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Hans Durrer
Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn
Ansichten und Einsichten
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Inhaltsverzeichnis
Wenn Erwartungen töten könnten
Ankunft
Die Wirklichkeit ist nicht so oder so,
sondern so und so.
Harry Mulisch
Der Flug von Zürich nach São Paulo war das übliche Geschüttel über dem Äquator gewesen, weniger heftig als bei früheren Malen, doch seit vor Jahren eine Air France Maschine in den Atlantik gestürzt war, war Harry auf dieser Strecke regelmässig noch mulmiger zumute als ihm beim Fliegen eh schon war. Doch wie bei Ängsten generell, der Kopf hatte da selten eine Chance, das Einzige, was half, war aufzugeben, sich gegen die Angst zu wehren. Es gelang ihm eigentlich nur, wenn er so erschöpft war, dass sein Bewusstsein kapitulierte.
Die Schlange vor der Passkontrolle liess wenig Gutes für seinen Anschlussflug erhoffen, doch dann wurden mehrere bis dahin nicht besetzte Schalter geöffnet und plötzlich ging es zügig voran. Gepäck abholen und weiter zum Check-in für Inlandflüge, wo wenige Leute anstanden, doch alle mit riesigen Mengen von Gepäck. Offenbar waren mehrere Grossfamilien gerade dabei, mit ihrem gesamten Hausrat zu verreisen. Zahlreiche LATAM-Angestellte bemühten sich dieser Herausforderung logistisch beizukommen, wirkten jedoch wenig motiviert. Es zog sich hin, ging kaum voran.Vermutlich fehlten irgendwelche Dokumente, doch es interessierte ihn nicht wirklich, er wollte nur bald an die Reihe kommen. In Zürich hatte er für die Gepäckaufgabe gerade ein paar Minuten gebraucht. Aha, jetzt war er an der Reihe. Ob er Portugiesisch spreche? Er verzichtete auf eine ausbalancierte Antwort (sein Portugiesisch war eine Mischung aus Spanisch, Portugiesisch und Italienisch, meist im Infinitiv und ohne dass er wusste, welcher Sprache die Worte, die er benutzte, zuzuordnen waren) und sagte Ja. Der Angestellte kontrollierte die beiden Gepäckscheine und erklärte ihm dann, wie er zum Terminal 2 finde. Nunmehr guter Dinge machte sich Harry auf den Weg, er hatte ausreichend Zeit. Zwanzig Minuten später war er immer noch nicht an seinem Zielort angekommen und entschieden weniger guter Dinge. Ob er eigentlich auf dem richtigen Weg sei, erkundigte er sich bei einer Flughafenangestellten. Ja, da vorne müsse er durch die Handgepäck-Kontrolle. Schon wieder eine lange Schlange. Es dauerte.
Geduld war keine von Harrys hervorstechendsten Charakterzügen und dass man sie als Tugend bezeichnete, na ja, man behauptete viel. Dachte man allerdings an Donald Trump (und an den dachten viele oft, dafür sorgten die Medien), der so ziemlich gar keine Geduld hatte, wenn es nicht um ihn persönlich ging, leuchtete einem jedoch sofort ein, dass sie durchaus erstrebenswert sein konnte. Nicht für Trump, der war hoffnungslos, für einen selber.
In Porto Alegre erwartete ihn Luisa, die jüngere der beiden Töchter seiner Arbeitgeber. Sie kannten sich seit nunmehr zehn Jahren, als er zum ersten Mal in Santa Cruz gewesen und sie dabei war, ihr Psychologiestudium abzuschliessen. Mittlerweile war sie für die Organisation der Schule zuständig, wo er die nächsten Monate Englisch unterrichten würde. Kommunikativ begabt, kam sie mit den unterschiedlichsten Leuten klar. Nur Anweisungen zu geben, falle ihr schwer, antwortete sie auf seine Frage nach den Dingen, die sie bei ihrer Arbeit nicht so mochte. Studienfreunde von ihr würden heutzutage klinisch arbeiten, sagte sie. Sie fände das geradezu grotesk, sie könnte das nie und nimmer, sie wüsste doch noch gar nichts vom Leben. Undenkbar, Menschen zu raten, wie sie mit ihren Schwierigkeiten umgehen sollten. Harry schien es offensichtlich, dass die reflektierte, weitgereiste und neugierige Luisa bestens für eine beratende Tätigkeit geeignet wäre. Und so recht eigentlich praktizierte sie das Unterstützen, Raten und Auskunft geben ja ständig mit Freunden und Bekannten. Nur machte sie keinen Beruf daraus, verlangte sie kein Geld dafür.
Sie erzählte vom Fallschirmspringen, das sie dieses Jahr entdeckt hatte. Wie alle beim Hochfliegen vor sich hinstarrten, Angst vor dem Springen hätten. Man müsse strikt die Regeln einhalten, voll da sein, sich total konzentrieren und nicht ablenken lassen. Einmal sei ihre Aufmerksamkeit gewandert, sie kurz, nur ganz kurz, abgelenkt gewesen. Doch habe sie noch korrigieren können, in letzter Sekunde, es sei reines Glück gewesen.
Das strikte Einhalten von Regeln erfordert viel Disziplin, sagte Harry, in dessen Kopf bei Luisas Ausführungen Gedanken des Autors und Piloten Richard Bach aufgetaucht waren, gemäss deren ein Pilot sich nie auf sein Bauchgefühl verlassen sollte, sondern auf die Instrumente. Selbstdisziplin, das ist es, darauf kommt es an. Nicht nur beim Fallschirmspringen. Oder beim Fliegen. In allen Lebenslagen. In diesem Moment hatte Harry daran überhaupt keinen Zweifel, keinen einzigen.
Doch da Momente es so an sich haben, flüchtig zu sein und Harry überdies wenig Neigung zur Selbstdisziplin verspürte (seine dauernden Selbstermahnungen drückten seine Stimmung eher als dass sie sie hoben), wanderten seine Gedanken bereits weiter. Er liess sie machen, gab sich ihnen hin, landete im Internet bei Büchern, von denen die Rezensenten behaupteten, sie seien toll und wegweisend und müssten unbedingt gelesen werden. Da werde ich jetzt nicht drauf reinfallen, sagte sich Harry sogleich, der eigentlich fast immer darauf hereinfiel und plötzlich wieder (seine Gedanken waren beunruhigend selbständig, taten wie stets, was sie wollten – ähnlich wie Gott, der ihn auch nie fragte, bevor er Dinge geschehen liess, denen Harry sich entzogen hätte, wäre er vorgängig darüber in Kenntnis gesetzt worden) bei den Checklisten landete. Warum verwendeten eigentlich die meisten Ärzte, im Gegensatz zu den Piloten, keine Checklisten? Möglicherweise, weil die Patientensicherheit in vielen Spitälern keine Priorität genoss. Aber konnte das sein? Und falls ja, wie kam das? Es könnte unter anderem daran liegen, dass die Konsequenzen im Spital nur den Patienten direkt, den Operateur aber höchstens indirekt betrafen und das war im Flugzeug anders, da war der Pilot auf die genau gleiche Art und Weise betroffen wie der Passagier.