Eckhard Lange

Elena


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niemand vorschnell verurteilen, das hat auch unser Herr gesagt.“

      Der Pastor ärgerte sich im gleichen Augenblick, in dem er diesen Satz aussprach. Es war nicht seine Art, mit frommen Sprüchen um sich zu werfen, vor allem, wenn man sich damit elegant aus der Affäre zu ziehen versucht. Und genau das tat er eben jetzt, oder? Doch Margarete Elias blickte ihn dankbar an: „Da haben Sie recht, Herr Pastor. Und die Olga hätte das auch nicht verdient, da bin ich ganz sicher. Aber nun müssen Sie endlich auch diesen Kuchen hier probieren!“ Und mit dieser abrupten Kehrtwendung wollte sie ganz offensichtlich das Gespräch über ihre junge Nachbarin beenden, und Patrick war in diesem Augenblick sichtlich erleichtert.

      Als er sich verabschiedete, bemerkte seine Gastgeberin: „Das war wirklich nett, daß Sie mich besucht haben, Herr Pastor. Ich weiß, unsere Pfarrer haben viel zu tun, aber es wäre schön, wenn wir uns nicht erst an meinem nächsten Geburtstag wiedersehen würden. Wenn ich den noch erlebe.“

      Patrick verstand die Bitte wohl, und er versprach ihr, „wenn es sich so ergibt, einfach mal auf einen Sprung vorbeizukommen.“ Es müsse ja nicht gleich mit Kaffee und Kuchen sein, obwohl ihm der ganz ausgezeichnet geschmeckt habe. Und er war sicher, daß er diese Zusage einhalten würde. Und dabei dachte er auch an diese unbekannte junge Frau dort unten. Aber das wollte er selber nicht wahrhaben.

      4.

      Es waren gut vier Wochen seit diesem Besuch vergangen. Der junge Pastor hatte einen der Kirchenvorsteher aufgesucht, der nach einer Operation noch immer im Universitätsklinikum lag. Es war ein wunderbar warmer Frühsommertag, er hatte noch einen Cappucino in der Caféteria auf dem Campusgelände getrunken – der nächste Termin war erst eine abendliche Einladung bei seiner Kollegin. Sie wollten ganz in Ruhe und bei einem Glas Wein im Garten ihres Pfarrhauses alles besprechen, was während der kommenden Ferienmonate zu regeln war. Patrick war froh, mit Verena Gensch-Jungjohann eine erfahrene Pastorin an seiner Seite zu wissen, die ihn dennoch ganz als Kollegen behandelte und sich mit ihren sicherlich vorhandenen guten Ratschlägen sehr zurückhielt, es sei denn, er bat sie ausdrücklich darum.

      Er hatte seinen Wagen nahe an diesem neu angelegten Park abgestellt, und er genoss es, nun an den Unigebäuden vorbei noch den Weg durch das frische Grün zu schlendern, ganz ohne Eile und mit Zeit zum Nachdenken. Und dabei kam ihm das Erlebnis in der Friederikenstraße wieder in den Sinn. Ganz spontan beschloss er nach einem kurzen Blick auf die Uhr, sein Versprechen einzulösen und Margarete Elias zu besuchen, auch wenn er sie vielleicht beim Abendessen stören würde. Er wollte ja auch nur kurz hereinschauen, so wie er es zugesagt hatte. Und irgendwie hoffte er, nicht nur der alten Dame dort zu begegnen.

      Dieses Mal hatte er Glück: Er fand einen Platz für seinen Corsa direkt vor der Haustür, gleich hinter einem protzigen Geländewagen mit diesen doch völlig unnötigen verchromten Frontschutzbügeln. Bloße Angeberei war das in seinen Augen, wenn der Fahrer nicht gerade in einem Forsthaus zu Hause war. Als er die Haustür öffnete, sah er, daß die Wohnungstür zu diesem sogenannten Studio weit offenstand, und aus der Wohnung tönte gerade ein Geräusch wie von einem Polterabend. Offenbar war etwas Zerbrechliches auf den Boden gefallen – oder geworfen worden. Eine Sekunde lang wollte er klopfen und nachschauen, doch er besann sich und stieg die Treppe hinauf. Als er gerade den Absatz erreicht hatte, hörte er unten eine Männerstimme brüllen: „Wo bist du denn hin, du dumme Kuh!“ Und er sah, wie ein bulliger kahlköpfiger Typ in Tarnjacke und Bomberstiefeln aus der Tür trat, sich umschaute und dann mit lautem Fluch zur Haustür hinauslief.

