Christoph Wagner

Waldesruh


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Aber für ihr Alter seelisch schon sehr reif.“

      „Wie lange bestand die Beziehung zu Berit?“

      „Etwa ein Jahr.“

      „Hatte Ihr Sohn vor Berit schon andere feste Beziehungen?“

      „Soweit ich weiß, gab es da außer der einen oder anderen Schwärmerei nichts Ernstes.“

      „Eine Frage noch, die Sie mir bitte nicht übelnehmen: Wäre es nicht möglich, dass Berit noch vor ihrem Verschwinden tatsächlich mit dem einen Zeugen zusammen war und dass Sie und Ihr Sohn das nur noch nicht mitbekommen hatten? Manche Jugendliche wechseln heutzutage ja oft recht schnell ihre Partner.“

      „Ich halte das für ausgeschlossen. Denn dieser Waldemar ist einfach, entschuldigen Sie, ein arrogantes Arschloch. Mit dem hätte sich Berit nie eingelassen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

      „Wenn wir mal davon ausgehen, dass Ihr Sohn Berit nicht getötet hat, haben Sie irgendeine Vermutung, eine Ahnung oder gar einen konkreten Verdacht, was wirklich passiert sein könnte?“

      Der Alte schwieg eine Weile und sagte dann: „Wissen Sie, darüber denke ich seit zwölf Jahren nach, Tag für Tag, und auch Nacht für Nacht. Ich habe zig Szenarien entworfen und alle wieder verworfen, weil ich sie dann doch für unmöglich hielt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der alte Schittenhelm da seine Hand im Spiel hatte, obwohl ich überhaupt nicht sagen kann, warum. – Herr Travniczek, Sie müssen mir helfen. Mein Sohn ist unschuldig. Wie soll er weiterleben mit dem Makel eines Mörders?“

      Travniczek war geneigt, dem Mann zu glauben. Er versuchte eine Weile ruhig nachzudenken. Dann sagte er: „Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Sie recht haben. Ich muss Ihnen aber leider sagen: Wenn es nicht irgendwelche neuen Erkenntnisse gibt, wird es schwer, den Fall neu aufzurollen. Das Beste wäre sicher, Sie suchen sich einen guten Anwalt.“

      Der alte Mann lachte bitter. „Einen guten Anwalt? Und von was soll ich den bezahlen? Ich bin froh, wenn ich einigermaßen über die Runden komme, ohne Hartz IV beantragen zu müssen. Wissen Sie, meine Frau hat das alles nicht verkraftet. Wir wurden ja auch noch wegen Beihilfe mit angeklagt und mussten froh sein, dass wir mit einer Bewährungsstrafe davongekommen sind. Ein Jahr nach dem Prozess wurde sie krank. Magenkrebs. Ich habe alles, was ich an Geld hatte, in verschiedenste Behandlungen gesteckt – umsonst. Zwei Jahre nach der Diagnose ist meine Frau gestorben.“

      Maurischat schluckte wieder mehrmals und fügte dann hinzu: „Ich war kurz davor, mich auch davonzumachen. Was mich zurückhielt: Mein Sohn braucht mich doch, wenn er wieder draußen ist.“

      Schon während des ganzen Gesprächs hatte Travniczek immer wieder Mühe, Klangfetzen der Schubertsonate aus seinem Bewusstsein zu vertreiben, die ihn vom genauen Zuhören abhielten. Und jetzt war da plötzlich die doch eigentlich abwegige Frage: Konnte es Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt mit der Geschichte des alten Maurischat konfrontiert wurde, da er mit dem Studium der Schubertsonate begann?

      Auf jeden Fall war er fest entschlossen, diesem Mann zu helfen, auch wenn es eigentlich nicht sein Job war und es sicher sehr schwierig werden würde. Und er wusste jetzt schon, dass er dabei ohne weiteres auch Dinge tun würde, die er nach der Dienstvorschrift eigentlich nicht tun durfte.

      „Also, Herr Maurischat, ich kann Ihnen jetzt erst einmal Folgendes anbieten. Ich werde mir morgen die Akte von dem Fall besorgen. Dann sehe ich, ob es irgendwelche Verfahrensfehler gegeben hat. Das nehme ich fast an. Sie müssen wissen, dass man jemanden ohne Leiche und Geständnis wegen Mord oder Totschlag nur verurteilen kann, wenn es ganz schwerwiegende Indizien gibt und vor allem nichts, was den Täter offensichtlich entlastet.“

      Das Gesicht des alten Mannes hellte sich auf: „Sie glauben also, etwas machen zu können?“

      „Vorsicht, nicht zu schnell. Ich kann jetzt noch gar nichts sagen. Und, … wann wird Ihr Sohn aus der Haft entlassen?“

      „Am Tag nach Neujahr.“

      „Gut, dann brauche ich ihn nicht im Gefängnis zu besuchen. Denn – das werden Sie sicher verstehen – bevor ich mich in diesem Fall engagiere, will ich Ihren Sohn persönlich kennenlernen.“

      „Ja, natürlich, natürlich versteh ich das. Aber trotzdem haben Sie jetzt schon vielen Dank, dass Sie überhaupt etwas tun wollen. Sie wissen gar nicht, was für eine Last Sie von mir nehmen. Die Beamten damals, die haben mir nie auch nur zugehört. Für die war der Fall von Anfang an klar. Seitdem habe ich kein Vertrauen mehr in die Polizei.“

      „Und da kommen Sie zu mir? Ich bin doch auch Polizist.“

      „Aber Sie wurden mir als jemand geschildert, der zuhört. Das tun doch die meisten Ihrer Kollegen eher nicht.“

      „Na ja, unsere Arbeit ist auch nicht immer leicht. Aber eine letzte Frage noch: Haben Sie zufällig ein Foto von Ihrem Sohn bei sich?“

      „Nein. Es gibt gar kein Aktuelles.“

      „Ist ja verständlich.“

      „Dann will ich Sie jetzt nicht länger stören und mich verabschieden.“

      Als Maurischat gegangen war, ließ Travniczek sich auf die Couch fallen und schloss die Augen. Unschuldig im Gefängnis, das musste mit das Schlimmste sein, was einem Menschen passieren konnte. Das Leben war dann zerstört. Er war froh und dankbar, dass er, soweit ihm bekannt war, noch nie zu einer solchen Katastrophe beigetragen hatte.

      Aber war Wolfgang Maurischat wirklich unschuldig? Noch kannte er ihn nicht. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass in dem Prozess nicht alles korrekt gelaufen war. Sollte er nicht gleich losfahren, um sich die Akte anzusehen? Besser nicht. Das wäre zu auffällig. Noch brauchte niemand zu wissen, dass er sich für diesen mehr als zehn Jahre alten Fall interessierte.

      Er setzte sich wieder ans Klavier und spielte die ganze Schubertsonate von Anfang bis Ende. Nahm hier ein Fieberkranker am Rande des Wahnsinns Abschied vom Leben, das doch hätte noch so schön werden sollen?

      Noch lange nach dem Schlussakkord blieb er am Klavier sitzen und sann den Klängen nach. Merkwürdig. Dieser Wolfgang Maurischat war genauso alt wie Schubert, als er starb.

      Plötzlich merkte er, wie hungrig er war. Er hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren. Ein Lokal aufsuchen? Dazu war ihm das Wetter zu schlecht. Er ging in die Küche und inspizierte seinen Kühlschrank. Viel war nicht mehr da, denn eigentlich hatte er heute einkaufen wollen. Doch daraus würde jetzt auch nichts mehr werden. Er fand noch ein großes Stück Greyerzer Käse und eine noch fast volle Flasche Grünen Veltliner. Das ist doch jetzt gerade das Richtige, dachte er, schnitt sich noch zwei dicke Scheiben vom Bauernbrot ab und trug seine Schätze ins Wohnzimmer. Als Tafelmusik startete er eine CD mit frühen Sinfonien von Joseph Haydn.

      Er aß mit großem Appetit und genoss die wohlige Wärme, die das erste Glas Wein in ihm verbreitete. Bald waren Brot und Käse verzehrt, und vom Grünen Veltliner würde sicher auch nichts übrigbleiben.

      Tagebuch - 27.12.

      Was war besonders schlimm? Da fällt mir als erstes diese Geschichte ein. Zu meinem siebten Geburtstag schenkte mir Tante Arabella einen jungen Dackel. Vater wollte aber keinen Hund im Haus. „Hunde machen Dreck“, sagte er. Aber er konnte Tante Arabella nicht von dem Geschenk abbringen. Das machte ihn wütend. Ich hab mich wahnsinnig über den Hund gefreut. Am Abend sagte Vater streng zu mir: „Du bist mir dafür verantwortlich, daß der Hund keinen Dreck macht. Wenn du das nicht schaffst, muß ich dich bestrafen. Das siehst du doch ein.“

      Zwei Tage ging alles gut, dann lag morgens ein Häufchen auf dem Perserteppich im Wohnzimmer. Natürlich war Vater wütend. Er kam in mein Zimmer und schrie mich an. „Du hast nicht aufgepaßt!“ Er riß mir Waldi, so hatte ich ihn genannt, aus den Armen und drückte ihn brutal an sich. Er griff ihm unter das Kinn und drückte den Kopf ganz langsam nach oben gegen den Rücken. Waldi jaulte und strampelte heftig. Aber es half ihm nichts. Ich hörte ein Knacken und Waldi bewegte sich nicht mehr. Vater ließ ihn einfach auf den Boden fallen und