Benno von Bormann

Das Hospital


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zurück. Sehr eilig, akutes Ereignis.“

      Die Dame am anderen Ende, sie hörte sich jung und nett an, versprach, den am nächsten stationierten Wagen sofort zu schicken. Offenbar wusste sie wohin es gehen sollte, denn Bekker hatte lediglich ‚CT’ gesagt, aber nicht den Namen der Praxis.

      „Kommen Sie bitte mit Ihrem Patienten zur Liegend-Einfahrt. Wir fahren dort in ein paar Minuten vor und warten auf Sie.“ Bekker trat auf den Flur. Tanaka hatte immer noch den Hörer am Ohr und rollte vielsagend mit den Augen. Schließlich bekam er eine Verbindung und redete eindringlich auf seinen Gesprächspartner ein.

      „Alles okay, Herr Bekker, der Oberarzt kommt rein. Geht jetzt alles seinen Gang.“ Bekker war beruhigt. Der Rest war Routine. Im CT würde man die Blutung lokalisieren, und Weiss würde revidieren. Da gab es keine großen Variationen, und da konnte man nicht viel verkehrt machen.

      „Gehen Sie heim“, sagte Tanaka freundlich, „Sie sehen verflucht müde aus. Ich kümmere mich hier um alles. In spätestens fünfundvierzig Minuten ist der Patient auf dem Tisch. Sollte irgendetwas Besonderes passieren, rufe ich Sie an, versprochen!“

      Bekker lächelte dankbar zurück. Er war tatsächlich hundemüde und kurz davor, im Stehen einzuschlafen. Es wurde Zeit, dass er nach Hause kam. Birte fände es sicher nicht lustig, wenn er erst am Morgen auftauchen würde, kurz vor dem Abflug. Sie war einiges von ihm gewohnt, aber irgendwann war auch ihr Humor am Ende.

      Es gab bestimmte flapsige Redensarten und Sprüche, die den Dauerstress an der Uniklinik bagatellisieren sollten. Die Doktoren fanden das komisch und ein wenig Selbstbeweihräucherung war auch dabei. ‚Frage: Was ist die Frau eines Oberarztes an einer Uniklinik?’ Antwort: Eine Witwe, deren Mann noch lebt.‘ Als einer von Bekkers Kollegen das bei einem gemütlichen Abendessen scherzhaft zum Besten gab, stand Birte abrupt auf und blieb beinahe zehn Minuten lang verschwunden. Als sie zurückkam, hatte sie rotgeweinte Augen.

      „Okay, Herr Tanaka, das ist wirklich sehr nett. Ich sag’ noch der Anästhesie und dem OP Bescheid.“ Bekker spürte eine eigenartige Euphorie. Typisch für ihn, wenn er dankbar und müde war. Es zog ihn wirklich mit jeder Faser nach Hause, in sein Bett und zum häuslichen Frieden. Gleichzeitig plagte ihn das schlechte Gewissen. Jürgen Menzel war sein bester Freund. Ruth verließ sich auf ihn. Aber es gab für ihn jetzt wirklich nichts zu tun, außer die anästhesiologischen Vorbereitungen zu organisieren. Den diensthabenden Oberarzt wollte er als ersten verständigen. Der musste schließlich aufstehen, sich anziehen und in die Klinik fahren. Hart, so mitten im ersten Tiefschlaf. Aber so war es nun mal, wenn man Bereitschaftsdienst hatte. Er sah in den Dienstplan, der auf der Intensivstation aushing.

      Hintergrunddienst hatte der leitende Oberarzt, Professor Frieder Schaum. Dessen Spitzname war ‘Meister Propper’. Zum einen, weil man mit Schaum ein reinigendes Bad assoziierte, und zum anderen, weil er tatsächlich immer wie aus dem Ei gepellt auftrat, gestärktes Hemd, Fliege, graue Flanellhose, einfach pico bello. Seine fachlichen Leistungen wurden von den meisten Kollegen eher zurückhaltend beurteilt. Auch von Fritsche, obwohl der es nicht offen sagte. Schaum war aufgrund der streng gehandhabten Zeitregel erster Oberarzt. Nicht Leistung machte den Job, sondern Dienstalter. Bekker hatte dennoch keine Bedenken. Hier war nicht die hohe Schule der Anästhesie gefordert. Einen intubierten, beatmeten, vollkommen stabilen Patienten von der Intensivstation zum CT begleiten und dann in den OP übernehmen, das konnte auch ein AiPler, und natürlich beherrschte Schaum das Procedere aus dem Effeff.

      ‚Komm Peter‘, sagte Bekker zu sich selbst, ‚verfall nicht dem Unersetzlichkeitswahn. Du bist todmüde und fliegst in weniger als zwölf Stunden mit der Family in den sonnigen Süden. Sag dem Schaum, dass die Nacht für ihn zu Ende ist und schleich Dich.‘ Er ließ sich mit dem Privatanschluss der Familie Schaum verbinden.

      „Herr Schaum, Bekker hier.“ Sie hatten sich von Anfang an gesiezt und es auch beibehalten, wie Bekker überhaupt dem generellen ‘Duzterror‘, wie er das nannte, von Anfang an widerstanden hatte. Distanz war für ihn generell etwas sehr Wichtiges und schaffte manchmal mehr Nähe und Ehrlichkeit als kollektiv verordnete Intimität.

