal, was ist mit dir los? Wir dachten schon, du seist verschollen. Wieso antwortest du auf keine SMS? Und deine Mailbox ist auch schon komplett verstopft …“

      Max klingt richtig sauer.

      „Merde! Dich hab ich ganz vergessen!“, stöhnt Pierre. „Sorry, Mann. Wie spät ist es denn?“ Er sieht auf die Uhr.

      „Zu spät“, antwortet Max trocken. Das ganze Wochenende über hat er versucht, seinen Freund zu erreichen, denn so langsam wird es eng für die Plakate zum Bandauftritt.

      So ein Mist! Pierre hat die Verabredung mit Max vergessen. Die SMS wird sein Freund an das versteckte Handy gesendet haben. Dieses verfluchte Ding!

      „Also, für mich ist es nicht zu spät. Von mir aus können wir uns noch für eine Stunde zusammensetzen und checken, was zu tun ist. Wenn du Lust hast, kannst du zu mir kommen. Kriegst auch ein leckeres Essen.“

      Damit kann man Max immer locken. Die Rechnung scheint aufzugehen.

      „Okay. Ich mache mich sofort auf den Weg. In einer Viertelstunde bin ich bei dir.“

      Geschafft. Das Mittagessen für morgen wird er zwar opfern müssen, aber das ist es Pierre wert. Einen weiteren Cornflakes-Tag wird er locker verkraften. Beim Blick in den Kühlschrank klingelt es bereits.

      „Hi. Hast du die Zeit genutzt und die Nachrichten auf deinem Handy gecheckt? Ich bin nämlich nicht er Einzige, der versucht hat, dich zu erreichen.“

      Max steht schon in der Küche, als Pierre noch die Haustür in der Hand hält.

      „Komm doch rein“, murmelt er leise zu sich selbst und schließt die Tür.

      In der Küche fällt sein Blick auf das lederne Buch auf dem Tisch. Max ist im Begriff danach zu greifen. Pierre ist schneller und nimmt das Buch weg.

      „Setz dich doch“, lädt er Max ein und stellt ihm eine Flasche Cola und ein Glas hin. Dann geht er schnell in die Bibliothek und schiebt das Buch wieder zwischen die Architekturbände.

      „Was war das denn für ein oller Schinken?“, fragt Max grinsend.

      Ohne auf die Frage einzugehen, holt Pierre den Teller mit seinem Mittagessen für den nächsten Tag aus dem Kühlschrank und stellt ihn in die Mikrowelle.

      „Mein Handy ist weg“, sagt er stattdessen. „Ich suche das Ding jetzt seit drei Tagen, aber es hat sich in Luft aufgelöst.“

      Natürlich kann er seinem Schulkameraden unmöglich erklären, dass sein Vater das Handy konfisziert hat. Wie stünde er da?

      „Ich habe zwar ein anderes, aber mit neuer Nummer“, ergänzt Pierre, notiert die Nummer des Ersatzgerätes auf einen Zettel und schiebt ihn über den Tisch.

      „Okay“, meint Max, „das erklärt einiges, aber soviel ich weiß, hast du auch einige Mails erhalten. Hat sich dein Computer auch in Luft aufgelöst?“, fragt er und schielt auf die Mikrowelle.

      Pierre gibt sich geschlagen.

      „Nein, hat er nicht. Aber ich hab ihn nicht hochgefahren und deshalb keine Mails abgerufen.“

      Beim Klingelgeräusch der Mikrowelle holt Pierre den Teller mit den dampfenden Kartoffelplätzchen und dem Gulasch heraus und stellt ihn vor Max auf den Tisch. Das Besteck, das er seinem Besucher reicht, wird ihm beinahe aus der Hand gerissen. Pierre schaut erstaunt zu, in welcher Geschwindigkeit sich sein Freund das Essen einverleibt. Als der letzte Bissen in dessen Mund verschwindet, fragt er kauend:

      „Und du isst nichts?“

      „Nein, ich habe gerade erst“, versichert Pierre und stellt den leer gekratzten Teller samt Besteck in die Spüle.

      „Wie