Gerd Ruttka

Nachtdienste oder Steezer und die Welt bei Nacht


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er sodann den Mitarbeitern, "haben wir ein grosses und echtes Problem. Ihre Kollegin Rita Retsch ist namentlich nicht existent.

      Was heissen soll, dass es den Namen Rita Retsch so nicht gibt. Die sogenannte Schwester mit der sie zusammengelebt hatte ist auch verschwunden. Auch diese gibt es namentlich nicht. Alle Papiere, die wir gefunden haben sind echte Papiere mit falschen Daten. Die gesamte Vita der beiden Frauen ist erfunden, aber durch Computer-Manipulationen als richtig und real belegt. Wir stehen vor einem Rätsel.

      Deshalb benötigen wir ihre Hilfe. Bitte teilen sie uns alles mit, was Ihnen einmal sonderbar vorgekommen oder aufgefallen ist. Was hat Rita Retsch Ihnen erzählt, was bei Ihnen anders gemacht wurde, was hat sie getragen, was gar nicht ins Bild passte. Eben jede Besonderheit, alles Ungewöhnliche was Ihnen einfällt." Er schwieg.

      Die Mitarbeiterinnen uns Mitarbeiter des Wohnheimes starrten ihn an, verständnislos, verblüfft. Dann sahen sie einander an, mit fragenden Blicken, die doch nur wieder den Fragen in den Blicken des Kollegen begegneten.

      "Das gibt's doch nicht," stiess Carina Müller, die Hauswirtschafterin, hervor. "Du hast recht, sowas gibt's doch nur im Fernsehen." Kaum hatte Kirsten Meiheimer- mit zwei Eiern, wie sie immer ihren Namen beschrieb - dies ausgesprochen, als im Saal eine Woge von Stimmen einen undurchdringlichen Lärmpegel aufstaute, der nur langsam abebbte "....denkt denn an so etwas?" hörte man zuletzt die Teamchefin von Team 3.

      Steezer ergriff wieder das Wort. "Wir haben für jeden von Ihnen immer Zeit, sie brauchen uns nur anrufen und ein Beamter ist für sie da, oder er kommt zu Ihnen, oder sie können zu uns kommen. Mehr können wir momentan nicht sagen." Er legte eine Pause ein. "Zuletzt erneut die dringende Bitte. Wenden Sie sich an uns, wenn Ihnen etwas einfällt, das im Zusammenhang mit Rita Retsch steht und ungewöhnlich war- bitte, melden sie sich bei uns, wir haben immer ein offenes Ohr für sie. Wir sind in diesem Fall an allem interessiert, und sei es nur, dass sie eine Stricknadel anders gehalten hat, als sie das kennen." er machte eine Pause "Ich danke Ihnen für ihr Kommen."

      Steezer ging zum Geschäftsführer, sie sprachen ein paar Worte mit einander, dann schien er sich zu verabschieden, ging weg, eine ratlose Gruppe von Mitarbeitern hinterlassend, die zu verblüfft waren, um erneut zu diskutieren.

      "Also, liebe Leute, das muss ich erst einmal verdauen. Ich denke, wir machen für heute am Besten Schluss." beendete der Geschäftsführer die Versammlung. Die Mitarbeiter standen auf, aber nur um sich überall im Haus und Garten erneut in kleinen Grüppchen zusammenzutun, damit sie die Informationen erneut diskutieren konnten."Ausgerechnet Rita!" "Die war doch so freundlich zu jedem." "Also, wenn ich von jemandem angenommen hätte, dass der völlig offen ist, dann wäre das Rita gewesen." "Wer hätte das gedacht, dass Rita eine Lügnerin ist." "Sie wäre die letzte gewesen, von der ich so etwas angenommen hätte." "Wer weiss was sie sonst noch gelogen hat." "Wisst ihr noch damals, als die 200€ in der Kasse gefehlt haben- ob sie das auch war?"

      So wurde diskutiert, spekuliert, vermutet, aber jedes Wort war nur ein Ausdruck des hilflosen Unverständnisses gepaart mit, hier wenig dort mehr, Enttäuschung über die Tatsache, dass alle von Rita Retsch, die all die Jahre so systematisch und freundlich gewesen war, so extrem hinters Licht geführt worden waren.

      *

      An diesem Abend sass Hanna Schneider wie jeden Abend an ihrem Tagebuch. Wie jeden Abend schrieb sie die Ereignisse des Tages auf, egal ob an der Arbeitsstelle, zu Hause, beim Einkauf , oder wo sonst auch immer, am Abend legte sie es in Ihrem Tagebuch ab.

      "Ob ich der Polizei erzähle, dass ich jeden Abend in ein Tagebuch schreibe. Dass ich seit Jahren alle Dienste mit allen Besonderheiten und Vorkommnissen aufgeführt habe. Da kommen ja meine geheimsten Gedanken an den Tag."

      Drei Tage lang überlegte sie, dann rief sie Steezer an.

      "Tagebücher?" fragte er nur," Für jeden Tag Einträge? Seit Jahren?..... Wo wohnen Sie?.......... Gut, in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen."