      „Herr Bekker, sie Unglückswurm!“ Eine verschlafene Stimme. „Das kann ja nichts Gutes bedeuten, wenn Sie mitten in der Nacht anrufen. Sind Sie etwa noch in der Klinik? Wen soll ich denn heute retten?“ Das war maßlos übertrieben, denn Schaum hatte noch nie jemanden gerettet, jedenfalls nicht nachweisbar. Bekker schilderte ihm kurz den Fall und hielt auch nicht mit seiner persönlichen Beziehung zu dem Patienten und dessen Familie hinter dem Berg. Schaum verstand sofort.

      „Bin so gut wie unterwegs, und machen sie sich keine Sorgen.“ Das war ungewöhnlich freundlich und zugewendet für ihr distanziertes Verhältnis, und Bekker registrierte es dankbar. Auf einmal stiegen ihm Tränen in die Augen, und er holte verstohlen ein Taschentuch hervor, um sich die Nase zu schnäuzen. Nachdem er der OP-Bereitschaft und der Anästhesieschwester Bescheid gesagt hatte, ging er noch einmal kurz zu Jürgen Menzel hinein. Der Patient lag ruhig im Bett. Keine Krämpfe. Der Augenbefund war auf den ersten Blick unverändert, allerdings schien es Bekker, als ob jetzt auch die zweite Pupille etwas weiter wäre, und die Reaktion auf Licht langsamer als vorher. Er war sehr beunruhigt und überlegte bereits, ob er nicht doch bleiben sollte. Wenigstens bis das CT gelaufen und der Patient im OP war. Er sah auf die Uhr. ‚Mein Gott, viertel vor zwei‘. Nein, das konnte er nicht bringen. Birte würde während des ganzen Urlaubs kein Wort mehr mit ihm reden, und den gepflegten täglichen Beischlaf, während die Kinder ihre Mittagsruhe hielten, konnte er sich auch abschminken.

      Schließlich war alles organisiert. Die Diagnose Hirndruck war klar, und ebenso die notwendigen Maßnahmen zur Befundsicherung und zur Therapie. Alles würde schnell und routiniert seinen Lauf nehmen, wie in Hunderten ähnlicher Fälle vorher. Der Notarztwagen musste jeden Moment hier sein. Die Schwestern hatten den Patienten schon vom Monitoring abgenommen.

      Bekker rieb sich die Augen. Er suchte Tanaka und traf ihn im Stationszimmer. Er verbeugte sich förmlich, wie es die Japaner tun. Bei ihm wirkte es nicht so distanzlos, wie bei vielen anderen. Er meinte es ehrlich und zollte dem anderen Respekt. Bekker mochte die japanischen Kollegen, die in den verschiedenen operativen Kliniken regelmäßig als Gastärzte tätig waren. Er schätzte ihre Disziplin und ihre Arbeitswut, die bei manchen Kollegen allerdings Aggressionen auslösten. ‚Die Menschen fühlen sich schnell unter Druck gesetzt, wenn einer mal mehr tut als üblich‘, dachte er oft.

      Die japanischen Ärzte wollten niemandem etwas wegnehmen. Sie waren es gewohnt viel zu arbeiten, ohne davon permanent Aufhebens zu machen. Die Deutschen arbeiteten auch viel. Ohne die Millionen Überstunden deutscher Krankenhausärzte würde das Kliniksystem innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen. Aber sie stöhnten auch gerne.

      „Ich fahre dann nach Hause. Schaum kommt rein. Sie sehen, die Anästhesie steht Gewehr bei Fuß. Ich ruf’ morgen, nein, heute früh nochmal an, bevor es in den Urlaub geht.“

      Tanaka verbeugte sich ebenso und lächelte.

      „Keine Sorge, Herr Bekker“, sagte er, beinahe mit Wärme. Bekker lächelte matt und ging. Kurz darauf saß er in seinem Auto und verließ das Klinikgelände.

       10. Kapitel Universitätsklinik

      Birte und die Kinder saßen schon am Frühstückstisch, als Bekker frisch geduscht und noch im Bademantel dazukam. Der Flur stand voll mit Koffern, Taschen und Tüten.

      „Ich glaube, die Kinder wollen ihre ganze Zimmereinrichtung mit in den Urlaub nehmen“, sagte er statt einer Begrüßung und drückte seiner Frau einen angedeuteten Kuss auf die Stirn. Sie sah kurz auf.

      „Na, Langschläfer, auch schon da?“ Es war kurz vor halb neun, normalerweise äußerst spät für Bekker. Seine Zeit aufzustehen war selten nach fünf Uhr früh, womit er gelegentlich kokettierte, und nun war es eigentlich bereits ‚mitten am Tag‘.

      „Bin immerhin schon gelaufen“, murmelte er, als müsse er sich rechtfertigen. Seinen Morgenlauf ließ er nie ausfallen. Manchmal geriet der etwas kürzer als geplant, aber egal, wie er sich fühlte, wie lang die Nacht gewesen war oder ob er etwas mehr als sonst getrunken hatte,