      Patrick drehte sich wieder um, und da entdeckte er sie: Auf der obersten Stufe saß Olga, zusammengekauert und weinend. Als er hinaufeilte, erblickte er noch mehr: Aus ihrer Nase lief ein dünnes rotes Rinnsal und tropfte auf ihre knappsitzende Bluse, und unter dem linken Auge zeichnete sich ein bläulicher Fleck ab. Ganz instinktiv ergriff Patrick mit der Rechten die Hand der jungen Frau, zog sie zu sich hoch, während er mit der Linken die Klingel von Margarete Elias drückte. Kaum hörte er drinnen, wie sie die Kette einhängte, rief er: „Ich bins, Pastor Troy. Machen Sie bitte schnell auf!“

      Die Tür ging auf, Patrick schob die völlig apathische Olga über die Schwelle, folgte ihr und schloß hinter sich die Tür. Erschrocken hatte Frau Elias alles mit angesehen, dann verstand sie: „Kindchen, du blutest ja! Das war dieser Glatzkopf mit der Militärjacke, nicht wahr?“ Und sie zog die junge Frau in die Küche und drückte sie sanft auf einen Stuhl. Patrick war den beiden gefolgt, doch ehe er noch etwas sagen konnte, begann es ununterbrochen zu klingeln, zugleich schlug jemand mit der flachen Hand gegen den Türrahmen: „Ist die Olga bei dir, Oma? Sie soll rauskommen!“

      Patrick legte den Finger auf die Lippen, doch die alte Frau ging zur Tür und rief, ohne sie zu öffnen: „Die Olga? Was soll die denn so spät am Abend noch bei mir?“ Und dann fügte sie tatsächlich noch mit strafendem Ton hinzu: „Und außerdem bin ich nicht Ihre Oma, junger Mann!“

      Trotz der gespannten Situation mußte der junge Pastor grinsen: Diese Frau hatte Courage, alle Achtung! Der Kerl draußen fluchte, doch dann hörten die drei, wie er die Treppe wieder hinunterpolterte. Margarete Elias zitterte nun doch ein wenig, aber sie sah Patrick mit einem fast spitzbübischen Lächeln an: „Das war doch nicht gelogen, oder, Herr Pastor?“

      „Nein, das war es nicht, aber es war einfach eine geniale Antwort!“ Doch dann wandte er sich der jungen Frau zu, die stumm dagesessen hatte. „Wir sollten Sie erst einmal verarzten, Olga, dann sehen wir weiter. Er wird wohl kaum noch einmal heraufkommen.“ Und zu Frau Elias gewandt, fragte er: „Haben Sie irgendwo etwas Watte? Und Eis im Kühlschrank?“

      Rasch kam beides auf den Küchentisch; Patrick drehte einen Pfropf aus der Watte und gab ihn Olga, damit sie das blutende Nasenloch verstopfen konnte. Frau Elias hatte einige Eiswürfel in ein Geschirrtuch gewickelt und drückte die Kompresse auf die anschwellende Wange. „Du musst selber fest drücken, Kindchen,“ sagte sie sanft und gab der Jungen das Eisbündel in die Hand, dann holte sie ein feuchtes Tuch und tupfte das Blut von Lippe und Kinn. „Dieser Mistkerl,“ schimpfte sie dabei wenig damenhaft. „was hat er bloß mit Ihnen gemacht, Olga.“

      Da machte die junge Frau zum ersten Mal den Mund auf: „Ich bin nicht Olga,“ sagte sie stockend, „das ist nur... Künstlername. Ich heiße Elena, Elena Menelescu. Bitte, nicht Olga sagen, ja?“ Die beiden nickten. „Sie kommen aus Rumänien, Frau Menelescu?“ fragte Patrick. „Nein, Moldavia. Und bitte: Nur Elena, ja?“

      „Gut“, antwortete der Pastor, und dann, mit einem plötzlichen Entschluss: „Dann bin ich auch nur Patrick für Sie, einverstanden?“ Elena sah ihn mit großen Augen an: „Sie sind ein Priester, ja?“ Der junge Mann lächelte: „So etwas ähnliches, Elena. Ich bin Pastor, protestantischer Pastor – sagt Ihnen das etwas?“ „O ja, haben wir auch in Moldavia. Aber das sind auch Christen, ja?“

      „Das will ich hoffen,“ mischte sich nun Margarete Elias ein. „Der Pastor Troy hier bestimmt, sonst hätte er Sie nicht hierhergebracht.“ „Und nun muß er sehen, wo er sie lassen kann,“ versuchte sich Patrick mit Humor, aber er machte sich in der Tat ernsthafte Gedanken, wie es jetzt weitergehen sollte. Nur eines war ihm klar: Er würde diese junge Frau nicht wieder in die Wohnung dort unten gehen lassen.

      „Ich muß zurück,“ sagte Elena traurig. „Auf keinen Fall!“ Das war Frau Elias. „Soll er Sie noch einmal zusammenschlagen? Nein, Sie können erst einmal hierbleiben, Elena.“ „Auf keinen Fall,“ wiederholte Patrick. „Das ist viel zu gefährlich – für Sie beide! Das kann ich nicht zulassen. Mir wird schon etwas einfallen.“ Er blickte auf die Küchenuhr, die über der Anrichte hing. „Ich muß allerdings erst einmal etwas regeln.“

      Er holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. „Ja, Troy hier. Guten Abend, Frau Gensch. Ich muß leider für heute Abend absagen. Tut mir wirklich leid, aber ich habe mit einem Notfall zu tun; ich erzähle Ihnen später davon. Sie haben sich hoffentlich keine vergebliche Mühe gemacht. Wir holen alles später nach, ja? – Ja, und ich danke für Ihr Verständnis.“

      „Dann mach ich erst einmal eine Kleinigkeit zu essen für uns drei,“ schlug Margarete Elias vor. „Und dann besprechen