sieht, was die anderen haben!“ „Vielleicht will er das alles gar nicht. Ist zufrieden mit dem, was er hat! Ich kenne viele Leute, die haben alles, und sind nicht zufrieden, sie wollen immer noch mehr!“ „Dann wäre Reichtum und Armut ja fast dasselbe. Es kommt nur auf den Menschen an, ob er zufrieden ist!“ „So einfach ist das Leben! Doch wo findet man Zufriedenheit? Wenn man die kaufen könnte, wären die Reichesten auch die Glücklichsten! Und alle Armen wären die Unglücklichen…“
Am nächsten Tag waren wir erneut bei Joseph. Wir stellten ihm die Frage nach dem Glück. „Dumme Frage! Glück ist wie Pech! Es kommt unerwartet. Du kannst es nicht zwingen!“ „Ja, aber glücklich sein und zugleich arm sein, wie kommt man dazu? Du jedenfalls schaust uns nicht unglücklich aus!“ Er kratzt sich am Kopf. „Ich habe nie reich sein wollen. Andere, die ich getroffen hatte, waren mal reich gewesen und sind dann durch einen Schicksalsschlag arm geworden. Sie litten darunter. Vielleicht, weil sie ein Leben in Überfluss gekannt hatten. Ich kannte es nie, ich verabscheute es eher. Aber wohl hauptsächlich, weil ihre Armut nicht gewollt war… Groß nachgedacht habe ich darüber eigentlich nie. Heute lebe ich, morgen vielleicht nicht mehr. Ab und zu mal einen schönen Rausch… Was soll ich mir große Fragen stellen? Das tut nur ihr! Klar, denke ich viel nach. Aber am liebsten bin ich draußen, schaue mir die Natur an, es ist doch alles da. Und wenn mal doch was fehlt, dann kümmere ich mich darum, nicht vorher…“
Am Ende der achten Woche fällt Schnee. Die Vermessungsarbeiten werden erst mal eingestellt. Ich hatte mir bei dem schlechten Wetter der letzten Tage eine Erkältung zugezogen, trotz des Obstlers, mit dem wir uns gehörig gewärmt hatten. Ich liege zuhause im Bett und lasse mich von Muttern pflegen. Mein Vater ist für ein paar Tage auf Kursus. Da höre ich es unten klingeln. Meine Mutter geht öffnen, dann kommt sie erschreckt hochgerannt. „Die Kriminalpolizei ist da! Was soll ich tun?“ Ich werfe mir etwas über, wickle einen Schal um den Hals und gehe nach unten. Da stehen zwei Typen, leiern mir irgendeinen Text runter. Ich verstehe nur das Ende: „5 Jahre Haft!“ Ich erkläre, ich sei bettlägerig, krank, kann nicht raus. „Gut, dann morgen sofort ein ärztliches Attest zur Zivildienststelle Kaufbeuren schicken, und, sobald wieder gesund, sofort auf dem Amt erscheinen!“ „Und keine Sperenzchen mehr! Abhauen ist unmöglich, die Berge sind zugeschneit, die Grenzen sind benachrichtigt!“ meint der andere, „also dann, bis bald!“
Uff! Das war knapp gewesen! Am nächsten Morgen gleich zum Arzt. Die Sprechstundenhilfe ist die Mutter eines Freundes. Ohne dass mich der Arzt sieht, unterschreibt er das Attest, welches mich deshalb auch nichts kostet. Ich bin für eine Woche reiseunfähig erklärt. Den Schrieb auf die Post, dann mit Ludwig die letzte Impfung abholen. Zufällig ist in einem Gasthaus eine Armeeklamotten-Versteigerung, wo Ludwig sich ein paar Fallschirmspringer-Stiefel kauft, ich ein paar ‚Knobelbecher‘. Wir sind bereit! Ein Kumpel vom Vermessungstrupp bringt uns abends mit dem Kombi bis oberhalb Gunzesried, bis die Karre im Schnee stecken bleibt. Es ist dunkel. Da wird uns niemand sehen. Die grüne Grenze ist jetzt weiß. Wir schultern unsere Rucksäcke und stapfen los.
Der Schneefall hat zum Glück aufgehört. Es klart sich auf. Das Funkeln der Sterne macht es uns leichter, die Richtung zu halten und kleine Hügel zu umgehen. Es scheint eine kalte Nacht zu werden. Wir stapfen durch den knietiefen Schnee. Ich sammle nicht schlecht Schnee in meinen Schuhen. Selbst Ludwigs Stiefel füllen sich langsam an. Unter ein paar Bäumen, wo weniger Schnee liebt, kramen wir unsere Gamaschen heraus und legen sie an. Zuerst müssen wir aber den Schnee, der einen kleinen Eisring gebildet hat, von den Socken rupfen. Die kleine Pause tut uns gut. Doch schnell wird uns kalt. Wir müssen in Bewegung bleiben. Ludwigs Stiefel haben nur eine glatte Ledersohle. Ist ja logisch. Wozu brauchen Fallschirmspringer Profilsohlen? Das bremst ja nur. Aber auch ich, mit meinen ‚Knobelbechern‘, die ein leichtes Profil haben, komme in Schwierigkeiten, wenn wir auf eine gefrorene Schneeplatte geraten. Unsere Bundeswehr muss eine Paradearmee sein. Nicht für einen Einsatz gedacht!
