Helmut H. Schulz

Jahre mit Camilla


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Mir fiel auf, dass ihr Gesicht immer von Anstrengung gerötet war, auch wenn sie nichts tat. Stets schien sie insgeheim mit etwas Schwerem beschäftigt.

      Ich betrachtete die Muscheln, die Camilla sammelte. Keine besonderen Muscheln, es gab sie zu Hunderten.

      Sie brachte einen salzwassergebleichten knotigen Strunk.

      «Der sieht aus wie Sie. Hier, die Augen, die schwarze Brille, die kleine runde Nase.» Mit einem Schwung warf sie das Holz in den Korb. «Der geht mit.»

      Ihr Gesicht wurde ernst oder traurig. Sie nahm das Holzstück behutsam aus dem Korb und betrachtete es aufmerksam.

      «Sie sehen dem Holz doch nicht ähnlich», sagte sie lächelnd. Sie schien sicher, dass ich zurücklächeln würde, und ich lächelte zurück.

      «Nun ja, gehen wir weiter», schlug ich vor.

      Der Spaß schien ihr verdorben. Sie suchte keine Muscheln mehr, sondern zog aus ihrer Tasche eine Sonnenbrille und setzte sie auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt, konnte sie mich ungestört betrachten.

      Ich grübelte darüber nach, weshalb sie anders hieß als ihre Mutter. Vielleicht war sie verheiratet? Ich verfiel auf die nächstliegende Variante: Sie war ein Findelkind.

      «Haben Sie eigentlich Post von Ihrer Mutter?»

      Es war ein schlauer Schachzug, schien mir. .Sie hätte jetzt sagen können, ja, sie schreibt, dass es ihr gut geht. Ich bin nicht ihre richtige Tochter, müssen Sie wissen.

      «Nein», sagte sie.

      Wir hatten den Gespensterwald erreicht. Ein Wald auf Stelzen. Tief hatte das Meer die Baumwurzeln unterhöhlt. Wie vorweltliche Ungetüme standen die Baumriesen auf Spinnenbeinen. Diesen Wald gibt es heute nicht mehr. Neue Deichanlagen haben gerettet, was zu retten war.

      Camilla fand einen Fisch, der bei dem schwachen Seegang nicht ins Wasser zurück konnte, ein bunt gefärbtes handlanges Vieh, das nur aus einem gefräßigen Maul bestand.

      «Werfen Sie doch das scheußliche Biest weg. Es ist sicherlich giftig.»

      «Es ist ein Meerteufel aber nicht giftig.»

      «Doch, natürlich ist er giftig.»

      Übrigens war ich nicht sicher, ob der Fisch Giftstacheln hatte. Bösartig genug sah er aus. Jedenfalls sollte er nicht in den Korb.

      «Unsinn, Herr Doktor. Was verstehen Sie von der Natur?»

      Ihre Bemerkung traf mich an einem wunden Punkt.

      Sie lächelte herablassend. «Also, wenn Sie es wünschen.» Der Fisch flog im Bogen ins Meer. «Am Strand ist mit Ihnen gar nichts los.»

      «Dann nehmen Sie mich gefälligst nicht mit.»

      «Ich muss aber mit einem Menschen sprechen können», sagte sie heftig.

      Ich sah voraus, dass wir uns streiten würden.·Es war lächerlich. Dieses Geschöpf und ich im Streit? Ich bin anfällig für einfache Informationen, wie Mensch, Liebe, Stille, Wort. Sie lösen klare, deutliche Vorstellungen in mir aus. Immer die gleichen.·

      «Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir uns zanken», lenkte ich ein.

      «Ich schon. Weil Sie nicht aus sich herausgehen.»

      Verstimmt stapfte sie vor mir her durch den feuchten Sand. Tief drückten sich ihre Spuren ein. Zum Glück brachte sie es nicht fertig, länger als fünf Minuten zu schweigen.

      «Waren Sie schon einmal weit weg?»

      «Oft.»

      Interessiert blieb sie stehen und nahm die Brille herunter.

      «Und?»

      «Was und?»

      «Sie müssen doch irgendetwas, gesehen oder gedacht haben?»

      Ich hatte viel gesehen. Ich kannte die Region Kasachstan, ich kannte Bratsk, ich hatte riesige Wärmekraftwerke gesehen und transkontinentale Freileitungen an ungeheuren Stahlmasten. Ich berichtete von Staudämmen und Turbinen, wie es mir gerade einfiel.

      Camilla wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie musste sich setzen.

      «Sie sind zu komisch», gluckste sie. «Mehr als Staudämme und Kraftwerke haben Sie nicht gesehen?»

      «Für Sie ist die Natur etwas Fertiges», sagte ich, «ein paar Halme Wollgras, ein Baumstrunk, ein Fisch. Der Physiker will die Natur beherrschen.»

      «Trotzdem kann man sich darüber freuen», beharrte sie.

      Wir redeten im Grunde über ganz verschiedene, Dinge. Natur betrachten und Naturgesetze anwenden ist zweierlei. Ich setzte mich neben sie. Das Licht zerfloss, man konnte in die Sonne sehen, ohne dass einem die Augen schmerzten. Sie stand jetzt eine Handbreit über dem Horizont.

      Ich dachte: Warum kann man sich so schwer verständlich machen? Ich hatte auch mal eine Zeit, wo ich einen Fisch bewunderte. Ich fragte: Wie ist er organisiert? Ich trennte ein Stück Gewebe heraus, härtete es in Formalin, stellte mit dem Mikrotom Schnitte her, färbte sie ein und beobachtete unter dem Mikroskop die Zellstruktur. Was sich dort so starr anbot, das hatte gelebt, durch geheime Kräfte bewegt. Welche? Mit der Neugier fängt alles an.

      Dann geschah etwas Überraschendes. Camilla beugte sich zu mir herüber und küsste mich flüchtig auf die Wange.

      «Noch böse?»

      Es gab keinen Grund, böse zu sein, es hatte nie einen gegeben.

      Als wir zu Hause ankamen, dunkelte es. Im Briefkasten steckte ein Telegramm, Camilla nahm es heraus.

      «Für mich?», fragte ich.

      Schweigend presste sie den gelben Umschlag an sich. Plötzlich, ehe ich sie daran hindern konnte, knüllte sie den Umschlag zusammen. Ihre Faust hielt das Papier umklammert. Ich ging hin, nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen.

      «Geben Sie mir das Telegramm», sagte ich.

      Der Papierball glitt zu Boden. Ich hob ihn auf und öffnete ihn. Das Telegramm war von Rickweiler.

      «Wann reist du ab?», fragte Camilla.

      «Wahrscheinlich in ein paar Stunden.»

      «Schade.» Mehr sagte sie nicht.

      Wir aßen noch zusammen; tranken aber nicht mehr von dem schweren roten Wein. Zum Abschied wollte ich ausdrücken, dass ich es bedauerte, wegzumüssen, oder auch nicht bedauerte. Es war besser, allen Wirrnissen aus dem Weg zu gehen. Dann kam der Wagen. Mein Handkoffer war gepackt, die Aktentasche auch. Ich sah mich nicht um, als ich abfuhr.

      Die Stille im Hause beruhigte. Und ich hatte Stille nötig nach einem Tag mit Camilla, einer sechsstündigen Autofahrt, einer Besprechung bei Rickweiler und seinem dünnen Tee. Auf meinem Schreibtisch befanden sich die beiden Lichtkegel der Arbeitslampe, Schreibpapier, Millimeterpapier und Rechenschieber, der glatte weiße Stab, das Klavier des Mathematikers.

      Rickweiler hatte gesagt: Ich musste dich da oben wegholen. Ja, ich, weiß dein Blutdruck, aber ich brauche dich hier, wir müssen den Planvorschlag überarbeiten, er wurde zurückgewiesen.

      Rickweiler hatte noch mehr gesagt, während er mir die Vorwürfe aufzählte, die ihm gemacht worden waren: uneffektive Planung, zu langsames Entwicklungstempo, zu geringe Berücksichtigung des Binnen- und Außenmarktes und dergleichen. Ich wusste, dass diese Kritik an unserer Arbeit stimmte. Rickweiler mochte ich von der ersten Stunde unserer Zusammenarbeit an.

      Ich hatte die fantastische Vorstellung eines gedankenstrahlenden Rechners, der mit Lichtgeschwindigkeit Informationen verarbeitet. Ich dachte an integrierte, Schaltkreise, Hunderte Bauelemente auf einige Kubikmillimeter Silizium, und ich dachte an die bereits signalisierten bildlogischen Rechner. Der kühle weiße Stab zwang mich zur Konzentration auf meine Arbeit, aber die wunderbaren technischen Möglichkeiten zogen sich gerade bis an den Schreibtischrand zurück. Ich unterdrückte die kindliche Lust, eine Stunde lang nur für mich zu arbeiten. Rickweiler