Ben Worthmann

Auf gute Nachbarschaft


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      6.

      Am Tag nach dem Streit mit Christina hatte Jan Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schob sich ein bestimmtes Bild vor sein inneres Auge, beklemmend und lähmend zugleich. Da war dieses milchig-weiße, formlose Gebilde, ähnlich einem Nebel oder einer Wolke, und in der Mitte befand sich ein großer schwarzer Punkt.

      Einer der Therapeuten hatte damals von einem „Loch in der Seele“ gesprochen, das ihm zugefügt worden sei. Dieses lasse sich mittels seelenärztlicher Eingriffe zwar schließen, aber er müsse damit rechnen, dass die Narbe immer noch mal wieder schmerzen könne. Das Sprichwort, demzufolge die Zeit alle Wunden heilt, sei im Prinzip gewiss zutreffend, doch über die Narben sei damit ja schließlich nichts gesagt. Für Jan hatte das einleuchtend geklungen, und die Metapher vom Loch in der Seele fand er durchaus passend, auch wenn damit nicht unbedingt die Plötzlichkeit beschrieben war, mit der er diese Wunde erlitten hatte.

      Von einem Tag auf den anderen einen geliebten Menschen zu verlieren, das bedeutete gewiss immer eine Tortur, einen tragischen Bruch alles Gewohnten. Aber so, wie die Dinge in Jans Fall lagen, war es noch weit mehr gewesen – ein traumatischer Schock, der ihn bis ins tiefste Innere erschüttert hatte. Denn es ging ja nicht allein um den Verlust, sondern fast mehr noch um die Umstände, unter denen er ihn erlitten hatte und die so grausam und quälend gewesen waren. Der Tod war schrecklich genug, zumal wenn er ein so junges Leben beendete. Doch mit dem Fortschreiten der Zeit ließ sich vermutlich irgendwann damit abschließen, sofern der Tod durch einen Unfall oder eine Krankheit eingetreten war, hatte Jan oft gedacht. Ihm war diese Möglichkeit verwehrt geblieben, mit dem Schicksal seinen Frieden zu machen, eben weil sich dieser Tod nicht irgendwelchen anonymen Mächten anlasten ließ, sondern es jemanden gab, der ihn bewusst herbeigeführt hatte.

      Nina und eher gingen zum selben Gymnasium und irgendwann fiel sie ihm auf. Es war ein Zufall, der alles für ihn veränderte. Sie stand vor ihm am Schulkiosk, und als sie sich umdrehte und in ihr Brötchen biss, trafen sich ihre Blicke. Noch nie glaubte er solch faszinierende Augen gesehen zu haben: bernsteinbraun, groß und ganz leicht schräggestellt unter fein geschwungenen Brauen. Er hätte noch lange so stehen bleibe können. Und auch sie schien kurz innezuhalten, bevor sie lächelnd und kauend davonging. Schon in diesem Moment war ihm klar, dass er keine Chance hatte, ihrem Bann zu entkommen.

      Von da an hielt er unentwegt nach ihr Ausschau, vor dem Unterricht, nach dem Unterricht, in den Hofpausen. Sie schien nie allein zu sein, immer war ein Pulk von Jungen und Mädchen um sie herum, lachend und redend. Jan fand sie hinreißend. Meistens trug sie enge Jeans, die ihre schlanken Beine und den schön geformten Po gut zur Geltung brachten. Ihr kinnlanges, glattes mittelblondes Haar mit dem geraden Pony, der fast bis an die Brauen reichte, sah immer glänzend und frisch aus. Was hätte er darum gegeben, wenn er es hätte berühren und darüber streichen dürfen. Bestimmt duftete es wunderbar.

      Jan hatte sich verliebt. Seine Fantasien kreisten nur noch um Nina. Und da sie sehr schön waren und es nicht allein bei Fantasien bleiben sollte, stand für ihn fest, dass er sie kennenlernen musste. Nur wie? Leider war er so gar nicht der coole Typ, der einfach auf ein Mädchen zugehen und sein Interesse bekunden konnte, womöglich noch mit einem lockeren Spruch. Und Nina ihrerseits unternahm bedauerlicherweise nichts, um ihn näher kennenzulernen. Für sie war er offensichtlich nur einer von vielen unter den rund dreihundert Jungen an der Schule.

      Aber dann gab es diesen Zufall, der sich als wahrhaft schicksalhaft erweisen sollte. Es war eines Mittags nach Schulschluss, als er sie bei den Fahrradständern antraf.

      „Schon wieder ein Platten“, schnaubte sie verärgert und trat gegen ihr Rad.

      Sofort sah er seine Chance.

      „Moment, kein Problem, ich habe Flickzeug dabei, das werden wir gleich haben.“

      Mit Eifer machte er sich an die Arbeit. Während Nina neben ihm stand und zusah, kamen sie ins Gespräch. Im Nachhinein betrachtet, war es eine eher banale Unterhaltung, bei der es vor allem um Schulangelegenheiten ging. Anschließend bedankte Nina sich überschwänglich und fragte ihn, ob sie sich irgendwie revanchieren könne. Aber ihm fiel auf Anhieb keine passende Antwort ein.

      „Komm doch heute Nachmittag einfach ins 'Luigi', du weißt doch, das Eiscafé am Alten Markt“, sagte sie. „Ich kellnere dort ein bisschen. Du kriegst einen Eisbecher oder einen Kaffee oder beides, natürlich gratis.“

      So hatte es begonnen. Bald gab es kaum noch einen Tag, an dem sie sich nicht trafen, um irgendetwas zu unternehmen oder, nach einer gewissen Zeit, bei ihm oder ihr im Zimmer zu sein. Für sie beide mit ihren bis dahin eher spärlichen Erfahrungen wurde es die erste ernsthafte Beziehung. Und kaum hatte er sein Abitur in der Tasche und sein Studium begonnen, zog er zu Hause aus und nahm sich eine kleine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung. Das erleichterte vieles. Sie konnten sich sehen, wann immer sie wollten, ohne Rücksicht auf die Eltern oder Ninas kleinen Bruder nehmen zu müssen. Ein Leben ohne Nina erschien ihm nicht mehr vorstellbar.

      Bereits zur Schulzeit hatte für ihn festgestanden, keinen Zweifel gegeben, dass er Germanistik und Literaturwissenschaften studieren würde, wobei er sich allerdings einstweilen die Optionen offenhielt, was er damit machen würde. Zeitweilig hatte er mit dem Gedanken gespielt, Lehrer oder Dozent zu werden und womöglich an der Uni zu bleiben. Aber dann hatte er selbst zu schreiben begonnen, zunächst als freier Mitarbeiter bei der Regionalzeitung, in der er Rezensionen für die wöchentliche Literaturbeilage veröffentlichte, dann als Autor für einige ziemlich renommierten Magazine.

      Nina, die ihn dafür bewunderte und in ihrer leichten, bisweilen etwas schwärmerischen Art bereits den künftigen großen Schriftsteller in ihm sah, hatte ihn stets zu bestärken versucht. Er selbst sah die Sache deutlich nüchterner. Und als sich ihm direkt nach dem Examen die Möglichkeit bot, als Lektor bei einem kleinen, aber angesehenen Verlag zu beginnen, hatte er nicht lange gezögert. Bücher konnte er immer noch schreiben, Ideen dafür hatte er, doch jetzt war es ihm erst einmal wichtiger, Geld zu verdienen. Er mietete eine größere Wohnung und kaufte sein erstes Auto. Das Schönste aber war, dass Nina endlich eingewilligt hatte, zu ihm zu ziehen. Jan glaubte täglich zu spüren, wie sehr auch Nina dieses neue gemeinsame Leben genoss.

      Sie fühlten sich wohl in ihrer Wohnung und auch in ihrer Stadt, gerade weil es hier etwas beschaulicher zuging als in den Metropolen, die vielen jungen Leuten so verlockend erschienen. Mit ihren knapp 180 000 Einwohnern, der altehrwürdigen Universität, dem historischen Marktplatz, all den Kultureinrichtungen und Lokalen und nicht zuletzt dem vielen Grün bot sie alles, um hinreichend Lebensqualität zu garantieren.

      Dann stand sie kurz vor dem Abschluss ihres Architekturstudiums.

      Sie träumte von einem eigenen Büro, würde sich aber auch jederzeit anstellen lassen, wie sie immer wieder beteuerte. Jan musste dann schmunzeln. Nina in einem festen Angestelltenjob mit Fünftagewoche – das konnte er sich kaum vorstellen. Dazu blieb sie einfach zu gerne morgens noch eine oder zwei Stunden länger im Bett liegen oder vertrödelte auch schon mal einen halben Tag, traf sich mit Freunden und Kommilitonen und kam manchmal erst spät am Abend nach Hause.

      In den Augen Außenstehender bildeten sie wohl ein sehr ungleiches Paar, nicht nur optisch. Sie war die Lebenslustige, Kontaktfreudige, etwas Flippige, er der hoch aufgeschossene, ein wenig ungelenke Introvertierte, der seine Abende gern mit Literatur und Manuskripten verbrachte und nicht ständig unterwegs sein und Leute um sich haben musste. Dabei vertraute er Nina blind. Er war sich ihrer Liebe und Treue so sicher, dass er niemals Bedenken hatte, wenn sie allein loszog.

      An jenem Abend, dem die schrecklich Nacht folgen sollte, die alles zunichte werden ließ, kam sie gegen halb neun zu ihm ins Arbeitszimmer und erklärte, sie werde noch ein bisschen laufen. Das tat sie mehrmals in der Woche. Sie liebte die sportliche Bewegung, schwamm viel und sprach neuerdings auch davon, dass sie gern wieder Tennis spielen würde, so wie vor ein paar Jahren während ihrer Schulzeit. Hin und wieder versuchte sie, auch Jan dazu zu animieren, mehr Sport zu treiben. Aber er machte sich nicht viel daraus, obwohl er von Natur aus mit einigen Talenten ausgestattet war, wie ihm die Lehrer oft bestätigt hatten. In seinem langen, sehnigen Körper steckten