Die Sterne funkeln. Der Schnee gleißt in ihrem Licht. Wir scheinen mitten zwischen ihnen zu laufen! Dieses Funkeln der Myriaden Kristalle um uns! Als dunkele Silhouetten erheben sich neben uns die bewaldeten Berghänge. Pfrut, pfrut, pfrut begleitet uns das Geräusch unserer Schritte. Unser Atem geht heftig. Wir können ihn sehen. Wir kommen uns vor wie eine Dampfmaschine. Er bildet erst Tröpfchen in meinem Bart, dann eine raue Reifschicht, dann kleine Eiszapfen. Unser Atmen wird bald eins mit dem Rhythmus unserer Schritte. Wir steigen langsam in einem Hochtal bergan. Wir sprechen wenig. Wir wissen, vor Tageslicht müssen wir eine Hütte gefunden haben, um uns zu verstecken und auszuruhen. Noch sind wir warm. Nur nicht zu sehr ins Schwitzen kommen! Solange wir laufen, ist alles in Ordnung. Nur nicht anhalten, denn dann würde der Schweiß und das Wasser in den Schuhen gefrieren. Wir schreiten fast dieselbe Strecke ab, die ich vor etwas über zwei Monaten gegangen war, nur in umgekehrter Richtung. Damals war alles noch grün… „Wer aus dem Dorf hat mich hingehängt?“ spreche ich laut den Gedanken aus, der mir seit einer Weile im Kopf umgeht. „Das kann kein Zufall sein. Denn ich war lange genug nicht daheim gewesen.“ „Das kann nur jemand aus der Nachbarschaft gewesen sein! Der hat dich gesehen, ein Anruf, und schon sind sie da, die Schergen! Vergiss es! Schau lieber diese glitzernde Nacht an. Wenn man denkt, was all die versäumen, die gerade in ihren Federn liegen oder vor der Glotze hocken!“
Da hat er recht. Wir schweben schier zwischen den Sternen, kommen uns fast vor wie Sternschnuppen. Nur, dass langsam die Schuhe etwas anfangen zu scheuern. Die Nässe hat zwar das Leder ein wenig geschmeidiger gemacht, nur weicht diese zugleich die Haut auf. Doch solange man warme Füße hat… Wie weiße Sägen erheben sich die Tannen neben uns. Die Äste neigen sich tief unter den dicken Schneekissen. Auf ihnen funkelt es wie die erstarrten Blitze von hunderten Wunderkerzen. Nur die Rehe, bewegungslos unter den Bäumen verborgen, teilen diese Schönheit mit uns. Doch sie sind bestimmt weniger romantisch als wir veranlagt. Und für sie ist das normaler Alltag. Oder Allnacht. Sie müssen hier sein. Wir sind hier wegen einer verrückten Idee.
Das Waten durch den Schnee nimmt uns jetzt ganz schön mit. Der Rucksack zeigt sein wahres Gewicht und klebt uns auf dem Rücken. Langsam fühlen wir uns schlapp. Wir nähern uns unserer eigenen Grenze. Möchten uns am liebsten in den Schnee fallen lassen. Nur einen kleinen Augenblick Ruhe! „Hoffentlich finden wir bald eine Hütte!“ Hinter uns scheint sich ein grauer Schimmer zu zeigen. Oder ein leichtes Verblassen der Sterne. Irgendwie erscheint es kälter zu werden. Wir müssten die österreichische Grenze schon überschritten haben. Jetzt erst mal eine Almhütte! Vor uns nehmen wir eine Erhebung im Schnee wahr. Sie ist zu regelmäßig, um natürlich zu sein. Plötzlich erkennen wir, es ist ein tief unterm Schnee begrabenes Gebäude! Wir bleiben mit den Füssen in einem Zaun hängen, der unterm Schnee das Gebäude umgibt. Wir schaufeln uns mit den Händen an einer Stelle durch die Schneewechte durch, die vom Hüttendach bis zum Boden reicht und gelangen bald in einem fast schneefreien Streifen, der an der geschindelten Hüttenwand wie ein Tunnel entlangführt. Wir tasten uns mehr oder weniger daran entlang, um eine Öffnung ins Innere zu finden. Alle Läden sind gut verriegelt. Da ist die Tür. Doch die ist abgeschlossen. Meist ist der Schlüssel irgendwo versteckt. Wir tasten über dem Türrahmen. An den weit überstehenden Dachbalken. Nichts. Rechts von der Tür befindet sich ein mit einer Klappe versehener Durchschlupf für die Katze. Ich taste mit der Hand hinein. Und ziehe sie gleich mit dem gesuchten Schlüssel zurück. Höchste Zeit!
Uns steigt langsam die Kälte durch die Beine nach oben, und auch der Oberkörper, vorhin noch schweißnass, kühlt zusehends ab. Ein Zündholz leuchtet auf. Wir sind im Flur. Rechts die Tür führt zur Stube. Darin steht ein Küchenherd. Und weiter hinten im Flur liegt ein ganzer Haufen alter Schindeln. Massenweise! Die müssen das Hüttendach im Sommer neu gedeckt haben! Wir splittern mit dem Taschenmesser ein paar Späne von den Schindeln, schaben etwas Wachs von einer Kerze darüber, noch ein paar Schindeln darauf, und im Nu züngeln die Flammen, lecken hungrig am trockenen Lärchenholz. Es scheint ihnen zu schmecken. Sie knabbern daran, dann verschlingen sie es gierig und bestrahlen uns mit ihrer wohligen Wärme. Gegenseitig ziehen wir uns die langsam gefrierenden Kleidungsstücke vom Leib, drehen uns so nah wie möglich vor dem Herd. Dann schlüpfen wir in unsere trockenen Ersatzklamotten. In Strumpfsocken tanzen wir in der Stube herum und versuchen, uns warm zu hüpfen. Als wir mit einem Blechtopf vor der Tür Schnee schöpfen, um einen Tee zu kochen, merken wir, dass es Tag geworden ist. Schnell ein Blick aus dem Schneetunnel auf den Schornstein: