Willi van Hengel

Lucile


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und das den Rest seines Körpers suchte, langsam daherkriechend und etwas aufgeregt in der Hoffnung, ihn wiederzufinden. Und in diesem Moment, allein, begann ich, meine Haare zu drehen und ihre splissigen Spitzen zwischen zwei Finger zu nehmen und auf meine Wange zu drücken, wie Nadelspitzen auf meiner Haut. Ich fühlte, von weitem und wohl verworren, dass ich etwas suchte, das passt, vielleicht einen Eigennamen; ja, einen Eigennamen als Standpunkt und Sichtweise auf etwas, als Haut um deine Meinung, und du bist mehr als nur das, was du zu sagen hast, mehr als die Laute deiner Gedanken, das meiste kann man eh nicht ausdrücken, zumindest nicht mit Worten – und genau das bist du. So habe ich dich gefunden, dich wiedergefunden, die Sanftheit deiner kleinen Nase, die leidenschaftliche Umarmung deiner Augen, deine Stimme, ganz unverdächtig, in meiner Erinnerung, erklärungslos und schön dein Name, Lucile.

      Weißt du noch würde ich jetzt sagen, wenn du hier sitzen würdest, mir gegenüber, hier im Garten meiner Mutter, auf einem dieser alten Sommerklappstühle mit den geblümten Bezügen, die an sämtlichen Ecken aufgesprungen sind. Der vergilbte Schaumstoff wächst wie Unkraut aus den Löchern heraus; aber er wuchert nicht. Weißt du noch – wir würden sicherlich den ganzen Nachmittag in Erinnerungen schwelgen, über unsere Unerfahrenheit von damals lachen, von nichts eine Ahnung, und froh sein, dieses schreckliche Alter von siebzehn bis fünfundzwanzig überlebt zu haben.

      Das allein würde genügen, um dir zu schreiben, Lucile. Aber das ist es nicht allein. Denn nicht nur, dass wir gemeinsame Erinnerungen, die gleichen Vokabeln der Vergangenheit in uns aufbewahren, sondern vor allem das Gefühl, dass sich ein anderer für mich und meine Worte interessiert und nicht nur zuhört und mit dem Kopf nickt und ach und echt und boah sagt, veranlasst mich, dir zu schreiben.

      Verwunderlich, findest du nicht?

      Du glaubst gar nicht, wie meine Freunde mich langweilen (die meisten zumindest), wie sie in ihrer mühsam zurechtgezimmerten Welt (sollte man nicht besser Hundehütte sagen) ihre Tage und Nächte verbringen. Es macht mich traurig, mitansehen zu müssen, wie schnell sie sich zufrieden geben mit den Freuden eines Hundelebens, und schneller noch bemüht sind, ihren Leichtsinn abzutragen, den man in jungen Jahren gar nicht genießen kann, weil man das Gegenteil, die Müdigkeit und den Blutmangel der Begriffe, noch nicht am eigenen Leib erfahren hat. Ich spüre, dass ich ihnen nicht mehr folgen will und auch immer weniger bereit bin, sie verstehen zu wollen. Das Spielerische ihres Daseins schwindet mit jedem Tag. Ich höre in dem, was sie sagen, kaum noch etwas Eigenes. Ich schmecke in ihren Worten nichts Erfrischendes, nichts Fleischliches mehr. Niemand von ihnen versucht zu fliegen; denn für eine gelungene Landung gibt es keine Garantie! Wäre doch wenigstens einer unter ihnen, der Lokomotivführer oder Schauspieler werden wollte; nicht einmal das. Was bleibt, ist der unscheinbare (abwaschbare) Fleck vor dem Nichts. Ich glaube, so haben wir es früher immer genannt: der abwaschbare Fleck Leben vor dem Nichts. Weißt du noch … Und plötzlich beginnt man seinen Schminkkoffer zu vermissen, denn irgendwann beginnt die Stunde, ab da man mit dem Kajalstift einen letzten müden Streifen Sonne aus sich hervorzuheben versucht, an eine Oberfläche, die nichts verbirgt – außer vielleicht sich selbst.

      Sei mir nicht böse, ich weiß selbst nicht, warum ich so kompliziert denke, vielleicht ist das meine Art, vor der Realität zu fliehen, du kennst mich doch!?