      Eilig füllte sie die Kaffeemaschine auf, schaltete sie an. Sie richtete einen Teller mit Gebäck an, deckte den Esstisch für 2 Personen.

      Als Steezer klingelte hatte sie gerade etwas anderes angezogen, und ihre Haare hinten mit einem Gummi zusammengezogen.

      Sie bot ihm einen Kaffee an, den er dankend annahm. "Geben sie mir doch bitte 'mal ihr neuestes Tagebuch, damit ich vorher sehen kann, in welchem Masse die Eintragungen dem realen Ablauf entsprechen."

      Er las, griff während des Lesens automatisch in den Keksteller.

      "Gut, und verständlich geschrieben," urteilte er, "wenn sie arbeitslos werden, melden sie sich bei uns- wir brauchen jemanden der unsere Berichte so einfach und klar formuliert."

      Er besah sich den Stapel Tagebücher, die Hanna vor ihn hingelegt hatte. "Da werden die Kollegen sich aber freuen. Wieviel sind denn das?" fragte er. "Pro Jahr 3 Kladden, mit 200 Seiten. 12 Jahre lang. Plus 2 von diesem Jahr. Ich hoffe, sie bringen etwas. Wird mein Chef von dem Inhalt erfahren?" fragte Hanna besorgt.

      "Nein, nein " beruhigte Stelzer sie, "nur was fallrelevant ist wird von uns kopiert- ausserdem unterliegt sowieso alles der Schweigepflicht. " "Das ist gut, " Hanna war erleichtert.

      Wieder vergingen ein paar Tage, ohne dass man irgendetwas Neues gehört hätte.

      Der Dachstuhl war schon erneuert, die Bewohner hatten wieder ihre gewohnte Umgebung, die Tage in der Wohnanlage hatten wieder ihren gewohnten Ablauf. Einzig die Feuertreppen waren jetzt mit Kameras ausgestattet, die jeden zeigten, der die Treppen betrat und die Aussentüren waren generell mit Alarmanlagen versehen, die vom Nachtdienst abgeschaltet werden mussten, wenn der erste Kollege zum Frühdienst kam. In der ersten Zeit hatte es gelegentlich Fehlalarm gegeben, aber alles in allem hatte man sich schnell an die neuen Gegebenheiten gewöhnt. Nur selten dachte man noch an die Ereignisse. Kein Mensch sprach mehr über die sonderbaren Geschehnisse. Allenfalls sprach man über den Brand, aber auch diese Gespräche hielten sich in Grenzen. Es gab einfach andere, wesentlichere Probleme zu bewältigen.

      Eines Tages rief Steezer bei Hanna an. Er fragte sie, wann sie einmal frei hätte. Er würde dann vorbeikommen, mit einem Kollegen. Dieser war einer der Kollegen, der ihre Tagebücher gesichtet hatten.

      "Wir haben überall herumgefragt, in allen Dienststellen, wer mithelfen wolle die Tagebücher zu lesen. Der Junge hat vorher in unserem Team mitgearbeitet. Er ist so gut, dass er von uns aus ins LKA versetzt wurde. Er hätte gerne mit ihnen über den Inhalt eines der Tagebücher geplaudert, die er gelesen hat," formulierte Steezer die Bitte.

      Hanna war sofort bereit, ein Gespräch mit den beiden Männern zu führen. "Trifft sich gut, seit vorgestern ist mein Nachtdienstblock zu Ende, und ich suche eine dringende Ausrede um nicht mit dem Wände - Streichen oben im zweiten Stockwerkes anzufangen, jetzt wo ich ausgeschlafen habe."

      Sie verabredeten sich auf den Nachmittag des gleichen Tages

      Der Kollege erwies sich als smarter junger Mann, der eher wie ein Börsenmakler, denn wie ein Polizeibeamter gekleidet war. Die Aktentasche die er unter seinem Arm trug vervollständigte den Eindruck.

      "Muss ich jetzt Angst haben, weil sie zu zweien kommen? "fragte Hanna, als sie im Wohnzimmer sassen. "Nein wie bereits erklärt: Herr Keller ist nur dabei, weil er diesen Teil in ihrem Tagebuch entdeckt hat. Normalerweise arbeitet er nicht mehr bei uns, aber ihre vielen Tagebücher haben es notwendig gemacht, jeden der mitlesen wollte einzuspannen."

      Sie setzten sich an den Kaffeetisch, jeder nahm einen Schluck Kaffee. Dann holte der junge Beamte das Tagebuch aus seiner Aktentasche. Er schlug eine Seite auf, die mit einem Blatt Papier gekennzeichnet war, legte das Tagebuch vor Hanna hin, deutete auf eine Stelle und fragte: " Was haben Sie damit gemeint?" Hanna las: ".................sagte sie sei aus Sachsen, aber irgendwie hört sich die Aussprache gelegentlich für mich ganz anders an. Ach, was, ich bin ja keine Phonetikerin. Es geht mich nichts an, woher sie kommt........."

      "Was ich damit gemeint habe? Naja, in Sachsen und sächsisch kenne ich mich nicht aus.

      Aber als Kinder sind mein Bruder und ich häufig mit unserer Mutter, die schwäbische Dialekte untersuchte, im Schwabenland gewesen.