derselbe Tag, eine Stunde später

      Lucile,

      spürst du, dass ich dich hierher erzähle, zu mir, wie ich mir einbilde, dass du hier vor mir sitzt, unter dem großen Kirschbaum (ich lege eine seiner Blüten ins Kuvert; vielleicht ist ihr Duft noch nicht ganz verflogen, wenn du den Brief und die Blüte in den Händen hältst), und dich die Sommerfliegen nerven, die auf deinen nackten Beinen herumkrabbeln, und wie du sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mit dem Fuß und der Hand zu vertreiben suchst. Das erscheint mir wirklicher als das, was ich vermeintlich sehe, vermeintlich höre und rieche. Ich erzähle dich hierher, zu mir, und biete dir eine Tasse Kaffee an. Ich weiß noch, ohne Milch, nur mit Zucker, zwei Teelöffel. Wie eine alte Frau habe ich damals gesagt, weißt du noch, und du hast dich jedes Mal geärgert. Wie eine alte Frau würde ich wieder sagen und spüren, dass du dich – obwohl, oder gerade weil du nur ein müdes Lächeln dafür übrig hättest – immer noch über diesen Satz ärgern würdest. Ich erzähle dich hierher, Lucile, zu mir. Ganz langsam steigst du aus dem Blatt Papier, stehst auf und gehst in die Küche, um etwas zu essen zu holen, einige Scheiben Brot, etwas Käse, vielleicht findest du sogar den Kaviar im Kühlfach und träufelst ihn auf, vielleicht kommst du auch nur mit etwas Gebäck, Keksen und selbstgebackenem Kuchen meiner Mutter zurück, setzt dich hin und hörst mir zu, schüttelst ab und an mit dem Kopf und nickst, wenn es andere Worte, andere Bilder und Gesten sind, von denen ich dir erzähle, und sagst etwas, wenn es dir zu viel wird und du eine Erholung in deiner eigenen Stimme suchst.

      Manchmal aber flattert dein Schweigen über mein Satzende hinaus, und deine Stimme reagiert nicht auf meine Zeichen, einen Punkt oder einen Absatz. Du sagst nichts, schaust mich nur an; und dennoch – das ist das Verwunderliche daran – gibst du mir nicht das Gefühl, mich mit deinem Schweigen allein zu lassen. Weder ringst du dir eine gequälte Antwort ab, noch scheinst du abwesend zu sein, abwesend mit deinen Gedanken, die in einem fernen Land auf den Schwingen der Phantasie landen. Du hast immer eine Ruhe und eine Gelassenheit ausgestrahlt, die ich bewunderte – und die ich nun vermisse, ebenso wie dein Lächeln in den Augen, die immer lächeln, auch wenn du sonst ganz anders drauf bist.

      Früher habe ich dich dafür gehasst. Weißt du noch? Im Stillen habe ich dich eine Egomanin genannt, eine arrogante Misanthropin, die alles andere, alle anderen, mit einer verletzenden Gleichgültigkeit verachtete, einzigartig in ihrer Kälte; und ich habe gehofft, ja eigentlich nur darauf gewartet, dass du in dem Blut der Wunden, die du anderen zugefügt hast, bald ertrinken wirst. Ich konnte dich dann, manchmal tagelang – einmal sind es sogar mehr als zwei Wochen gewesen – weder sehen noch um mich haben, bis endlich ein liebes Wort oder eine einfühlsame Geste von dir kam und der Zorn verflogen war. Ich glaube, wir haben nie darüber geredet. Doch irgendwann habe ich bemerkt, dass du nicht mich verachtet hast, sondern das Gerede der Leute um dich herum. Von da an habe ich für dich keine Zukunft mehr gesehen – außer als Künstlerin. Die Kunst wird die einzige Chance für sie sein zu überleben, habe ich damals gedacht. Kannst du dir vorstellen, wie schwer du es uns, besonders mir, gemacht hast: Wie sollten wir dich verstehen und das alles nachempfinden können, wenn du es selbst nicht einmal wusstest?

      Sobald man sich von seiner Vernunft abzulösen versucht, damit beginnt, alle Wahrheiten in sich anzuzweifeln, oder sich darüber zu wundern, dass es sie überhaupt gibt, wird die normale Einstellung gegenüber den Dingen mürbe. Man kann dann nicht so sein wie andere und nicht so tun, als wäre alles beim alten. Es geht tiefer, rührt, rumort, rüttelt in einem, sitzt wie ein Virus in den Knochen, im Fleisch, in der Seele, irgendwo, man weiß es nicht, weiß nicht wo, kann es nicht lokalisieren. So ist man (du) andauernd getrieben, angetrieben, umgetrieben, hin- und hergetrieben zwischen sich und der Welt, ohne diese Kluft überbrücken zu können. Es ist etwas, über das man nicht sprechen kann, worüber man also schweigen muss, weil es sich – eben ausgesprochen – auslöscht.

      Die wahren Künstler sind die Philosophen; glaube mir, die Philosophen, die der Wahrheit eins auswischen und aus den Tiefen aufsteigen wie Phönix aus der vertrockneten und staubigen Asche, um mit einem fallschirmseidenen Lächeln über eine Welt aus Worten hinweg zu segeln, getragen von den Winden des Fremdseins, des einzigen Vertrauens einer enthaupteten Jungfräulichkeit, derer wir uns sicher sein können. Androgyne, Androgyne, höre ich dich aufschreien im fernen Paris – ist es eigentlich auch so heiß dort? –, Androgyne, immer wieder, und weiß, besser als je ein anderer zuvor, um deine melancholische Ausgelassenheit, um deinen tiefen, archaischen Wunsch, nackt, splitternackt, überall und immerzu nackt sein zu wollen. Aber du schämst dich. Warum eigentlich?

      Du siehst, ich habe mir Gedanken gemacht über dich und mich, über die Welt und unser Schweigen. Ich hoffe, dass es dir nicht unangenehm ist, von mir in ein Gespräch verwickelt zu werden, das du vielleicht gar nicht führen willst (was ich aber nicht glaube!). Aber es steht dir ja